Als Vater Leras, Buchhalter bei Herrn Labuze & Co., sein Magazin verliess, stand er einen Augenblick wie geblendet vom Glanze der untergehenden Sonne. Den ganzen Tag über hatte er bei dem fahlen Schimmer der Gas-Lampe im äussersten Winkel eines Hinterhauses gearbeitet, dessen Fenster auf den schmalen schachtartigen Hof gingen. Das kleine Zimmer, in dem er nun seit vierzig Jahren seine Tage verbrachte, war so finster, dass er selbst im Hochsommer höchstens von 11 bis 3 Uhr die Gasbeleuchtung entbehren konnte.
Es war stets feucht und kühl darin, und die Ausdünstungen des Abzugskanals drangen oft durch das Fenster in den dunklen Raum und verbreiteten dort einen schimmeligen ekelhaften Geruch.
Seit vierzig Jahren, wie gesagt, betrat Herr Leras jeden Morgen um 8 Uhr diese Art von Gefängnis und blieb bis abends 7 Uhr dort mit dem Fleisse eines Muster-Beamten über seinen Büchern.
Er hatte mit fünfzehnhundert Francs angefangen und verdiente jetzt jährlich dreitausend: da dieser schmale Gehalt ihm nicht gestattete, eine Frau zu nehmen, so blieb er Junggeselle. Durch Genuss nicht verwöhnt, war er in seinen Ansprüchen sehr bescheiden geblieben. Indessen von Zeit zu Zeit, wenn ihn der Überdruss an seiner einförmigen gleichmässigen Arbeit überwältigte, verstieg er sich zu dem Wunsche: »Herrjeh! Wenn ich fünftausend Livres Rente hätte, da wollt’ ich mir’s wohl sein lassen.«
Da aber die fünftausend Livres ausblieben, so konnte er sich’s auch weiter nicht besonders wohl sein lassen.
Sein Leben verlief hübsch gleichmässig, ohne irgendwelche besondere Ereignisse, ohne Aufregungen und fast sogar ohne Hoffnungen. Da sein Ehrgeiz kein übergroßer war, so beschränkte sich auch die Fähigkeit zu hoffen, die doch ein jeder hat, bei ihm nur auf ein sehr geringes Mass.
Mit einundzwanzig Jahren war er bei Herrn Labuze & Co. eingetreten und stets in diesem Geschäft verblieben.
Im Jahre 1856 verlor er seinen Vater und bald darauf, 1859, die Mutter; seitdem hatte sich in seinem Leben nichts von Bedeutung mehr ereignet, ausser einem Umzug, weil sein bisheriger Hausherr neubauen wollte.
Alle Tage punkt 6 Uhr erwachte er durch das knarrende Geräusch eines Ketten-Aufzuges und sprang dann sofort aus dem Bette.
Zweimal indessen, im Jahre 1866 und 1874, hatte dieser Mechanismus versagt, ohne dass er jemals die Ursache erfahren hätte.
Im Übrigen pflegte er sich dann sofort anzuziehen, sein Bett zu ordnen, das Zimmer zu kehren, seinen Sessel und den Kommoden-Aufsatz abzustauben. Alle diese Verrichtungen nahmen anderthalb Stunden in Anspruch.
Hierauf ging er fort, kaufte sich in der Bäckerei Lahure, die, solange er sie kannte, elf Inhaber gehabt hatte, ohne ihren Namen zu wechseln, ein Brödchen, welches er im Weitergehen verzehrte.
Sein ganzes Leben spielte sich also lediglich in diesem engen Büro ab, dessen Wände mit ungemustertem Papier beklebt waren. Er war, wie gesagt, sehr jung als Gehilfe eines Herrn Brument ins Geschäft getreten und hatte nur den einen Wunsch gehabt, recht bald dessen Stelle zu erhalten.
Dieser Wunsch ging in Erfüllung und nun wünschte er sich weiter nichts mehr.
Alle die vielen Erinnerungen, welche das Leben anderer Menschen ausfüllen, die unerwarteten Ereignisse, die angenehmen oder tragischen Liebschaften, alle die Zufälligkeiten eines wechselvollen Daseins waren ihm fremd geblieben.
Die Tage, Wochen, Monate, Jahreszeiten und Jahre blieben sich stets gleich. Täglich zur selben Stunde stand er auf, ging fort, trat ins Büro, frühstückte, ging wieder fort, dinierte und legte sich schlafen, ohne dass irgendetwas Bedeutsames dies gleichförmige Leben derselben Handlungen, derselben Arbeiten, ja sogar derselben Gedanken unterbrochen hätte.
Früher hatte er seinen blonden Schnurrbart und sein lockiges Haar in dem kleinen runden Spiegel geschaut, den sein Vorgänger dagelassen hatte. Jetzt sah er jeden Abend vor dem Fortgehen seinen weißen Bart und seine kahle Stirn in demselben Spiegel. Vierzig Jahre waren dahingegangen, langsam und doch schnell, öde wie Tage der Trauer, und ähnlich den Stunden einer schlaflosen Nacht! Vierzig Jahre, von denen ihm kaum eine Erinnerung und nach dem Tode seiner Eltern sogar kaum der Gedanke an ein Unglück, in der Tat gar nichts, übrig geblieben war.
*
An diesem obenerwähnten Tage blieb Herr Levas, geblendet vom Lichte der untergehenden Sonne, einen Augenblick unter der Haustür stehen, und anstatt nach Hause zu gehen, beschloss er, vor dem Diner einen kleinen Spaziergang zu machen, was ihm höchstens vier oder fünf mal im Jahre passierte.
Er gelangte auf die Boulevards, wo eine zahllose Menschenmenge unter den grünenden Bäumen auf- und abflutete. Es war ein Frühlingsabend, einer jener ersten warmen und linden Abende, in denen das Herz unwillkürlich von einer grösseren Lebenslust beseelt wird.
Herr Levas ging mit dem tänzelnden Schritt alter Herren vergnügten Blickes und beglückt durch die allgemeine Lustigkeit und die linde Luft.
Er kam zu den Champs-Elysees und ging weiter, neubelebt durch den Jugendhauch der Frühlingsluft. Der ganze Himmel war wolkenrein und der Triumphbogen hob sich von dem lichten Hintergrund des Horizontes wie ein Riese von einer Feuersbrunst ab. Als er in die Nähe dieses mächtigen Denkmals gekommen war, verspürte der alte Buchhalter plötzlich Hunger, und er trat bei einem Marchand de Vins ein, um zu speisen.
Das Diner wurde ihm vor dem Lokale auf dem Trottoir serviert: Eine garnierte Schöpskeule, Salat und Spargel; Herr Leras glaubte lange nicht so gut gespeist zu haben. Er begoss seinen Fromage de Brie mit einer halben Flasche guten Bordeaux, dann trank er eine Tasse Kaffee, ein seltenes Ereignis, und krönte das Ganze mit einem Gläschen Fine Champagner.
Nachdem er bezahlt hatte, war er sehr lustig und aufgeräumt, etwas angeheitert sogar.
»Das ist ein schöner Abend«, sagte er sich. »Ich werde meinen Spaziergang bis ans Bois de Boulogne fortsetzen; es wird mir gut tun.«
Gesagt, getan.
Ein altes Lied, welches früher ’mal eine seiner Nachbarinnen gesungen hatte, schoss ihm plötzlich durch den Kopf:
»Wenn der Frühling aus den Knospen bricht,
Zu mir mein Herzallerliebster spricht:
Komm heraus, mein Schatz, in die frische Luft,
Wir kosen zusammen im Jasminduft.«
Er summte es immer wieder vor sich hin. Die Nacht sank über Paris herab, eine windstille laue Nacht. Herr Levas ging der Avenue du Bois de Boulogne nach und schaute sich die vorbeifahrenden Fiaker an, wie sie in langer Reihe, einer hinterm anderen, mit ihren Lichtaugen dahinfuhren und für einen Augenblick ein eng aneinander geschmiegtes Pärchen, die Dame in lichtem Kleid, der Herr in schwarzem Anzuge, zeigten.
Es war sozusagen eine lange Prozession von Liebespaaren, die da unter dem glänzenden Sternenhimmel einherzogen. Immer und immer kamen wieder neue. Sie fuhren eins hinter dem anderen her, auf dem Wagensitz hingegossen, stumm, mit verschlungenen Händen, kaum noch fähig, die Aufregung zu bemeistern, welche die Vorstellung der ihrer wartenden Freuden bei ihnen erweckte. Es schien, als ob zahllose Küsse durch die warme Nachtluft schwirrten, als ob ein Hauch von Zärtlichkeit sie erfülle und sie erstickender mache. Hinter all diesen liebesdürstigen und lächelnden Menschen, die alle von demselben Gedanken, alle von derselben Erwartung beseelt waren, zog eine Art Fieberhauch her. Alle diese Wagen, deren Inhalt die personifizierte Zärtlichkeit war, liessen eine Spur derselben wahrnehmbar auf ihrem Wege zurück.
Herr Leras, den der Spaziergang doch etwas ermüdet hatte, setzte sich auf eine Bank, um das Schauspiel dieser Liebes-Wagen mit Musse betrachten zu können. Fast ebenso schnell näherte sich ein weibliches Wesen und ließ sich neben ihm nieder.
»Guten Tag, Kleiner!« sagte sie.
Sie ließ sich durch sein Schweigen nicht stören und fuhr fort:
»Komm! Lass Dich lieb haben, Schatz, Du sollst sehen, ich bin sehr brav.«
»Sie sind an die falsche Adresse gekommen, Madame!« sagte er.
»Ach, sei doch kein Tor, hör’ nur …« sagte sie, einen Arm unter den seinigen schiebend.
Er war aufgestanden und ging entrüstet fort.
Hundert Schritte weiter näherte sich ein zweites Wesen:
»Willst Du Dich nicht einen Augenblick zu mir setzen, mein süsser Schatz?«
»Warum treiben Sie dieses Geschäft da?« fragte er.
Sie stellte sich breit vor ihm hin und sagte ärgerlich mit ganz veränderter rauer Stimme:
»Zu meinem Vergnügen wahrhaftig’ nicht.«
»Nun, was zwingt Sie denn?« fragte er mit sanfter Stimme weiter.
»Man muss doch leben; so eine Dummheit« grollte sie. Und trällernd ging sie weiter.
Ganz verstimmt blieb Herr Leras sitzen. Andere Mädchen kamen vorüber, sprachen ihn an und luden ihn ein.
Es war ihm, als ob irgendetwas Schwarzes, Schreckliches sein Auge verdunkle.
Er setzte sich auf eine andere Bank; die Wagen fuhren immer noch vorüber.
»Ich wäre besser nicht hierhergekommen«, dachte er bei sich; »da habe ich nun die Bescherung; es ist zu ärgerlich.«
Unwillkürlich musste er an all’ die käufliche oder leidenschaftliche Liebe, an all’ die freiwilligen oder bezahlten Küsse denken, die heute sein Auge gesehen hatte.
Er kannte die Liebe nicht. Er hatte in seinem Leben vielleicht zwei oder dreimal ganz zufällig, mehr dem ersten Impulse folgend, mit Weibern verkehrt, da seine Mittel ihm keine Seitensprünge erlaubten. Er dachte, wie das Leben, das er führte, so ganz verschieden war von dem aller anderen, so finster, so traurig, so öde und leer.
Es gibt Wesen, denen niemals das Glück beschieden ist. So auch Herrn Leras. Ganz plötzlich, als sei ein dichter Schleier vor ihm enthüllt, wurde er sich über seine elende Lage klar; er wusste, dass dieses einförmige Elend seines Daseins nie enden würde. Für ihn gab es in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur Elend; die letzten Tage glichen aufs Haar den ersten, vor ihm lag nichts und hinter ihm nichts, weder äusserlich noch in seinem Innern. Alles war eine gähnende öde Leere.
Die Wagen fuhren noch immer vorüber; noch immer sah er für einen Augenblick bei dem schnellen Vorüberhuschen der offenen Fiaker die schweigsamen zärtlichen Paare. Es war ihm, als ob die ganze Menschheit glück- und freudestrahlend hier an ihm vorüberzöge. Und er war allein, um das hier anzusehen, niemand war bei ihm; er war ganz allein. Und morgen, übermorgen, alle Tage würde er allein sein, wie nur ein Mensch allein sein kann.
Er stand auf, ging einige Schritte weiter und, plötzlich von einer Mattigkeit, wie nach einer langen Reise, überfallen, ließ er sich auf der nächsten Bank nieder.
Was hatte er noch zu erwarten? Worauf zu hoffen? Auf nichts!
Er dachte, wie hübsch es sein müsse, wenn man, älter werdend, bei der Rückkehr ins Haus eine muntere Kinderschar findet. Alt werden ist schön, wenn einen Wesen umgeben, die uns das Leben verdanken, die uns liebend umschmeicheln, die uns zärtliche und herzliche Worte sagen, die uns aufmuntern und trösten.
Und wenn er dann an sein eigenes ödes und trauriges Zimmer dachte, wo ausser ihm nie jemand hereinkam, dann beschlich ihn ein Gefühl des Ekels; es erschien ihm fast noch trauriger, als sein kleines Büro. Nie sah er jemand, nie fast sprach er mit jemand. Sein Zimmer war stumm wie ein Grab, ohne das Echo einer menschlichen Stimme. Man möchte denken, dass die Wände etwas von den Zimmerbewohnern annehmen, dass man an ersteren erkennen kann, wie sie sich benehmen, wie sie aussehen, was sie sprechen. Die von glücklichen Leuten bewohnten Häuser haben etwas viel Freundlicheres als die Wohnungen der Unglücklichen. Sein Zimmer war wie sein Leben, leer an Erinnerungen. Und der Gedanke, ganz allein in dieses Zimmer zurückkehren, sich ganz allein zu Bett legen, ganz allein seine täglichen Besorgungen machen zu müssen, machte ihn ganz verzweifelt. Und als wolle er den Anblick dieses finsteren Raumes und seinen Eintritt in denselben möglichst herausschieben, erhob er sich, bog in die erste Allee des Bois ein und schlüpfte plötzlich in ein Gebüsch, um sich dort ins Gras zu setzen.
Um sich, über sich, überall hörte er ein wirres, lautes, fortwährendes Geräusch, das aus unzähligen verschiedenen kleinen Geräuschen zu bestehen schien, bald näher, bald ferner klingend, eine unbestimmte riesenhafte Lebenszuckung: Es war das Atmen der Stadt Paris, die wie ein Riese schnaufte.
*
Die Sonne stand schon hoch am Himmel und sandte ihre Strahlen auf das Bois de Boulogne. Schon begannen die Wagen umherzufahren und die Reiter ihre Pferde zu tummeln.
Ein Pärchen bog zu Fuss in eine einsame Allee ein. Plötzlich bemerkte das weibliche Wesen, als es die Augen aufschlug, etwas Braunes im Gebüsch. Unruhig und erstaunt deutete es mit der Hand dahin und sagte:
»Sieh ’mal … was ist das?«
Dann sank es mit einem lauten Schrei ihrem Begleiter in die Arme, der sie vorsichtig auf die Erde setzte.
Die herbeigerufenen Wächter hatten bald einen alten Mann losgeschnitten, der sich an seinen Hosenträgern aufgehängt hatte.
Man stellte fest, dass der Tod schon in der Nacht vorher erfolgt sein müsse. Aus den vorgefundenen Papieren ergab sich, dass es der Buchhalter bei Labuze & Co., Namens Leras, war.
Man schob den Selbstmord auf eine unbekannte Ursache. Vielleicht war es ein plötzlicher Wahnsinns-Anfall?
»Zum Kuckuck!« rief plötzlich Vater Roland, der seit einer Viertelstunde regungslos, die Augen unverwandt auf den Meeresspiegel geheftet, dagesessen und nur von Zeit zu Zeit mit leisem Ruck die Angel ein wenig gehoben hatte.
Frau Roland, welche mit einer zu dieser Fisch- und Segelexkursion eingeladenen Dame, Frau Rosémilly, im Stern des Bootes saß und ein wenig eingenickt war, fuhr auf und wandte sich nach ihrem Manne um.
»Nun, nun, Hieronymus, was gibt es denn?«
In sehr gereiztem Ton erwiderte das Familienhaupt: »Nichts beißt mehr an. Seit zwölf Uhr kein einziger. Man sollte sich nicht darauf einlassen, Frauenzimmer zum Fischen mitzunehmen, da kommt man regelmäßig zu spät fort.«
Die beiden Söhne, Peter und Hans, die, der eine rechts, der andere links sitzend, gleichfalls Angelschnüre um die Finger gewickelt hielten, brachen in ein fröhliches Lachen aus, und Hans bemerkte: »Äußerst galant gegen unsern Gast, Papa!«
Vater Roland geriet in einige Verlegenheit.
»Bitte um Entschuldigung, Frau Rosémilly,« sagte er eifrig, »so bin ich nun einmal. Ich lade mir Damen ein, weil es mir eine Freude ist, sie um mich zu haben, sobald ich aber auf dem Wasser bin, existiert nichts mehr für mich, außer meinen Fischen.«
Frau Roland, die einstweilen ihre Schläfrigkeit vollends abgeschüttelt hatte und den Blick zufrieden und glücklich über die weite Meeresfläche und das felsige Gestade schweifen ließ, sagte beschwichtigend: »Ihr habt doch einen ganz schönen Fang gemacht.«
Der Gatte behauptete durch eine verneinende Kopfbewegung das Gegenteil, blinzelte aber nichtsdestoweniger ganz vergnüglich nach dem Korb hinüber, in welchem die Gefangenen, die den drei Angeln zum Opfer gefallen, zappelten und aus dem das leise Geräusch aufeinander klatschender Schuppen und Flossen, ängstlichen Schnappens in der totbringenden Atmosphäre und kraftloser, vergeblicher Fluchtversuche an sein Ohr drang.
Herr Roland nahm den tiefen Korb zwischen die Knie, neigte ihn zur Seite, dass sich’s silberschimmernd ergoss und auch die zu unterst liegenden, im Todeskampfe begriffenen sichtbar wurden, atmete den starken Geruch von Meerwasser und Fischen mit ebenso großem Genusse ein, als man ihn für gewöhnlich an Rosenduft zu finden pflegt, und erklärte: »Sapperlot! Frisch sind sie, das will ich meinen!«
»Wie viele hast du gefangen, Doktor?« fragte er nach einer kleinen Pause.
»Nicht der Rede wert, drei oder vier,« versetzte Peter, der ältere Sohn, ein Mann von etwa dreißig Jahren, der einen schwarzen Backenbart, Oberlippe und Kinn aber ausrasiert trug, wie das sonst bei Magistratspersonen der Brauch.
»Und du, Hans?« wandte sich der Vater an den Jüngeren.
Hans, der ein hochgewachsener, blonder junger Mann war, bedeutend jünger als der Bruder, erwiderte lächelnd: »Ungefähr ebenso viele, wie Peter, vier oder höchstens fünf.«
Diese fromme Lüge wurde tagtäglich von den Brüdern vorgebracht und tagtäglich entzückte sie Vater Rolands Herz.
Er hatte die Angelschnur um einen Ruderhaken gewickelt, die Arme übereinander gelegt, und einen befriedigten Herrscherblick auf das Meer im Allgemeinen und seine Bewohner im besondern werfend, verkündete er den Seinen, dass er nie mehr des Nachmittags auf den Fischfang auszugehen gedenke.
»Sobald es einmal zehn Uhr vorüber, ist nichts mehr zu machen. Das Lumpenvolk beißt einfach nicht an, es hält Siesta im Sonnenschein.«
Herr Roland war seines Zeichens ein Pariser Juwelier, den seine Leidenschaft für Seefahrt und Fischfang dem Geschäfte entrissen hatte, sobald er genügend erworben gehabt, um von den Zinsen ein höchst bescheidenes, aber behagliches Dasein führen zu können.
Er siedelte sich also in Havre an, kaufte ein Boot und wurde passionierter Seemann, die beiden Söhne, Peter und Hans, blieben in Paris, um ihre Studien fortzusetzen, und beteiligten sich nur bei ihren jeweiligen Ferienbesuchen an dem väterlichen Lieblingssport.
Nachdem er das Gymnasium durchlaufen, hatte Peter, der um fünf Jahre älter war als sein Bruder, für die verschiedensten Fachstudien Beruf in sich gefühlt, sich nacheinander an ein halbes Dutzend Wissenschaften gemacht, und jedes Studium nach kurzem übereifrigem Anlauf verdrießlich wieder beiseite geworfen. Erst zuletzt hatte ihn die Medizin gelockt, und er war nun mit so nachhaltigem Fleiß ans Werk gegangen, dass er nach ungewöhnlich kurzer Studienzeit auf besondre Erlaubnis von seiten des Ministeriums seine Examen gemacht und den Doktortitel erworben hatte. Er war eine erregbare Natur, sehr begabt, wankelmütig und starrköpfig, voll unausführbarer Ideen und philosophischer Grübeleien.
Hans war ebenso blond wie sein Bruder schwarz, ebenso ruhig wie jener heftig, ebenso verträglich wie jener zanksüchtig war. Ohne Kämpfe und Zweifel ging er seinen Weg und hatte sein Studium der Rechte gerade zu der Zeit beendigt, als der Bruder seinen »Doktor« davontrug.
Beide erholten sich nun von der anstrengenden Examenzeit im Elternhause, und beide hatten im Sinne, sich in Havre niederzulassen, vorausgesetzt, dass die Verhältnisse in der Stadt sich ihrem Plane günstig erweisen würden.
Eine unbewusste Eifersucht, wie sie jahrelang unsichtbar und unmerklich zwischen Geschwistern herrschen kann, mit ihnen groß wird und dann so häufig, wenn sie erwachsen sind, bei Gelegenheit einer Verheiratung oder irgend eines Glücksfalles, der eins von ihnen trifft, zum Ausbruch kommt, ließ auch diese beiden sich anscheinend brüderlich, in Wahrheit aber kampfbereit gegenüberstehen – sie hatten sich lieb, darüber war kein Zweifel, aber jeder beobachtete und beargwöhnte den anderen. Mit der Feindseligkeit eines verzogenen kleinen Schoßhundes, der plötzlich ein neues Lieblingstierchen im Hause auftauchen sieht, hatte der fünfjährige kleine Peter einst das blonde rosige Kindchen erscheinen und von Vater und Mutter mit Zärtlichkeit überhäufen sehen.
Von Kindheit an war dieser Hans ein wahrer Ausbund von Sanftmut, Lenksamkeit, Güte und Liebenswürdigkeit gewesen, und Peter war es sehr bald überdrüssig geworden, den dicken, blonden Jungen, dessen vielgepriesene Tugendhaftigkeit er im Stillen mit Weichlichkeit, Albernheit und Unselbstständigkeit übersetzte, von aller Welt in den Himmel erheben zu hören. Die Eltern, deren ruhiger Bürgersinn für die Söhne kein höheres Ideal als eine anständige, ehrenwerte, behagliche Lebensstellung kannte, machten ihrem Ältesten seine Unentschlossenheit, seine schwärmerischen Anläufe, seine fruchtlosen Versuche, seine Begeisterung für große Ideen und brotlose Künste natürlich zum Vorwurf.
Seit er erwachsen war, bekam er zwar nicht mehr zu hören: »Sieh, wie artig der Hans ist, nimm ihn dir zum Vorbild«, allein so oft man ihm fagte: »Hans tut dies und Hans tut das«, las er ungefähr den nämlichen Sinn in den anscheinend harmlos gesprochenen Worten.
Die Mutter, eine wackere, sparsame Hausfrau, die sich neben treuer Verwaltung ihrer Kassen noch die Zeit nahm, ein wenig sentimental zu sein, verstand es, allezeit und immer wieder die kleinen Schwierigkeiten und Verstimmungen, die aus den unbedeutendsten Anlässen des täglichen Lebens zwischen ihren Söhnen entstanden, friedlich beizulegen. Augenblicklich war sie in dieser Hinsicht nicht ohne Besorgnis und fürchtete, dass eine an und für sich harmlose Sache ernste Verwickelungen herbeiführen könnte. Sie hatte nämlich im letzten Winter, während die Brüder ihren Studien oblagen, die Bekanntschaft einer Nachbarin gemacht, einer Frau Rosémilly, Witwe eines Kapitäns, der zwei Jahre vorher auf hoher See gestorben war. Die noch sehr jugendliche, erst dreiundzwanzigjährige Witwe, eine jener praktischen, verständigen Naturen, die mit einem Instinkte, wie er in solcher Deutlichkeit sonst nur dem Tier der Wildnis eigen, das Leben in all seinen Beziehungen kennen und durchschauen, wie wenn sie alle die Verhältnisse, die sie nüchtern, wohlwollend, vernünftig, aber etwas engherzig zu beurteilen wissen, selbst mitangesehen, an sich erfahren und durchlebt hätten, kam gern des Abends mit einer Handarbeit auf ein Plauderstündchen zu den freundlichen Nachbarn herüber und hatte sich ganz daran gewöhnt, eine Tasse Tee mit ihnen einzunehmen.
Vater Roland, dem seine Marotte, sich auf den großen Seemann zu spielen, unaufhörlich plagte, zog bei der neuen Hausfreundin alle möglichen Erkundigungen über den verstorbenen Kapitän ein, und als vernünftige Frau, die das Leben lieb hat und den Tod achtet, erzählte sie ohne Ziererei oder gemachte Rührung von seinen Reisen und den Abenteuern, die er bestanden.
Als die beiden Söhne bei ihrem Nachhausekommen die hübsche Witwe so behaglich eingenistet fanden, fingen beide sofort an ihr den Hof zu machen, weniger, um ihre Gunst zu erringen, als um sich gegenseitig bei ihr auszustechen. Die praktische, wohlberechnende Mutter wünschte, da Frau Rosémilly sehr vermögend war, einem von ihnen den Sieg, und hätte dabei nur gar zu gern dem anderen den Schmerz einer Niederlage erspart.
Frau Rosémilly hatte blaue Augen, blondes Haar, das natürlich kraus, in von dem leisesten Luftzug bewegten Löckchen ein Gesicht umkränzte, dessen kecker, übermütiger, neckischer Ausdruck zu ihrer nüchternen, bedächtigen Denkweise in eigentümlichem Widerspruch stand.
Sie schien von Anfang an Hans zu bevorzugen, an dem eine entschiedene Übereinstimmung und Ähnlichkeit ihrer Naturen sie ansprechen mochte. Freilich äußerte sich diese Bevorzugung einzig und allein im Tone der Stimme und im Blick, sowie darin, dass sie ihn zuweilen um Rat fragte, offenbar im bestimmten Vorgefühl, dass seine Ansichten stets mit den ihrigen übereinstimmen und sie in ihrem vorgefassten Entschluss bestärken mussten, während Peters Auffassung unglücklicherweise stets eine abweichende war. Wenn von des Doktors geistigen Interessen, seinen Ideen über Politik, Kunst, Philosophie und Moral die Rede war, so konnte es mitunter vorkommen, dass Frau Rosémilly diese ganze Gedankenwelt mit der Bezeichnung »Hirngespinste« zusammenfasste, was ihr dann einen kalten, richterlichen Blick eintrug, der ihr und ihrem ganzen armseligen Geschlechte den Prozess machte.
Vor dem Besuche der Söhne hatte Herr Roland die liebenswürdige Witwe nie zu einer Fischereiexkursion eingeladen, wie er denn auch seine Frau niemals mitnahm, sondern am liebsten morgens vor Tagesanbruch in Gesellschaft des Kapitäns Beausire, eines einstigen Weltumseglers, den er bei seinen Wanderungen an Strand und Hafen kennen gelernt und zu seinem Busenfreunde erkoren hatte, und des alten Matrosen Papagris, dem die Hut des Bootes übertragen war, hinaussegelte.
Nun aber hatte Frau Rosémilly in der vorigen Woche bei Rolands gespeist und nach Tisch die Bemerkung hingeworfen: »Das Fischen ist wohl recht amüsant, nicht?« Der ehemalige Juwelier hatte sich durch dieses Interesse für seine Liebhaberei unendlich geschmeichelt gefühlt, und plötzlich vom Drange beseelt, neue Anhänger für seine alleinseligmachende Passion zu gewinnen, hatte er hastig gefragt: »Wollen Sie einmal mit hinausfahren?«
»Von Herzen gern.«
»Nächsten Dienstag?«
»Jawohl – also nächsten Dienstag.«
»Können Sie morgens um fünf Uhr reisefertig sein?«
Ein kleiner Schrei des Entsetzens folgte.
»Was fällt Ihnen ein! Das ist ja rein unmöglich!«
Enttäuscht und abgekühlt, zweifelte der große Seemann plötzlich an seines Zöglings nautischem Beruf, fragte aber doch: »Um wie viel Uhr wäre es Ihnen denn möglich?«
»Ja … so um neun Uhr etwa.«
»Früher nicht?«
»Nein, früher nicht, das ist ja schon unmenschlich früh.«
Der wackere Mann zögerte – natürlich war um diese Zeit keine Rede von einem lohnenden Fang, sobald die Sonne scheint, beißen die Fische nicht mehr an, allein die Söhne hatten sich des Gedankens bemächtigt, übernahmen es, die Partie zu arrangieren, und machten die Verabredung auf der Stelle niet- und nagelfest.
So hatte denn an diesem Dienstag die »Perle« unter den weißen Felsen des Kap de la Hève Anker ausgeworfen, und man hatte bis zur Mittagsstunde gefischt, Siesta gehalten, wieder gefischt, natürlich ohne Erfolg, und schließlich hatte Papa Roland, nachdem er etwas spät zur Erkenntnis gelangt war, dass der hübschen Frau Rosémilly die Bootfahrt als solche weit mehr am Herzen lag, als seine Fischerei, und nachdem er auch keinen noch so leisen Ruck an seiner Angel mehr wahrnehmen konnte, ein herzhaftes »Zum Kuckuck!« ausgestoßen, in welchem er eine herbe Anklage gegen die teilnahmslose Witwe und die appetitlosen Meerbewohner zusammenfasste.
Jetzt aber betrachtete er seine Fische mit der zitternden Freude, mit der ein Geizhals seine Schätze zählt, warf dann einen Blick nach der Sonne, die sich schon zum Untergange neigte, und bemerkte: »Wie wär’s, Kinder, wenn wir uns auf den Heimweg machten?«
Beide Söhne zogen die Angelschnüre aus dem Wasser, rollten sie auf, reinigten die Angelhaken, befestigten sie wieder an den Korkpfropfen und harrten dann weiterer Befehle. Herr Roland war aufgestanden und sah sich mit äußerst sachverständiger Miene nach allen Himmelsrichtungen um.
»Kein Wind mehr! An die Ruder, Jungens!«
Plötzlich deutete er nach Norden und setzte erregt hinzu: »Seht, seht, der Dampfer von Southampton!«
Über der Meeresfläche, die wie ein ausgebreitetes blaues, leuchtendes, gold- und feuerschimmerndes Gewebe dalag, erhob sich in der angegebenen Richtung ein schwärzliches Wölkchen, das sich von dem rosig gefärbten Abendhimmel abhob, und unter dem dunklen Fleck konnte man einen einzigen Punkt wahrnehmen, der das Fahrzeug bedeuten mochte. Gegen Süden ließen sich zahlreiche kleine Rauchsäulen unterscheiden, die sich alle auf den Molo von Havre zu bewegten, von dem nur ein weißer Strich und der kerzengerade, am äußersten Ende aufsteigende Leuchtturm sichtbar waren.