Der Kutscher in dichtem Schafspelz rauchte auf dem Bock sein Pfeifchen, und die Reisenden waren beschäftigt, ihre Vorräte für den Rest des Weges unterzubringen.
Man wartete nur noch auf Fett-Kloss. Endlich erschien sie.
Sie war etwas ängstlich und verlegen; schüchtern näherte sie sich ihren Reisegefährten, welche sich alle gleichzeitig umwandten, als hätten sie sie nicht bemerkt. Der Graf nahm würdevoll den Arm seiner Gattin und führte sie hinweg, wie um sie vor einer unreinen Berührung zu bewahren.
Überrascht blieb Fett-Kloss stehen. Dann näherte sie sich, all’ ihren Mut zusammennehmend, mit einem leise gemurmelten »Guten Morgen, Madame!« der Frau des Fabrikanten. Die andere nickte hochmütig ein wenig mit dem Kopfe und begleitete diesen Gruss mit einem Blick beleidigter Tugend. Alle Welt schien beschäftigt und hielt sich von ihr fern, als trüge sie in ihren Kleidern einen Ansteckungsstoff mit sich herum. Dann stürzte man sich auf den Wagen, wo sie allein als letzte ankam und stillschweigend ihren alten Platz wieder einnahm.
Man schien sie nicht zu kennen; aber Frau Loiseau, die sie mit Entrüstung von weitem betrachtete, sagte zu ihrem Gatten: »Glücklicherweise sitze ich nicht neben ihr.«
Der große Kasten setzte sich in Bewegung und die Reise begann aufs Neue.
Anfangs stockte das Gespräch. Fett-Kloss wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Sie fühlte sich ebenso entrüstet über das Benehmen ihrer Reisegefährten, wie erniedrigt durch den Gedanken sich hingegeben zu haben, beschmutzt zu sein durch die Küsse dieses Preussen, in dessen Arme man sie gewaltsam geführt hatte.
»Sie kennen, glaube ich, Madame d’Étrelles?« unterbrach die Gräfin zu Frau Carré-Lamadon gewendet plötzlich das allgemeine Schweigen.
»Jawohl; es ist eine Freundin von mir.«
»Welch’ ausgezeichnete Frau!«
»Bezaubernd. Wirklich eine seltene Erscheinung, sehr gebildet übrigens und Künstlerin bis auf die Fingerspitzen. Sie singt brillant und zeichnet wunderhübsch.«
Der Fabrikant plauderte mit dem Grafen und zwischen dem Klirren der Fensterscheiben hörte man zuweilen die Worte: »Kupon – Wechsel – auf Ziel – Prämie.«
Loiseau, der das alte, im Laufe von fünf Jahren schwarz gewordene Kartenspiel aus dem Hotel mitgenommen hatte, begann mit seiner Frau eine Partie Besigue.
Die beiden Schwestern beteten wieder ihren Rosenkranz, machten zusammen das Kreuzzeichen, und plötzlich begannen ihre Lippen sich rascher zu bewegen; sie beeilten sich ihr Gebet zu beenden. Von Zeit zu Zeit küssten sie eine Medaille, bekreuzigten sich aufs Neue, und begannen dann abermals ihr unausgesetztes schnelles Geflüster.
Cornudet träumte still vor sich hin.
Nach Verlauf von drei Stunden räumte Loiseau die Karten zusammen. »Ich werde hungrig«, sagte er.
Seine Frau holte ein zusammengeschnürtes Packet hervor, dem sie ein Stück Kalbsbraten entnahm. Sie schnitt feine Scheibchen davon herunter und alle beide begannen zu essen.
»Ich dächte, wir machten es auch so,« sagte die Gräfin. Man stimmte ihr bei, und sie packte die Lebensmittel für die beiden anderen Familien aus. Es kam eines jener langen Gefässe zum Vorschein, auf deren Porzellandeckel ein Hase abgebildet ist zum Zeichen, dass sich eine Hasen-Pastete darunter befindet, ein leckeres Gericht, wo weiße Fettstreifen die braunen, mit feingehacktem anderen Fleisch vermischten Stücke des Wildprets durchziehen. Dann kam noch ein hübsches Stück Schweizerkäse, in ein Journal eingewickelt, von dem die Überschrift »Vermischtes« an der feuchten Kruste haften geblieben war.
Die beiden Schwestern packten ein Stück Schlackwurst aus, das stark nach Knoblauch roch. Cornudet, der mit beiden Händen gleichzeitig in seine Rocktaschen langte, zog aus der einen vier harte Eier und aus der anderen ein Stück Brot hervor. Er löste die Schale, warf sie vor seinen Füssen ins Stroh und biss währenddem in ein Ei, wobei gelbe Krümchen in seinen großen Bart fielen und dort wie Sterne haften blieben.
Fett-Kloss hatte bei der Hast, mit der sie ihr Frühstück verzehrt hatte, an nichts denken können. Vor Zorn keuchend, betrachtete sie jetzt alle die Menschen, die so behaglich assen. Anfangs ergriff sie ein wütender Ärger und sie öffnete schon den Mund, um ihnen unter einem Strom von Schmähungen ihre Gemeinheit vorzuwerfen, aber der Zorn erstickte sie, sodass sie nicht sprechen konnte.
Niemand sah sie an, niemand kümmerte sich um sie. Sie sah sich mit Verachtung von diesen ehrbaren Toren behandelt, die sie erst geopfert hatten und sie nun wie etwas unsauberes unnütziges bei Seite warfen. Sie dachte an ihren großen Korb mit Leckerbissen, die sie alle haufenweise verschlungen hatten, an ihre beiden geleeglänzenden Hühner, an ihre Pasteten, ihre Birnen, ihre vier Flaschen Bordeaux. Endlich riss ihr der Geduldsfaden und sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen kamen. Sie machte furchtbare Anstrengungen, gebrauchte ihr Schnupftuch, schluckte wie Kinder die Tränen herunter; aber sie kamen immer wieder, füllten ihre Augen, und bald rollten zwei große Tropfen über ihre Wangen. Immer weitere folgten und rannen wie Wassertropfen, die durch das Gestein sickern, auf die hochgewölbte Brust herab. Sie blieb mit starrem Blick, bleichen Antlitzes gerade sitzen, in der Hoffnung, dass man sie nicht anschauen würde.
Aber die Gräfin hatte es bemerkt, und machte ihrem Manne ein Zeichen. Er zuckte die Achseln, als wenn er sagen wollte: »Was willst Du; ich kann nichts dafür. Madame Loiseau hatte ein stilles triumphierendes Lächeln.
»Sie weint über ihre Schande,« murmelte sie.
Die beiden Schwestern hatten ihr Gebet wieder aufgenommen, nachdem sie den Rest der Schlackwurst wieder eingewickelt hatten.
Cornudet, der seine Eier verdaute, streckte seine langen Beine bis unter die Bank auf der anderen Seite, legte sich zurück, kreuzte die Arme, lächelte wie jemand, dem plötzlich ein guter Witz einfällt und summte die »Marseillaise« vor sich hin.
Alle Gesichter verfinsterten sich. Dieses Volkslied gefiel seinen Nachbarn entschieden nicht. Sie wurden nervös, reizbar und sahen aus, als ob sie heulen wollten wie die Hunde bei den Tönen eines Leierkastens. Er bemerkte es; aber nun hörte er erst recht nicht auf. Zuweilen ließ er ganz laut die Worte erklingen:
Heilige Liebe des Vaterlandes
Führe, stütze unsern Rächerarm,
Freiheit, teure Freiheit,
Kämpf mit Deiner Streiter Schwarm!
Da der Schnee hart geworden war, fuhr man viel schneller. Bis Dieppe, während der langen trüben Fahrt, zwischen den Stössen des Wagens, beim Anbruch des Abends bis in der tiefsten Finsternis, setzte er sein einförmiges Rachelied in wildem Eigensinne fort. Er zwang sie förmlich, mit ihrem müden Geiste seinem Gesange von Anfang bis zu Ende zu folgen, sich jedes einzelne der bis zum Überdruss gehörten Worte einzuprägen.
Fett-Kloss weinte immer weiter. Zuweilen ertönte zwischen den einzelnen Strophen in der Finsternis ein lautes Aufschluchzen, das sie nicht hatte zurückhalten können.
*
Das belagerte, ausgehungerte Paris lag in den letzten Zügen. Die Sperlinge auf den Dächern waren selten geworden und die Kloaken entvölkert. Man ass, was nur immer zu haben war.
Herr Morrisot seines Zeichens Uhrmacher und seiner augenblicklichen Beschäftigung nach Staatsbummler wanderte an einem hellen Januar-Morgen, die Hände in den Hosentaschen seiner Uniform mit leerem Magen in trübseliger Stimmung auf dem äusseren Boulevard umher. Plötzlich blieb er vor einem Waffengenossen stehen, in dem er einen alten Freund wiedererkannte. Es war Herr Sauvage, den er einst am Ufer der Seine kennen gelernt hatte.
Vor dem Kriege wandelte Herr Morissot jeden Sonntag mit dem Frührot, eine Angelrute in der Hand und ein Gefäss aus Weißblech auf dem Rücken zum Hause hinaus. Er benutzte die Eisenbahn nach Argenteuil, stieg in Colombes aus und begab sich zu Fuss nach der Insel Marante. Kaum an diesem Zielpunkt seiner Träume angelangt, begann er zu fischen und fischte bis zum Abend.
Jeden Sonntag traf er dort einen wohlgenährten, kleinen, jovialen Mann, Herrn Sauvage, einen Krämer aus der Strasse Notre Dame de Lorette, der wie er ein leidenschaftlicher Angler war. Sie brachten zuweilen halbe Tage nebeneinander zu, die Angelrute in der Hand, die Füsse über dem Wasser baumelnd, und fühlten sich allmählich von herzlicher Freundschaft zueinander hingezogen.
Zuweilen sprachen sie kaum ein Wort miteinander; dann plauderten sie wieder stundenlang. Aber auch, wenn sie nicht miteinander sprachen, verstanden sie sich wunderbar; denn sie hatten denselben Geschmack und dieselben Empfindungen.
Im Frühling, morgens so gegen zehn Uhr, wenn die neubelebte Sonne ihre Strahlen auf den Fluss warf, dessen Fluten dieselben fortzutragen schienen, und zugleich im Rücken der beiden leidenschaftlichen Angler eine angenehme Wärme zu entwickeln pflegte, sagte Morissot hin und wieder zu seinem Nachbar: »Eine milde Luft, wie?« und Herr Sauvage entgegnete: »Ich kenne nichts angenehmeres.« Hiermit war ihr Gespräch beendet; sie verstanden sich und ehrten ihre gegenseitigen Gefühle.
Und im Spät-Herbst gegen Abend, wenn der von der untergehenden Sonne gerötete Himmel seine Purpurwolken im Wasser widerspiegelte, den ganzen Fluss zugleich mit dem Horizont in Flammen setzte, das fahle Laub der Bäume vergoldete, die schon in winterlichen Rauschen erschauerten, dann schaute Herr Sauvage lächelnd seinen Freund Morissot an und sagte: »Welch herrliches Schauspiel!« Und Morissot ohne das Auge von seinem Kork abzuwenden entgegnete: »Das ist freilich schöner, als auf dem Boulevard.«
*
Sobald sich die beiden Freunde wiedererkannt hatten, schüttelten sie sich heftig die Hände; beide waren tief bewegt, sich unter so ganz anderen Umständen wiederzufinden. »Ein trauriges Wiedersehen,« murmelte Herr Sauvage mit einem tiefen Seufzer. »Und welch ein Wetter!« entgegnete Herr Morissot gedrückt. Es ist heute der erste schöne Tag im neuen Jahre.«
Der Himmel war in der Tat ganz blau und strahlte im schönsten Sonnenlichte.
Traurig und träumerisch gingen sie nebeneinander.
»Und der Fischfang, wie?« nahm Morissot das Gespräch wieder auf. »Welch schöne Erinnerung!«
»Wann werden wir wieder damit beginnen?« fragte Herr Sauvage.
Sie traten zusammen in ein Café ein und tranken einen Absynth; dann nahmen sie ihren Spaziergang auf dem Trottoir wieder auf.
Morissot blieb plötzlich stehen. »Noch ein Gläschen, wie?« Herr Sauvage war einverstanden. »Wie Sie denken.« Und sie traten in ein anderes Wein-Lokal.
Sie waren sehr angeregt, als sie das Lokal verliessen, wie Leute, die noch nicht gefrühstückt haben, aber schon voll Alkohol sind. Die Luft war verhältnismässig mild und ein schmeichelndes Lüftchen umkoste ihre Stirn.
»Wie wär’s wenn wir hingingen?« sagte plötzlich Herr Sauvage, der in der freien Luft sich erst recht benebelt fühlte.
»Wohin?«
»Zum Angeln, meine ich.«
»Aber wo?«
»Auf unserer Insel natürlich. Die französischen Vorposten stehen nahe bei Colombes. Ich kenne den Oberst Dumoulin; man wird uns ohne Schwierigkeiten durchlassen.«
Morissot zitterte vor Begierde.
»Abgemacht,« sagte er »ich bin dabei.« Und sie trennten sich um ihr Angelzeug zu holen.
Eine Stunde später befanden sich beide bereits unterwegs. Sie erreichten alsbald die Villa, die der Colonel bewohnte. Er lächelte über ihre Passion und willigte in ihr Begehren. Mit einem Durchlass-Schein versehen gingen sie weiter.
Bald hatten sie die Vorposten hinter sich, durchschritten das verlassene Colombes und befanden sich schliesslich am Rande der kleinen Weinberge, welche sich am Hange der Seine zu, befinden. Es war ungefähr elf Uhr. Das Dorf Orgenteuil gegenüber schien wie ausgestorben. Die Höhen von Argemont und Sannois beherrschten die ganze Umgegend. Die große Ebene, die sich mit ihren kahlen Kirschbäumen und ihren grauen Feldern bis Nanterre erstreckt, war leer, ganz leer.
»Da oben sind die Preussen« sagte Herr Sauvage mit dem Finger auf die Hügel weisend. Diese menschenleere Gegend erfüllte die beiden Freunde mit einem unwillkürlichen Grauen.
»Die Preussen!« Sie hatten noch niemals welche gesehen. Aber sie spürten genug von ihnen seit Monaten, wie sie raubten, mordeten und plünderten, sie aushungerten und sich unsichtbar wie sie waren, dennoch als allmächtige Herren bewiesen. Und eine Art abergläubischer Furcht gesellte sich zu dem Hasse, den sie gegen dieses unbekannte siegreiche Volk empfanden.
»Wenn uns einige begegnen, was dann?« stammelte Morissot.
»So bieten wir ihnen ein Gericht Fische an.« antwortete Herr Sauvage mit jenem echten Pariser Humor, der selbst in den schwierigsten Lagen die Oberhand behält.
Aber es war Ihnen doch nicht so recht wohl zu Mute, sich ins freie Feld zu begeben; dieses weit und breit lastende Schweigen flösste ihnen Besorgnis ein.
»Gehen wir, vorwärts!« entschied endlich Herr Sauvage, »aber vorsichtig!« Und sie kletterten einen Weinberg hinab, mit vorgebeugtem Oberkörper, schleichend, jedes Gesträuch als Deckung benutzend, unruhig umherschauend und ängstlich auf jedes Geräusch lauschend.
Noch hatten sie einen Erdhaufen zu überklettern, um an das Ufer des Flusses zu gelangen. Sie begannen zu laufen und sobald sie am Ufer angekommen waren, versteckten sie sich in dem abgestandenen Röhricht.
Morissot legte das Gesicht an die Erde, um zu lauschen, ob man Marschtritte in der Umgegend vernehmen könnte. Nichts rührte sich indessen. Sie waren allein, ganz allein.
So beruhigt verlegten sie sich nun eifrig aufs Fischen.
Die Insel Marante ihnen gegenüber, welche ebenfalls wie abgestorben dalag, verbarg sie vor dem jenseitigen Ufer. Das kleine Restaurationsgebäude auf derselben war geschlossen, als wenn es seit Jahren nicht mehr benutzt gewesen wäre.
Herr Sauvage fing den ersten Gründling und gleich darauf Herr Morissot den zweiten. Alle Augenblicke zog einer von ihnen die Angelschnur heraus, an der ein silberglänzender Fisch zappelte. Sie machten in der Tat einen glänzenden Fang.
Vorsichtig legten sie ihre Beute in einen engmaschigen Netzbeutel zu ihren Füssen. Eine lebhafte Freude erfüllte sie; jene Freude, die man empfindet, wenn man sich einem langentbehrten Vergnügen zum ersten Male wieder hingibt.
Die Sonne schien warm auf ihre Schultern. Sie hörten nichts und dachten an nichts mehr. Die Welt ringsum war für sie vergessen. Sie widmeten sich ganz ihrem Fischfang.
Plötzlich erzitterte der Boden, wie von einem unterirdischen Geräusche. Es war der Donner von Geschützen.
Morissot wandte den Kopf und gewahrte jenseits des Ufers unten links die gewaltigen Umrisse des Mont-Valerien, vor dessen Front eine weiße Wolke schwebte: Der Pulverdampf, den er auspie.
Alsbald folgte vom Gipfel der Feste ein zweiter Rauchausbruch, und nach einigen Augenblicken hörte man abermals Geschützdonner.
Dann folgten weitere Schläge und in regelmässigen Zwischenräumen stiess der Berg seinen tötlichen Atem aus, und blies den milchweißen Dampf von sich, der langsam am klaren Himmel emporstieg und eine Wolke über seinem Gipfel bildete.
»Sie fangen wieder an,« sagte Herr Sauvage achselzuckend.
Morissot, der ängstlich das Auf- und Abtauchen des Federkiels an seinem Schwimmer beobachtete, wurde plötzlich von jenem heftigen Zorne ergriffen, den der friedliche Mensch gegen jene Unsinnigen empfindet, die so leidenschaftlich kämpfen. »Man muss wirklich besessen sein, um sich gegenseitig so umzubringen,« murmelte er.
»Es ist schlimmer wie bei den Tieren,« entgegnete Herr Sauvage.
»Und zu denken, dass das so weiter gehen wird, solange als es Regierungen gibt!« rief Herr Morissot aus, der gerade einen Weißfisch gefangen hatte. »Die Republik würde den Krieg nicht erklärt haben …« meinte Herr Sauvage.
»Bei den Königen,« unterbrach ihn Herr Morissot, »spielt der Krieg auswärts; bei der Republik hat man ihn im eigenen Lande.«
Und nun begannen sie eine gemütliche Unterhaltung über die schwierigsten politischen Streitfragen mit jenem gesundem Urteil, welches einfache ruhige Leute so oft zeigen, die sich darüber einig sind, dass man niemals wirklich frei ist. Der Mont-Valerien donnerte dazu ohne Unterlass, verwüstete französische Häuser, vernichtete Menschenleben, rottete zahllose Geschöpfe Gottes aus, zerstörte so manchen schönen Traum, so manche ersehnte Freude, und erweckte in den Herzen zahlloser Frauen, Mütter und Mädchen drüben in anderen Ländern endloses Herzeleid.
»Das ist das Leben,« sagte Herr Sauvage.
»Sagen Sie lieber: Der Tod,« entgegnete lachend Herr Morissot.
Aber plötzlich zuckten sie erschreckt zusammen, als sie hinter sich Fusstritte vernahmen. Sich umwendend, gewahrten sie dicht neben ihnen vier Männer, vier bewaffnete, große, bärtige Männer, in eine Art Livree wie Diener gekleidet und mit flachen Mützen bedeckt, welche, das Gewehr im Anschlag, sie beobachteten.
Die Angelruten entsanken ihren Händen und trieben den Fluss hinab.
In einem Augenblick waren sie ergriffen, gebunden, fortgeführt, in einen Kahn geworfen und nach der Insel überführt. Hinter dem Hause, welches sie für leerstehend gehalten hatten, bemerkten sie jetzt einige zwanzig deutsche Soldaten.
Eine Art zottiger Riese, der auf einem Stuhle reitend seine große Porzellanpfeife rauchte, fragte sie in gutem Französisch: »Nun meine Herren, sind Sie mit ihrem Fischfang zufrieden?«
Ein Soldat legte das mit Fischen gefüllte Netz, welches er sorglich mitgebracht hatte, zu Füssen des Offiziers.
»Ah!« machte der Preusse »es ist gut gegangen, wie ich sehe. Aber nun von etwas anderem. Hören Sie mich ruhig an.«
»In meinen Augen sind Sie zwei Spione, die zu meiner Beobachtung ausgesandt wurden. Ich habe Sie aufgegriffen und werde Sie erschiessen lassen. Sie haben sich fischend gestellt, um ihre eigentliche Absicht zu verheimlichen. Nun sind Sie in meiner Gewalt. Umso schlimmer für Sie. Das ist nun mal im Kriege nicht anders.«
»Aber, da Sie über die Vorposten hinausgekommen sind, haben Sie für die Rückkehr sicher ein Losungswort. Geben Sie mir dasselbe, und ich lasse Gnade vor Recht ergehen.«
Die beiden Freunde standen bleich nebeneinander; ein leichtes nervöses Zittern bewegte ihre Hände. Aber sie schwiegen.
»Niemand wird etwas davon erfahren«; nahm der Offizier wieder das Wort. »Sie werden unbehelligt nach Hause zurückkehren. Das Geheimnis wird mit Ihnen wieder verschwinden. Wenn Sie sich aber weigern, so ist das Ihr Tod, und zwar sofort. Also wählen Sie.«
Sie blieben regungslos ohne den Mund zu öffnen.
»Bedenken Sie,« sagte der Offizier ruhig, mit der Hand nach dem Flusse deutend, »dass Sie in fünf Minuten auf dem Grunde des Wassers liegen werden. In fünf Minuten. Denken Sie an Ihre Angehörigen.«
Der Mont-Valerien donnerte weiter.
Die beiden Angler standen schweigend da. Der Deutsche erteilte in seiner Sprache einige Befehle. Dann schob er seinen Stuhl weiter zurück, um nicht zu nahe bei den Gefangenen zu sein. Zwölf Mann stellten sich, Gewehr bei Fuss, zwanzig Schritt vor ihnen auf.
»lch gebe Ihnen eine Minute Zeit; keine Sekunde länger.« begann der Offizier wieder.
Dann erhob er sich plötzlich, näherte sich den beiden Franzosen, nahm Morissot beim Arm, führte ihn etwas fort, und sagte ihm leise:
»Schnell das Losungswort. Ihr Kamerad wird nichts davon erfahren. Ich werde tuen, als hätte ich mich anders besonnen.
Morissot antwortete nichts.
Der Preusse wandte sich nun an Herrn Sauvage und stellte ihm dieselbe Frage.
Herr Sauvage antwortete nichts.
Nun standen beide wieder nebeneinander.
Der Offizier kommandierte; die Soldaten legten an.
Da fiel der Blick Morissot’s zufällig auf das Netz mit Fischen, welches einige Schritte vor ihnen im Grase liegen geblieben war.
Ein Sonnenstrahl ließ den Fischhaufen erglänzen, in dem sich noch Leben rührte. Morissot fühlte eine Anwandlung von Schwäche. Seine Augen füllten sich trotz aller Anstrengung mit Tränen.
»Adieu Herr Sauvage.« murmelte er.
»Adieu Herr Morissot,« antwortete dieser.
Sie drückten sich die Hände, während ein unüberwindbares Zittern ihren ganzen Körper durchlief. »Feuer!« kommandierte der Offizier.
Wie auf einen Schuss knallten die zwölf Gewehre.
Herr Sauvage fiel wie ein Klumpen vornüber. Morissot, der etwas grösser war, zuckte heftig, drehte sich um sich selbst und fiel quer über seinen Kameraden, das Gesicht zum Himmel gewandt, während das Blut aus seiner auf der Brust durchlöcherten Blouse rieselte.
Der Deutsche erteilte neue Befehle.
Seine Leute verschwanden und kamen bald darauf mit einigen Stricken und Steinen zurück, welch letztere sie an die Füsse der beiden Toten banden. Dann schleppten sie dieselben an’s Ufer.
Der Mont-Valerien hörte nicht auf zu grollen; er war jetzt wie ein Vulkan anzusehen.
Zwei Soldaten ergriffen Morissot am Kopf und bei den Füssen; zwei andere machten es ebenso mit Herrn Sauvage. Einen Augenblick schwenkten sie die leblosen Körper hin und her, dann schleuderten sie dieselben weit fort; sie beschrieben einen großen Bogen und tauchten dann aufrecht im Flusse unter, indem das Gewicht der Steine ihre Füsse zuerst herabzog.
Das Wasser klatschte laut auf, schäumte, rauschte und beruhigte sich dann wieder, während kleine Kreise, immer grösser werdend, sich bis zum Ufer hinzogen.
Ein leichter Blutstreifen färbte für einen Augenblick die klare Flut,
»Ein gutes Fressen für die Fische.« sagte halblaut der Offizier, den seine heitre Laune keinen Augenblick verlassen hatte.
Dann kehrte er ins Haus zurück.
Plötzlich bemerkte er die Fische in dem Netze wieder. Er hob sie auf, betrachtete sie lange und rief dann lachend: »Wilhelm!«
Ein Soldat mit einer weißen Schürze lief herbei. Der Preusse warf ihm das Netz mit den Fischen der beiden Erschossenen zu. »Du kannst mir gleich diese kleinen Tierchen da braten; sie sind noch ganz frisch. Sie werden köstlich schmecken.«
Dann rauchte er seine Pfeife weiter.
*