Es waren die alten Briefe ihrer Großeltern, die sie nicht gekannt hatte. Sie wollte ihnen über dem Körper der Tochter die Hand reichen, sich mit ihnen in dieser düstren Nacht vereinen, als hätten sie Teil an diesem Leid; sie wollte eine Art geheimnisvolle Zärtlichkeitskette bilden zwischen den Toten von damals, der stillen Leiche dort und ihr selbst, die noch auf Erden verblieben war.
Sie öffnete die Schreibtischplatte und entnahm der unteren Schieblade ein Dutzend der kleinen gelblichen Papierbündel, welche in musterhafter Ordnung nebeneinander lagen.
Mit einer Art wohlbedachter Sentimentalität breitete sie dieselben auf dem Bett zwischen den Armen der Toten aus und schickte sich an zu lesen.
Es waren jene ehrwürdigen Briefschaften, wie man sie in alten Familienschreibtischen findet; jene Briefschaften, die die Luft eines andren Jahrhunderts atmen.
»Meine Teure!« begann der erste Brief; auf einem zweiten stand »Mein liebes Töchterchen!« dann kam: »Mein Herzchen!« – »Mein angebetetes Töchterchen!« – Liebes Kind!« – »Liebe Adelaïde« – »Liebe Tochter«, je nachdem sie sich an das Kind, an die Tochter und später an die junge Frau richteten.
Und das alles atmete so viel leidenschaftliche Zärtlichkeit, so viel Liebe zum Kinde; es erzählte so viel große und kleine Geheimnisse, und dazwischen wieder allerhand Dinge, die dem Fernerstehenden gleichgültig waren: »Papa hat die Grippe; die Zofe Hortense hat sich den Finger verbrannt; die Katze ›Croquerat‹ ist tot; die Tanne rechts vom Tore ist gefällt worden; Mutter hat ihr Gebetbuch auf dem Rückweg von der Kirche verloren, sie glaubt dass es gestohlen ist.«
Auch von Leuten war darin die Rede, die Johanna zwar persönlich nicht gekannt hatte, deren Namen sie sich aber noch dunkel aus ihrer ersten Jugendzeit erinnerte.
Mit wahrer Zärtlichkeit vertiefte sie sich in diese Einzelheiten, welche ihr wie eine Art Totenerweckung vorkamen. Es war ihr, als trete sie plötzlich in die Vergangenheit ein, als sehe sie alle Geheimnisse, das eigentliche Herzensleben ihrer Mutter vor sich. Sie betrachtete wieder den Leichnam, und plötzlich begann sie ganz laut zu lesen; sie las für die Tote, als wolle sie ihr Zerstreuung und Tracht bringen.
Es kam ihr vor, als ob der Gesichtsausdruck der Verstorbenen ein glücklicher wäre.
Einen nach dem andren legte sie die Briefe zu Füssen des Bettes; sie meinte, man müsse sie statt der Blumen ihr in den Sarg mitgeben.
Sie öffnete ein neues Packet. Es war eine andere Schrift. »Ich kann Deine Zärtlichkeit nicht entbehren. Ich liebe Dich zum Rasendwerden« las sie halblaut.
Weiter nichts; keine Unterschrift.
Verständnislos drehte sie das Papier um. »Madame la baronne Le Perthuis des Vauds« lautete deutlich die Adresse.
Dann öffnete sie das folgende Billet: »Komm’ heute Abend, sobald er fort ist. Wir werden eine Stunde für uns haben. Ich bete Dich an.«
»Ich habe eine Nacht in rasendem Verlangen nach Dir durchträumt. Ich hielt Dich in meinen Armen, Deinen Mund unter meinen Lippen, Deine Augen unter meinen Augen. Und dann hätte ich mich vor Wut aus dem Fenster stürzen können, wenn ich daran dachte, dass Du zu dieser Zeit neben ihm ruhtest, ihm ganz zu eigen wärst …«
Johanna hielt verständnislos inne. Was war das? An wen, für wen, von wem waren diese Liebesbeteuerungen?
Wieder fortfahrend fand sie stets wieder diese wahnwitzigen Liebesschwüre, diese Stelldicheins mit Mahnungen zur Vorsicht, und stets zum Schluss die fünf Worte: »Verbrenne vor allem diese Zeilen!«
Endlich öffnete sie ein nichtssagendes Billet, eine einfache Zusage zu einem Diner, aber mit derselben Handschrift und »Paul d’Ennemare« unterzeichnet. Es war derselbe, den der Baron immer »mein guter alter Paul« nannte, wenn er von ihm sprach, und dessen Gattin die intimste Freundin der Baronin gewesen war.
Johanna’s Zweifel wurden jetzt plötzlich zur vollen Gewissheit. Ihre Mutter hatte einen Liebhaber gehabt?
Und mit einem heftigen Ruck schleuderte sie diese schändlichen Papiere von sich wie ein giftiges Reptil, das sich an ihr emporgewunden hatte. Sie lief an’s Fenster und weinte bitterlich, wobei ein heftiges Schluchzen ihr die Kehle zuschnürte. Dann brach sie ganz vernichtet am Fuss der Fensterbrüstung nieder und verbarg ihr Gesicht in den Vorhängen, damit man ihre Seufzer nicht hörte. So weinte sie in tiefster Verzweiflung bitterlich vor sich hin.
Sie würde vielleicht die ganze Nacht so zugebracht haben, wenn nicht das Geräusch von Schritten im Zimmer nebenan sie mit einem Satze aufspringen lassen. War das etwa ihr Vater? Und alle diese Briefe lagen auf dem Bett und auf dem Fussboden zerstreut! Er brauchte nur einen derselben zu öffnen, um alles zu wissen! Er!
Sie stürzte vorwärts und raffte hastig alle diese gelben Papiere zusammen, die Briefe der Großeltern wie des Liebhabers, die, welche sie schon gelesen hatte und jene, die noch unberührt in der Schieblade lagen, um sie in den Kamin zu werfen. Dann nahm sie eine der brennenden Kerzen vom Tisch und entzündete den Papierstoss. Eine helle Flamme züngelte empor, und beleuchtete das Zimmer, das Bett und den Leichnam mit lebhaften auf- und abtanzendem Lichte, das mit schwarzen Umrissen auf dem weißen Vorhange hinter dem Bette das zitternde Profil des starren Antlitzes und die Linien des mächtigen Körpers unter den Betttüchern abzeichnete.
Als nur noch ein Häuflein Asche auf dem Boden des Kamins lag, kehrte sie zurück und setzte sich an’s offene Fenster, als wenn sie nicht mehr wagte in der Nähe der Toten zu sein. Das Gesicht in den Händen begann sie aufs Neue zu weinen.
»O, meine arme Mama, meine arme Mama!« seufzte sie unaufhörlich mit verzweiflungsvollem Klagelaut.
In dieser unglücklichen Stunde wurde ein gutes Teil der Kindesliebe in ihrem Herzen ausgelöscht. Die Kenntnis von dem Geheimnis ihrer Mutter wirkte wie ein kalter Wasserstrahl auf ihr Gemüt.
Als Julius später nochmals erschien, und sie aufforderte, doch etwas zu schlafen, sträubte sie sich nicht. Mit einem letzten Kuss auf die bleiche kalte Stirn der Toten verliess sie das Zimmer.
Der Baron kam am Abend des nächsten Tages; seine Tränen flossen unaufhaltsam.
Die Teilnahme am Begräbnisse war eine aussergewöhnliche und mit hoher Befriedigung sah Julius, dass von dem ganzen Adel der Umgegend kein einziger fehlte. Die Marquise de Coutelier hatte sogar Johanna wiederholt umarmt und geküsst.
Tante Lison, die gleichfalls gekommen war, blieb mit Gilbert während der Feierlichkeit bei Johanna. »Mein armes, teures Herz« sagte die Gräfin immer wieder unter Küssen und Tränen zu der völlig gebrochenen Tochter.
Als der Graf vom Begräbnisse zurückkehrte, weinte er, als habe er seine eigene Mutter zur Ruhe gebettet.
*
Traurige Tage waren es, die diesem Ereignisse folgten; doppelt traurig für Johanna, die unter den Erinnerungen der letzten Nacht bei der toten Mutter entsetzlich litt. Dazu erkrankte Paul; und wenn er auch wieder genas, so verfolgte sie doch stets der Gedanke, dass er ihr einmal durch den Tod entrissen werden könnte. In ihrem Herzen erwachte die Sehnsucht nach einem zweiten Kinde; aber sie lebte von Julius getrennt, seitdem sie Kenntnis von seiner abermaligen Untreue hatte. Und doch wuchs ihre Sehnsucht von Tag zu Tag.
Ihr Vater war wieder abgereist; die Mutter tot. Wem sollte sie sich anvertrauen? Endlich beschloss sie sich dem Abbé Picot in der Beichte ihren Wunsch zu bekennen. Der wackere Mann hörte sie mit einem gewissen Erstaunen an, das nur zu begreiflich war. wenn er an die Gewohnheiten und die rücksichtslose Sinnlichkeit seiner ländlichen Beichtkinder dachte. Aber er war doch zartfühlend geblieben, inmitten dieser Naturkinder und sagte ihr tröstend zum Abschied: »Verlassen Sie sich auf mich; ich werde mit Julius reden.« Und wenige Tage darauf lebten sie wieder vereint, wie in der ersten Zeit.
Aber Julius übte seine Pflichten nur halb aus; seine Sorge, dass Johanna abermals Mutter würde, konnte er schliesslich vor dieser selbst nicht verhehlen. Vergeblich verdoppelte sie ihre Zärtlichkeit um ihn zu verleiten, seine Selbstbeherrschung aufzugeben. Er blieb indessen stets zurückhaltend und wusste jeden Erfolg ihres ehelichen Zusammenlebens zu vermeiden.
Da beschloss sie, unfähig ihr heftiges Verlangen nach einem Kinde länger zu bemeistern, abermals Abbé Picot aufzusuchen. Er wusste Rat. »Es gibt nur ein Mittel, liebes Kind«; sagte er nach einigem Besinnen. »Sie bringen ihm die Überzeugung bei, dass Sie sich abermals Mutter fühlen. Dann wird er seine Vorsicht vergessen.« Johanna errötete; aber er wusste ihre Zweifel zu zerstreuen. »Die Kirche kann die Zurückhaltung des Gatten nicht billigen; Sie haben ein Recht, ihn zu seiner Pflicht zurückzuführen.«
Julius ließ sich wirklich täuschen. Einmal überzeugt, verlor er die lange bewährte Selbstbeherrschung und Johanna sah sich nach Verlauf eines Monats am Ziel ihrer Wünsche. Von da an schloss sie abends ihre Türe und gelobte aus Dankbarkeit dem Himmel eine ewige Keuschheit.
Gegen Ende des Monats kam der gute Abbé Picot und stellte seinen Nachfolger, den Abbé Tolbiac, vor. Es war dies ein noch junger, kleiner, sehr magerer Priester, dessen tiefliegende schwarzgeränderte Augen ein leidenschaftliches Gemüt verkündeten. Abbé Picot war Dechant in Goderville geworden.
Der Abschied mochte ihm so schwer werden wie Johanna. Als die Rede auf die eigenartige Moralität seiner Pfarrkinder kam, bemerkte der Pfarrer brüsk: »Das wird unter mir anders werden.« Und hierbei blieb er trotz aller vernünftigen Vorstellungen des alten erfahrenen Mannes. Unter Tränen empfing Johanna dessen Abschiedskuss.
Bald begann der Abbé Tolbiac mit seinen Reformen. Johanna beugte sich seinem festen Charakter, seinem brennenden Eifer und wurde eine regelmässige Besucherin der Kirche und ihrer Feste.
Aber die ganze Gemeinde hasste den neuen Pfarrer, der mit rücksichtsloser Strenge auf der Kanzel wie im Beichtstuhl das lockere Leben der Pfarrkinder verdammte, der sogar schliesslich die Schuldigen öffentlich in der Predigt beim Namen nannte. Bald blieben sämtliche Burschen aus der Gemeinde der Kirche fern. Im Schlosse dagegen war Abbé Tolbiac ein gern gesehener Gast. Sogar Julius behandelte ihn mit großer Achtung und ließ keinen Festtag vorübergehen ohne zu beichten und zu kommunizieren.
Er war jetzt fast täglich bei den Fourvilles, um entweder mit dem Grafen zu jagen oder mit der Gräfin auszureiten. »Sie sind närrisch die beiden, mit ihrer Reiterei«; sagte der Graf, »aber es bekommt meiner Frau so gut.«
Gegen Mitte November kehrte der Baron zurück, sehr gealtert unter der Trauer um die verlorene Gattin. Obgleich Johanna ihm nichts von ihrem engen Verkehr mit dem neuen Pfarrer sagte, so fasste er doch schon gleich nach der ersten Bekanntschaft eine instinktive Abneigung gegen denselben, die bald in offenen Hass überging. Seinem philosophisch angelegten Gemüte, seiner natürlichen Nachsicht und Milde widerstrebte der Zelotismus die starre Strenge, die aus dem ganzen Wesen des Abbé Tolbiac sprach.
Auch der Priester fühlte recht gut, wie wenig ihm der Baron geneigt war. Aber er wollte seinen Einfluss im Schlosse nicht verlieren und beherrschte sich in dem Gefühle, dass er endlich doch Sieger bleiben werde.
Ein anderer Gedanke beherrschte ihn jetzt ganz: Ein Zufall hatte ihn das Geheimnis zwischen Julius und Gilberte entdecken lassen. Diesem ein Ende zu machen, war sein fester Entschluss. Er zog Johanna ins Vertrauen und verband sich mit ihr, um »zwei Seelen vom Tode zu retten.«
»Es ist eine peinliche Pflicht für mich«; sagte er, als Johanna schwankte, »aber ich muss sie erfüllen. Was gedenken Sie Ihrerseits zu tuen?«
»Was soll ich machen, Herr Abbé?« stammelte sie. »Sie müssen diese schändliche Neigung durchkreuzen.« Vergeblich suchte Johanna ihm vorzustellen, wie sie ihrem Manne gegenüber machtlos sei. Er wurde immer erregter und verwies sie auf ihre Pflicht als Christin, als Gattin, als Mutter. »Verlassen Sie dieses entweihte Haus, wenn es nicht anders geht,« rief er schliesslich aus. »Oder besitzen Sie nicht den Mut dazu? Wohlan so haben Sie Anteil an der Schuld und sind unwürdig der Gnade Gottes.«
»Ach verlassen Sie mich nicht, ich beschwöre Sie«; rief Johanna in die Knie sinkend, »raten Sie mir.«
»So öffnen Sie Graf Fourville die Augen. An ihm ist es dann, der Sache ein Ende zu machen,« sprach er mit hartem Tone.
»Aber es würde sie beide töten! Und ich soll eine Denunziantin sein? Niemals.«
»Wohlan so ist meine Mission hier zu Ende. Ich muss Sie Ihrer Schande und Ihrer Sünde überlassen.«
Vergebens bat und flehte Johanna. Er verliess zornbebend das Haus. An dem Pachthof der Couillards vorbeikommend, gewahrte er eine Anzahl Kinder, die vergnügt zuschauten wie Mirza, des Pächters Hündin eine Anzahl Junge warf. Empört jagte er die Kinder mit seinem großen Regenschirm auseinander, den er erbarmungslos auf ihre Schultern niedersausen ließ. Plötzlich fühlte er sich von rückwärts ergriffen und unsanft zum Tore hinausgesetzt. Es war der Baron, der hinzugekommen war und dessen Hass hier endlich Gelegenheit zur Betätigung fand.
Als der Pfarrer am nächsten Sonntage von der Kanzel aus mit einer deutlichen Anspielung auf Schloss Peuples von der mangelnden Achtung vor dem geistlichen Stande und mit einer noch deutlicheren Anspielung von ehebrecherischen Verhältnissen sprach, wurde es selbst Julius zu viel. Er schrieb in geziemender Weise dem Bischof und Abbé Tolbiac wurde zur Ruhe verwiesen.
Aber es war die Ruhe vor dem Sturme. Hin und wieder, wenn Gilberte und Julius ausritten, sahen sie durch ein Gebüsch die schwarze Sutane des Pfarrers schimmern. Und eines Tages als sie nach Vrilette zurückkehrten, begegnete ihnen der Abbé Tolbiac auf der Zugbrücke.
Eine seltsame Unruhe überkam sie; aber bald hatten sie das Ereignis wieder vergessen.
Da eines Nachmittages, als Johanna lesend am Fenster sass, bemerkte sie Graf Fourville, der zu Fuss herankam. Sein Gang war so eilig, dass sie ein Unglück befürchtete. Sie eilte hinunter, um ihn zu empfangen. Sein Aussehen war das eines Wahnsinnigen. »Ist meine Frau hier?« stiess er rau hervor. »Nein«, antwortete Johanna den Kopf verlierend, »ich habe sie heute noch nicht gesehen.« Die Wirkung dieser Worte war erschütternd. Der Riese schien zusammenzuknicken; er nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine Augen rollten. Er hatte den Mund geöffnet, wie um zu sprechen; aber kein Ton drang hervor. Endlich wandte er sich um und rannte mit einem Wutschrei dem Meere zu.
Einen Augenblick lief Johanna ihm nach, ihn bittend und beschwörend; er hörte sie nicht. Endlich gab sie ihre Bemühungen auf, als sie ihn mit Riesenschritten der Küste zueilen sah. Von qualvoller Angst gepeinigt, kehrte sie ins Haus zurück.
Der Wind war inzwischen immer heftiger geworden. Stoss um Stoss wehte er vom Meere herüber, schüttelte das junge Grün der Bäume und ließ das Gras in seltsamen Gewimmel auf- und abwogen. Weiße Möven sausten wie Schaumflocken durch die Luft. Ein Hagelschauer folgte und große Körner peitschten das Gesicht des Grafen, der unbekümmert um alles dem Tale von Vaucotte zueilte. Zwei Pferde, die an einem Schäferkarren angebunden waren, zeigte ihm alles.
Er duckte sich nieder und wie der Jäger beim Anblick des Wildes, pürschte er sich auf dem Bauche an den Karren heran. Mit seinem riesigen Körper glich er einem Untier, das auf Tod und Verderben sinnt. Jetzt war er unter dem Karren angelangt. Die Pferde wurden unruhig. Ein Schnitt mit seinem scharfen Waidmesser trennte das Riemenzeug. Als ein neuer Windstoss das Dach des Karrens erzittern ließ, rannten die erschreckten Tiere wie gehetztes Wild davon. Leise legte der Riese sein Ohr an die Tür; dann lugte er durch eine schmale Ritze ins Innere. Hierauf sprang er mit einem mächtigen Satze auf, schob den Riegel an der Aussenseite vor und rannte wie besessen davon, den leichten Karren an den Deichselgabeln hinter sich herziehend. Keuchend klimmte er die Höhe hinauf, seine Last immer mit sich schleppend, bis er oben an dem steilsten Punkt der Küste angelangt war.
Aus dem Innern des Karrens tönte ersticktes Rufen und heftiges Pochen, aber der Riese beachtete es nicht.
Ein Ruck und der zweirädrige Sarg rollte die steile Klippe hinab. Immer schneller wurde sein Lauf, bald schlug er an eine hervorstehende Felsenkante, bald sprang er in einem großen Bogen weiter, dann rollte er wieder wie ein Fass um und um, während jammernde Laute wie aus einem Grabe nach oben schallten. Endlich kam er auf den letzten Vorsprung an und nachdem er noch einen mächtigen Bogen beschrieben hatte, lag er wie ein zerplatztes Ei auf dem steinigen Geröll am Meeresufer.
Ein alter Landstreicher, der unten in einer Vertiefung gekauert hatte, sah plötzlich das seltsame Ungetüm über seinen Kopf hinwegsausen und wenige Schritte vor ihm auf dem Strande zerschellen. Eiligst rannte er davon, um die nächstwohnenden Landleute zu benachrichtigen.
Allmählich lief die ganze Umgebung zusammen. Entsetzt starrten alle die Menschen auf die schaurigen Trümmer unter denen zur Unkenntlichkeit zerschmettert die Körper der beiden hervorragten. Was sollte nun geschehen? Man beschloss endlich, zwei Karren anzuspannen und die Leichen nach Peuples und Vrilette zu schaffen.
Als der Graf den Schäferkarren hatte rollen sehen, war er davongelaufen, so schnell ihn seine Füsse zu tragen vermochten. Nach stundenlangen Umherirren durch Sturm und Regen langte er endlich im Schlosse an. Man teilte ihm sofort mit, dass die Pferde reiterlos angekommen seien. »Es muss ihnen bei dem Sturm etwas passiert sein. Alles soll sofort auf die Suche gehen,« rief er mit stockender Stimme.
Eine Stunde später fuhr ein Karren in den Schlosshof. Man trug eine unkenntliche in Mäntel gehüllte Last die Treppe hinauf. Festen Schrittes folgte ihr der Graf.
Auch in Peuples fuhr ein Karren vor und Johanna brauchte nicht erst zu fragen, was dort unter Mänteln versteckt liege. Mit einem lauten Aufschrei brach sie zusammen. Als sie erwachte, stand ihr Vater neben ihr: »Weißt du schon …« begann er zögernd. »Ja, Papa,« antwortete sie.
An demselben Abend wurde sie von einem toten Kinde entbunden. Es war ein Mädchen.
Ein heftiges Fieber trübte für lange Zeit ihre Sinne.
*