»Papa, Papa!« wiederholte sie immer wieder lachend »hast Du gehört, wie er stets betonte: Zwanzigtausend Francs?«
Und Mütterchen, der das Lachen stets eben so nahe war wie das Weinen, wurde bei der Erinnerung an das zornige Gesicht ihres Schwiegersohnes, an seine wütenden Ausrufe, und an seine heftige Weigerung, dem von ihm verführten Mädchen eine Summe zu geben, die ihm noch gar nicht gehörte, von jenem stossweisen Lachen befallen, das ihr stets die Tränen in die Augen trieb. Zugleich wirkte ihre Freude über Johannas gute Laune mit. Da konnte auch der Baron seinerseits der allgemeinen Ansteckung nicht mehr widerstehen und wie in lustigen alten Zeiten lachten alle drei, dass sie fast krank wurden.
»Es ist merkwürdig,« sagte Johanna, als sie sich wieder etwas beruhigt hatten, »dass mir so etwas gar keinen Eindruck mehr macht. Ich betrachte ihn jetzt wie einen Fremden. Ich kann gar nicht mehr glauben, dass ich seine Frau sei. Ihr seht, ich amüsiere mich über seine … seine … Unzartheiten.«
Und ohne recht zu wissen warum, küssten sie sich zärtlich und lachend.
Aber zwei Tage später nach dem Frühstück als Julius ausgeritten war, trat ein großer Bursche von zwei bis vierundzwanzig Jahren, in einen ganz neuen blauen, vielfaltigen Kittel mit bauschigen Ärmeln und Knöpfen am Handgelenk, gekleidet, ängstlich durch das Tor, als ob er dort schon seit Morgen gelauert hätte. Er glitt längs dem Graben des Couillard’schen Pachthofes, ging um’s Schloss herum und näherte sich langsamen Schrittes dem Baron und den beiden Damen, die wie immer unter der Platane sassen.
Als er sie bemerkte, hatte er seine Mütze abgenommen, und trat verlegen grüssend wieder etwas näher.
»Ihr Diener Herr Baron, Madame und alle miteinander« platzte er los, als er nahe genug war um verstanden zu werden. »Ich bin Desiré Lecoq« verkündete er sodann, als niemand ihn anredete.
»Was gibts?« fragte der Baron, den dieser Name nicht gescheiter machte. So gezwungen seine Angelegenheit deutlicher zu erklären wurde der Bursche ganz verlegen. Seine Augen wanderten unruhig hin und her; bald hafteten sie auf der Mütze in seiner Hand, bald weilten sie drüben auf dem Dache des Schlosses.
»Der Herr Pfarrer …« stammelte er, »hat mir … etwas von der … Sache gesteckt.«
Dann schwieg er wieder, aus Furcht zu viel zu sagen und dadurch sein Interesse zu verletzen.
»Von welcher Sache? Ich weiß wahrhaftig nichts« sagte der Baron verständnislos.
»Die Sache mit dem Mädchen … mit Rosalie …« sagte hierauf der andere mit halblauter Stimme.
Johanna, die halb und halb die Geschichte erraten hatte, stand auf und entfernte sich mit dem Kind auf den Armen.
»Kommt heran,« sagte der Baron mit der Hand auf den Stuhl deutend, den seine Tochter verlassen hatte.
»Sie sind sehr gütig,« murmelte der Bauer sich setzend. Dann wartete er wieder, als wenn er weiter nichts zu sagen hätte. Endlich nach längerem Schweigen schien er einen Entschluss zu fassen und heftete den Blick auf den blauen Himmel. »Wir haben noch schönes Wetter für diese Jahreszeit Schade, dass es dem Lande für die Aussaat nicht mehr zu Gute kommt.« Dann schwieg er abermals.
»Ihr wollt also die Rosalie heiraten?« fragte ihn der Baron ganz unvermittelt, nachdem seine Geduld zu Ende war.
Der Mann wurde sofort sehr unruhig; seiner gewohnten normännischen Vorsicht passte diese Frage nicht so recht. »Vielleicht ja, wie es passt; vielleicht auch nein, je nachdem,« erwiderte er lebhaft wenn auch immer noch sehr misstrauisch.
Dem Baron wurden endlich diese ausweichenden Redensarten zu viel.
»Zum Teufel auch! So sprecht doch frisch von der Leber. Kommt ihr deshalb, oder nicht. Wollt ihr sie heiraten oder nicht?«
Der Mann starrte ganz verlegen immer nur auf seine Füsse.
»Wenn es so ist, wie der Pfarrer sagt, nehm’ ich sie; wenn es aber so ist, wie Herr Julius sagt, nehm ich sie keinesfalls.
»Was hat euch Herr Julius gesagt?«
»Herr Julius hat mir gesagt, dass ich fünfzehntausend Francs haben sollte; und der Herr Pfarrer hat mir gesagt, es wären zwanzigtausend. Mit zwanzigtausend nehme ich sie, mit fünfzehntausend aber nicht.«
Die Baronin, welche in ihrem Stuhl versunken sass, stiess beim Anblick dieses ängstlichen Menschen ein kurzes Lachen aus. Der Bauer sah sie von der Seite mit missvergnügter Miene an; er begriff diese plötzliche Heiterkeit nicht und wartete.
Dem Baron war dieser Handel unbequem.
»Ich habe dem Herrn Pfarrer gesagt, dass ihr den Pachthof Barville zeitlebens haben sollt und dass er dann auf das Kind übergeht. Er ist zwanzigtausend Francs wert. Ich habe nur ein Wort. Genügt euch das oder nicht?«
Der Mann lächelte stumpfsinnig und befriedigt; jetzt wurde er auf einmal gesprächig: »Ach, wegen damals hätte ich ja nicht nein gesagt. Das war es nicht, was mich genierte. Als der Herr Pfarrer mit mir sprach, war ich, meiner Seel! auf der Stelle einverstanden, und es war mir ein Vergnügen, dem Herrn Baron gefällig zu sein, der mir das schon vergelten würde, wie ich mir sagte. Das bleibt wahr wenn man sich gegenseitig gefällig ist, so lohnt sich das für jeden. Aber Herr Julius suchte mich auf, und sprach nur von fünfzehntausend. »Da musst du selbst einmal schauen,« dachte ich bei mir und so kam ich her. Ich wusste ja schon Bescheid, ich hatte Vertrauen; aber ich wollte wissen, woran ich war. Gute Ordnung erhält gute Freundschaft; ist das nicht wahr Herr Baron?«
»Wann soll die Hochzeit sein?« fragte ihn der Baron, als er einen Augenblick Atem schöpfte. Da wurde der Mann plötzlich wieder ängstlich, voll Verlegenheit. »Wollen wir nicht erst ein kleines Papier darüber aufsetzen?« fragte er schliesslich zögernd. Diesmal wurde der Baron ärgerlich.
»Aber zum Kuckuck! Ihr habt doch an dem Heirats-Kontrakt genug. Das ist doch das sicherste Papier.«
»Wir könnten indessen immer noch etwas schriftlich darüber ausmachen,« wandte jener ein. »Das kann nichts schaden.«
Der Baron stand auf, um ein Ende zu machen. »Antwortet, ja oder nein. Wenn Ihr keine Lust habt, so sagt’s nur. Ich habe noch einen andren zur Hand.«
Da machte die Furcht vor einem Nebenbuhler den schlauen Normannen stutzig. Er entschied sich schnell, er ergriff die Hand des Barons, wie beim Kuhhandel und sagte: »Topp! Herr Baron! Abgemacht. Ein Narr, der noch zögerte!«
Der Baron schlug ein und rief dann ›Ludivine!‹ Der Kopf der Köchin erschien am Fenster. »Bringen Sie eine Flasche Wein.« Man begoss die Sache mit der notwendigen Feuchtigkeit. Später entfernte sich der Bursche mit etwas beflügelterem Schritte, als wie er gekommen war.
Julius sagte man nichts von diesem Besuche. In tiefster Stille wurde der Kontrakt fertig gemacht, und dann fand eines montags morgens die Hochzeit statt, nachdem das Aufgebot erfolgt war.
Eine Nachbarin trug das Kleine hinter dem neuen Paare her zur Kirche, wie ein sicheres Vermögenspfand. Niemand in der Gemeinde wunderte sich; man beneidete höchstens Desiré Lecoq. Es sei ein heller Kopf, sagten die Leute mit etwas boshaftem Lächeln, aber ohne jede Spur von Entrüstung.
Julius machte nachträglich eine furchtbare Szene, welche die Abreise seiner Schwiegereltern von Peuples beschleunigte. Johanna sah sie ohne allzu tiefen Kummer scheiden, da Paul für sie eine unerschöpfliche Quelle des Glücks geworden war.
*
Als Johanna sich von ihrer Niederkunft ganz erholt hatte, entschloss man sich, den Besuch der Fourvilles zu erwidern und auch dem Marquis de Coutelier einen Besuch zu machen.
Julius hatte auf einer Auktion einen neuen Wagen gekauft, ein Phaeton, zu dem man nur ein Pferd bedurfte; so konnten sie ein oder zweimal im Monat bequem ausfahren.
An einem schönen klaren Dezembertage wurde angespannt. Nachdem sie zwei Stunden durch Feld und Wiesen gefahren waren, begann der Weg in ein kleines Tal abzusteigen, dessen Ränder bewaldet waren und dessen Grund deutliche Spuren einer sorgfältigen Kultur zeigte.
Auf die besäeten Felder folgten Wiesen und auf die Wiesen ein großer Sumpf. Das Schilfrohr desselben war zu dieser Jahreszeit schon dürr und seine Blätter flatterten wie lange gelbe Bänder im Winde.
Plötzlich nach einer scharfen Biegung des Tales lag das Schloss la Vrilette vor ihnen. Es lehnte sich mit der einen Front an den bewaldeten Talhang an, während die Mauer der andren sich in einem Teich verlor, den auf der gegenüberliegenden Seite ein hohes Tannengehölz abschloss, das diesen Teil des Tales bedeckte.
Man musste über eine alte Zugbrücke, um dann durch ein hohes Portal im Stile Ludwig XIII. in den Schlosshof zu gelangen. Das Schloss war im gleichen Stile aus Backstein erbaut und von Türmchen mit Schieferdächern flankiert.
Julius erklärte Johanna alle Einzelnheiten des Baues, den er genau zu kennen schien. Er pries seine vollendete Schönheit, die er nicht genug bewundern konnte. »Sieh nur dies Portal an! Ist das nicht eine herrliche Wohnung, wie? Die ganze andere Façade liegt im Teiche, mit einer wundervollen Rampe, die bis zum Wasser herunter führt. Vier Kähne liegen an deren Stufen befestigt, zwei für den Grafen und zwei für die Gräfin. Dort unten rechts, wo Du die Pappelreihe siehst, ist das Ende des Teiches. Dort liegt der Fluss, der nach Fecamp führt. Die Gegend ist von Wasservögeln belebt. Der Graf schwärmt leidenschaftlich für die Jagd. Es ist ein richtiger Herrensitz, das.«
Die Eingangstür öffnete sich und die bleiche Gräfin erschien, den Besuchern mit einem Lächeln auf den Lippen entgegenkommend. Sie trug ein Schleppkleid wie eine Schlossherrin aus alter Zeit. Die schöne Dame vom See schien wie geboren für dieses Grafenschloss.
Der achtfenstrige Salon gewährte einen prachtvollen Ausblick auf das Wasser und das dunkle Fichtenholz, welches an seinem jenseitigen Rande emporstieg.
Das dunkle Laub im Hintergrunde ließ den Teich tief, finster und traurig erscheinen; und wenn der Wind blies, so klang das Flüstern der Bäume wie seufzende Stimmen aus dem Sumpfe.
Die Gräfin nahm beide Hände Johanna’s, als hätte sie eine Jugendfreundin vor sich, bat sie Platz zu nehmen und setzte sich neben sie auf einen niedrigen Stuhl, während Julius, der seit fünf Monaten ganz wieder der vornehme Weltmann von früher geworden war, in der gewandtesten Weise unter vertraulichem stillen Lächeln die Unterhaltung führte.
Die Gräfin und er sprachen von ihren Spazierritten. Sie lachte ein wenig über seine Reitkunst und nannte ihn den »Stolper-Ritter«, während er sie lachend »Die Amazonen-Königin« taufte. Der Knall eines Gewehres unter dem Fenster entlockte Johanna einen kleinen Schrei. Es war der Graf, der eine Krickente geschossen hatte.
Seine Frau rief ihn sofort herbei. Man hörte das Geräusch von Rudern, das Anstossen eines Kahns an der Steintreppe und alsbald erschien der Graf in hohen Wasserstiefeln, gefolgt von zwei triefenden Hunden, rötlich wie ihr Herr, die sich’s auf dem Teppich an der Tür bequem machten.
Der Graf schien zu Hause besserer Laune und über den nachbarlichen Besuch sehr erfreut zu sein. Er ließ frisches Holz in den Kamin legen, bestellte Madeira und Biskuits. »Aber Sie werden mit uns essen, nicht wahr; abgemacht?« rief er plötzlich, Johanna, deren Gedanken stets bei ihrem Kinde weilten, wollte Einwendungen machen; aber er ließ sie nicht gelten. Als sie noch immer zögerte, machte Julius eine heftige Bewegung der Ungeduld. Da befürchtete sie seine schlechte Laune wieder zu erwecken und willigte ein, obschon ihr der Gedanke furchtbar war, Paul vor dem nächsten Tage nicht wiederzusehen.
Es war ein sehr vergnügter Nachmittag. Man fuhr zunächst zu den Quellen des Teiches, die am Fusse eines moosbewachsenen Felsens sich in ein klares Bassin ergossen, dessen Wasser stets wie kochend aufwirbelte. Dann bewegte sich der Kahn auf richtigen Wasserwegen, die in dem Walde von trockenem Schilf eingeschnitten waren. Der Graf, der zwischen seinen zwei Hunden sass, die witternd die Nase in die Luft streckten, führte die Ruder. Jeder seiner Ruderschläge brachte den Kahn ein gutes Stück vorwärts. Johanna steckte zuweilen die Hand in das frische Wasser und freute sich seiner eisigen Kühle, die ihr bis zum Herzen drang. Ganz im Hintergrunde sassen, in Shawles eingehüllt, die Gräfin und Julius. Sie lächelten wie zwei glückliche Menschen, die für ihr Glück aber keine Worte haben.
Der Abend brach mit langgezogenen kühlen Schauern herein; der Nordwind strich durch das welke Schilfrohr. Die Sonne war hinter den Tannen zur Ruhe gegangen. Der rötliche Himmel, mit scharlachfarbenen und grotesken Wölkchen bedeckt, ließ einen erfrieren, wenn man ihn nur anschaute.
Man kehrte in den Salon zurück, wo ein mächtiges Kaminfeuer brannte. Schon beim Eintritt wurde man warm und heiter gestimmt. Der Graf nahm in ausgelassener Laune seine Frau wie ein Kind auf seine athletischen Arme, hob sie bis zum Munde empor und drückte ihr zwei herzhafte glückliche Küsse auf beide Wangen.
Johanna betrachtete lächelnd diesen gutmütigen Riesen, den man lediglich um seines großen Schnurrbartes willen einen Währwolf nannte. »Wie man sich doch stets über die Leute täuschen kann!« dachte sie bei sich. Als sie dann fast unwillkürlich den Blick auf Julius richtete, der furchtbar bleich, das Auge starr auf den Grafen geheftet, in der Tür stand, näherte sie sich ihm voll Besorgnis. »Bist Du krank? Was fehlt Dir nur?« fragte sie ihn leise. »Nichts«, antwortete er zornig, »lass mich zufrieden. Ich friere.«
Als man sich in den Speisesaal begab, bat der Graf um die Erlaubnis, seine Hunde mitnehmen zu dürfen. Sie kamen alsbald herbei und pflanzten sich rechts und links von seinem Stuhle auf. Jeden Augenblick gab er ihnen einen Bissen von seinem Teller und streichelte ihren langen seidenweichen Behang. Die prächtigen Tiere zeigten sich sehr empfänglich für seine Liebkosungen, sie wedelten mit dem Schweif und zitterten vor freudiger Erregung.
Johanna und Julius machten nach dem Diner Miene, fortzufahren; allein der Graf hielt sie zurück, um ihnen einen Fischfang bei Fackelschein zu zeigen.
Sie mussten sich mit der Gräfin auf der Rampe aufstellen, die zum Teiche führte, während er, von einem Diener mit brennender Fackel und Wurfnetz begleitet, in seinen Kahn stieg. Die Nacht war klar und scharf; der Himmel mit Milliarden von Sternen besäet.
Die Fackel warf seltsame lebendige Feuerstrahlen auf das Wasser; ihr Licht erzitterte im Schilfrohr und brach sich an dem Rande des dichten Tannengehölzes. Plötzlich bei einer Wendung des Kahnes hob sich ein riesiger gespenstiger Schatten, der Schatten eines Menschen, an diesem hellerleuchteten Waldrande ab. Sein Haupt ragte über die Bäume hinaus und verlor sich im Äther, während die Füsse im Wasser zu stehen schienen. Dann erhob dieses unermessliche Wesen seine Arme, als wollte es die Sterne vom Himmel holen. Sie schnellten plötzlich empor, diese Arme, und sanken ebenso schnell wieder herab. Gleichzeitig hörte man ein leichtes Geräusch, wie wenn das Wasser gepeitscht würde.
Während die Barke langsam dahinglitt, schien die wunderbare Gestalt längs dem erleuchteten Holze hinzulaufen. Dann verschwand sie in dem unsichtbaren Horizont, um plötzlich wieder aufzutauchen. Sie war weniger groß aber genauer in ihren Umrissen; ihre Bewegungen wurden immer deutlicher, als sie sich jetzt auf der Façade des Schlosses abspiegelte.
»Ich habe acht gefangen, Gilberte«, rief die gewaltige Stimme des Grafen.
Die Ruder knirschten auf dem Grunde. Der riesige Schatten stand jetzt unbeweglich an der Mauer und wurde immer kleiner und schmaler. Sein Haupt schien herabzusinken, sein Körper abzumagern; und als Herr de Fourville die Stufen der Rampe heraufschritt, stets von dem Diener mit der Fackel gefolgt, war seine Figur wieder auf ihren gewöhnlichen Umfang zusammengeschmolzen, während das Licht alle seine Bewegungen auf dem Mauerwerk wiedergab.
In seinem Netz trug er acht große zappelnde Fische.
»Welch ein guter Mann, dieser Riese!« sagte Johanna unterwegs, als sie beide in warme Mäntel und Decken gehüllt, die man ihnen geliehen hatte, nach Peuples zurückfuhren. »Allerdings«, entgegnete Julius, der die Zügel führte, »nur schade, dass er sich in Gesellschaft zuweilen so gehen lässt.«
Acht Tage später fuhren sie zu den Couteliers, welche dem ersten Adel des Landes angehörten. Ihr Wohnsitz Reminil stiess an den Flecken Cany. Das neue Schloss, unter Ludwig XIV. erbaut, lag ganz versteckt in einem herrlichen, von Mauern umgebenen Parke. Auf einer Anhöhe sah man die Ruinen des alten Schlosses. Reich galonierte Diener geleiteten den Besuch in einen imposanten Saal. In der Mitte desselben stand auf einer Art Säule eine ungeheure Vase aus Sèvres; und in dem Sockel war unter einer Kristallplatte ein eigenhändiger Brief des Königs verwahrt, mittels welchen derselbe dem Marquis Leopold, Hervé, Joseph, Germer de Varneville de Rollebosc de Coutelier dieses wahrhaft königliche Geschenk übersandte.
Johanna und Julius waren noch in der Betrachtung dieses Prachtstückes versunken, als der Marquis und die Marquise eintraten. Die Dame war stark gepudert, liebenswürdig aus Gewohnheit und geziert in dem Bestreben herablassend zu sein. Der Herr, stark von Figur mit blonden geradeauf stehenden Haaren, legte in alle seine Bewegungen, in seine Sprache und in seine ganze Haltung etwas Gemessenes, um die Erhabenheit seiner Person darzutun.
Sie gehörten zu jener Art von steifen Leuten, deren Geist, deren Gemüt und Redensarten stets auf Stelzen zu gehen scheinen.
Sie führten allein das Wort, ohne lange auf Antworten zu warten, mit einem indifferenten Lächeln; es war, als betrachteten sie es als eine ihnen durch Geburt auferlegte Pflicht, die kleinen Edelleute der Umgegend höflich bei sich aufzunehmen.
Johanna und Julius waren wie erstarrt, bemühten sich aber höflich zu sein. Es war ihnen unbequem, lange zu bleiben und doch konnten sie den geeigneten Augenblick zum Aufbruch nicht finden. Schliesslich machte die Marquise ihrerseits dem Besuch ein Ende indem sie mit ungezwungener natürlicher Haltung das Gespräch beschloss, wie eine Königin die in höflicher Form eine Audienz aufhebt.
»Wenn es Dir recht ist,« meinte Julius auf dem Heimwege, »so machen wir dort keinen Besuch wieder; mir für meine Person genügen die Fourvilles.« Johanna stimmte ihm völlig bei.
Der Dezember, dieser finstere Monat, dieses dunkle Loch am Ende des Jahres, ging langsam zur Neige. Das einsame Leben begann wieder wie im vorigen Jahre. Johanna langweilte sich indessen keineswegs; sie war unausgesetzt mit Paul beschäftigt, den Julius von der Seite mit unruhiger missvergnügter Miene betrachtete.
Zuweilen, wenn die Mutter ihn auf den Armen hielt und ihn mit jenen zärtlichen Schmeicheleien liebkosete, die jede Mutter für ihr Kind hat, zeigte sie ihn auch dem Vater und sagte: »So küsse ihn doch mal; man sollte wirklich denken, Du möchtest ihn nicht.« Dann berührte er ganz von Weitem mit seinen Lippen die glatte Stirn des Babys; aber er schnitt ein widerwilliges Gesicht dazu und beugte sich weit vor um nur nicht die kleinen lebhaft greifenden Händchen anzurühren. Hierauf ging er sofort heraus; man hätte denken können, dass ein Ekel ihn forttriebe.
Hin und wieder kamen der Maire, der Pfarrer und der Doktor zum Essen. Zuweilen stellten sich auch die Fourvilles ein, mit denen man sich immer mehr anfreundete.
Der Graf schien eine innige Zuneigung zu Paul gefasst zu haben. Er hatte ihn fortwährend auf dem Schosse, selbst wenn der Besuch den ganzen Nachmittag dauerte. Er schaukelte ihn vorsichtig auf seinen großen Riesenfäusten, kitzelte ihm die Nasenspitze mit seinen langen Schnurrbartenden und küsste ihn unzählige Male mit einer Leidenschaftlichkeit, wie eine Mutter sie nicht grösser haben konnte. Er litt unaussprechlich darunter, dass seine eigene Ehe kinderlos blieb.
Im März begann das Wetter, klar, trocken und beinahe milde zu werden. Gräfin Gilberte begann aufs neue von den Spazierritten zu sprechen, die sie zu Vieren unternehmen wollten. Johanna, die der langen Abende und Nächte und der ebenso monotonen Tage doch etwas müde war, gab ganz vergnügt diesem Plane ihre Zustimmung. Eine ganze Woche lang beschäftigte sie sich mit der Zurichtung ihres Reitkleides.
Dann begannen die Spazierritte. Sie ritten immer zu zweien, die Gräfin mit Julius voraus, Johanna und der Graf hundert Schritte dahinter. Letztere plauderten harmlos wie Freunde; denn sie waren Freunde geworden durch die Berührung ihres redlichen Gemütes, ihrer einfachen Seelen. Jene dagegen sprachen leise miteinander, lachten zuweilen laut auf, und sahen sich plötzlich an, als ob ihre Augen sich etwas erzählen wollten, was der Mund nicht aussprechen konnte. Dann sprengten sie wieder im Galopp davon, als wollten sie weit, recht weit fliehen.
Hin und wieder schien Gilberte sehr reizbar zu sein. Der Wind trug ihre laute Stimme bis zu den Ohren der langsam hinterdrein Reitenden. »Sie ist nicht immer gut gelaunt, meine Frau«, sagte der Graf alsdann lächelnd zu Johanna.
Eines Abends auf dem Heimwege, haranguierte die Gräfin ihre Stute besonders; bald stach sie ihr den Sporn in die Flanke, bald riss sie heftig am Zügel. Man konnte deutlich hören, wie Julius ihr mehrmals sagte: »Geben Sie Acht, geben Sie Acht, sie wird Ihnen durchgehen.«
»Einerlei; das geht Sie nichts an«, antwortete sie so herb und scharf, dass die Worte deutlich über’s Feld hallten als seien sie in der Luft aufgehängt.
Das mutige Tier bäumte sich schliesslich hoch auf und biss schäumend auf die Stange. »Gib doch Acht, Gilberte«, rief der Graf aus voller Lunge. Da hieb sie wie in einem Anfall von Raserei, die nichts zurückhält, zornig mit ihrer Gerte das Tier gerade zwischen beide Ohren. Die Stute stieg kerzengerade in die Höhe, schlug einen Augenblick die Luft mit den Vorderfüssen, fasste dann wieder Boden, machte einen furchtbaren Satz, und rannte mit Aufbietung aller Kräfte wie toll davon.
Zuerst ging es über eine Wiese, dann über einen Sturzacker, wobei eine Wolke von Staub und Schmutz sie einhüllte. Sie rannte so flüchtig, dass man Ross und Reiterin kaum noch voneinander unterscheiden konnte.
»Madame, Madame!« rief Julius, der ganz verzweifelt und verwirrt halten blieb.
Der Graf ließ ein leises Brummen vernehmen, beugte sich über den Hals seines Pferdes, nachdem er es mit seinem ganzen Körpergewicht vorgedrückt hatte und sprengte davon. Er hob es mit solcher Kraft, trieb es mit Peitsche Spore und Zuruf so energisch vorwärts, dass es aussah, als trüge der riesige Reiter das Tier zwischen seinen Schenkeln davon. So ging es mit unglaublicher Schnelligkeit hinter einander her. Johanna sah, wie ganz weit hinten die Schatten der beiden Eheleute dahinflogen, wie sie immer kleiner wurden, bald verschwanden, bald wieder auftauchten gleich zwei Vögeln, die sich verfolgen, um endlich sich ganz im Äther zu verlieren.
Julius näherte sich ihr, immer noch im Schritt und sagte mit ganz verstörter Miene: »Ich glaube, sie ist von Sinnen heute.«
Sie ritten nun hinter ihren Freunden her, die durch eine Erdwelle verdeckt waren.
Nach Verlauf einer Viertelstunde sahen sie dieselben zurückkommen; und bald traf man wieder zusammen.
Der Graf, noch röter wie sonst, in Schweiß gebadet, aber lachend, mit zufriedener triumphierender Miene führte mit seiner kräftigen Faust, das Pferd seiner Gattin am Zügel. Ihr schmerzlich verzerrtes Antlitz war bleich wie der Kalk an der Wand und sie hatte sich mit der einen Hand um den Nacken ihres Mannes gehängt, als fühlte sie ihre Kräfte schwinden.
Johanna begriff an diesem Tag, dass der Graf seine Gattin unaussprechlich liebte.
Während der nächsten Zeit zeigte sich die Gräfin so vergnügt, wie sie noch nie zuvor gewesen war. Sie kam noch öfter wie sonst nach Peuples, lachte unaufhörlich und küsste Johanna unter wahren Stürmen von Zärtlichkeit. Man hätte sagen können, dass eine geheimnisvolle Verzückung über sie gekommen wäre. Ihr Mann, selbst überglücklich, wandte kein Auge von ihr, und suchte mit verdoppelter Zärtlichkeit jeden Augenblick ihre Hand oder wenigstens eine Falte ihres Kleides zu erhaschen.
»Wir sind jetzt wirklich glücklich«, sagte er eines Abends zu Johanna. »Gilberte war noch nie so liebenswürdig wie jetzt. Sie kennt keinen Zorn und keine schlechte Laune mehr. Ich fühle, dass sie mich liebt. Bis dahin war ich dessen noch nicht gewiss.«
Auch Julius schien verändert, vergnügter, ohne Zeichen von Ungeduld; als wenn die Freundschaft zwischen den beiden Familien einer jeden von ihnen Frieden und Freude zurückgebracht hätte.
Der Frühling war ausserordentlich schön und warm. Von den lieblichen Morgenstunden bis zum milden lauen Abend sandte die Sonne ihre wärmenden alles belebenden Strahlen auf die Erde herab. Es war ein plötzliches und mächtiges Erwachen der ganzen Erde zu gleicher Zeit, jenes unwiderstehliche Treiben des Saftes, jener Drang zum Neuerstehen, den die Natur zuweilen in ganz besonders bevorzugten Jahren zeigt, wo man an eine Verjüngung der Welt glauben möchte.
Johanna fühlte sich durch dieses gärende Leben seltsam bewegt und verwirrt. Beim Anblick einer kleinen Blume im Grase konnte sie plötzlich zu Tränen gerührt werden, sie hatte Stunden voll seltsamer Melancholie, voll weicher Empfindungen.
Dann überfielen sie die zärtlichen Erinnerungen der ersten Zeit ihrer Liebe. Nicht als ob ihre Zuneigung zu Julius sich erneuert hätte; nein! das war aus, für immer aus! Aber der laue Frühlingswind, der linde Frühlingsduft umschmeichelten ihre Haut und drangen ihr bis zum Herzen, wo sie ein unbewusstes Erwachen, wie auf irgend einem geheimnisvollen Ruf hin, hervorzauberten.
Es machte ihr Freude, allein zu sein, sich bei der warmen Sonne an irgend ein stilles Plätzchen zurückzuziehen; diese unbestimmten, wonnigen und heiteren Empfindungen wollte sie mit Niemandem teilen.
Eines Morgens, als sie so vor sich hinträumte, beschäftigte sie plötzlich ein Bild aus vergangener Zeit, das Bild jener kleinen, sonnigen Lichtung, inmitten des dunklen Laubes in dem kleinen Holze bei Etretat. Dort hatte sie zum ersten Male empfunden, wie ihr Körper neben dem jungen Manne zitterte, den sie damals liebte. Dort hatte er zum ersten Mal, wenn auch nur stammelnd, dem Verlangen seines Herzens Ausdruck verliehen. Dort hatte sie ja plötzlich geglaubt, die köstliche Verwirklichung ihrer Hoffnungen vor sich zu sehen.
Und sie wollte dieses Gehölz wiedersehen; sie wollte dorthin eine Pilgerfahrt machen, von der sie mit abergläubischer Sentimentalität irgend eine Änderung ihres bisherigen Lebensweges erwarten zu müssen vermeinte.
Julius war seit Tagesanbruch fortgeritten; sie wusste nicht wohin. Sie ließ also den kleinen Schimmel der Martins satteln, den sie jetzt zuweilen bestieg, und ritt fort.
Es war ein Tag so ruhig, dass sich nichts, kein Grashalm, kein Blatt, zu regen schien. Alles schien für immer erstarrt, als ob der Wind erstorben wäre. Selbst die Insekten schienen verschwunden zu sein.
Eine heisse majestätische Ruhe ging von der Sonne aus, die unempfindlich gegen alles, in Gold getaucht schien. Johanna ritt im Schritt ihres Weges, heiter, fast glücklich. Von Zeit zu Zeit hob sie den Blick, um ein kleines weißes Wölkchen zu betrachten, das nicht grösser war wie ein Watte-Flöckchen, oder wie ein leichter Dampfhauch, der vergessen, ganz allein dort oben mitten am blauen Himmelszelt haften geblieben war.