Zwei große Fässer, durch Fackeln beleuchtet, sorgten für den Durst der Menge. Die beiden Mägde, welche dieselben bedienten, liefen unaufhörlich hin und her, den Arm voll tropfender Gläser, die sie entweder mit rotem Wein oder mit goldglänzendem reinen Cider füllten. Die durstigen Tänzer, die ruhig dasitzenden Alten ebenso wie die schweißtriefenden Jungen beeilten sich, mit ausgestreckten Händen ein Glas oder einen Krug zu erwischen und sich mit zurückgebogenem Kopfe ihr Lieblingsgetränk schluckweise durch die Kehle rinnen zu lassen.
Auf einem Tische waren Brot, Butter, Käse und Würstchen aufgestellt. Von Zeit zu Zeit holte sich jeder einen tüchtigen Bissen; und dieses muntere Treiben unter dem grünen Laubdach in seiner gesunden Natürlichkeit erweckte selbst in den Geladenen oben im Saale die Lust, ein Tänzchen zu machen, und zu Brot und Käse einen Krug vom köstlichen Cider zu schlürfen.
»Tausend auch!« rief der Maire, der mit seinem Messer den Takt schlug, »das ist prächtig, wie bei der Hochzeit zu Ganaga.«
Alles lachte laut.
»Sie meinen die Hochzeit zu Kanaa« sagte Abbé Picot, ein abgesagter Feind aller Zivil-Behörden.
Der andere aber wollte die Belehrung nicht gelten lassen.
»Nein, Herr Pfarrer, ich weiß schon Bescheid; wenn ich sage Ganaga, so meine ich Ganaga.«
Man erhob sich und ging in den Salon. Dann mischte man sich für eine Weile unter die fröhliche Menge, bis die Geladenen sich entfernten.
Der Baron und die Baronin führten leise einen kleinen Streit miteinander. Madame Adelaïde, atemloser wie je, schien auf einen Wunsch ihres Gatten nicht eingehen zu wollen; endlich sagte sie halblaut: »Nein, lieber Freund, ich kann nicht. Ich wüsste nicht, wie ich es machen sollte.«
Hierauf näherte sich der Papa, indem er sie einfach stehen ließ, seiner Tochter.
»Willst Du einen kleinen Spaziergang mit mir machen, mein Kind?« fragte er.
»Gern, Papa« antwortete sie bewegt. Sie gingen hinaus.
Als sie vor die Türe nach der Meeresseite zu traten, wehte ihnen ein trockener Wind entgegen, einer jener kühlen Sommerwinde, welche schon das Nahen des Herbstes verkünden.
Wolken jagten am Himmel vorüber und verdeckten für einige Augenblicke die Sterne.
Der Baron nahm seine Tochter unterm Arm und drückte zärtlich ihre Hand. So gingen sie einige Augenblicke schweigsam neben einander. Er schien verlegen und unentschlossen.
»Mein Kind«, begann er endlich, »ich habe eine schwierige Aufgabe übernommen, die eigentlich Deiner Mutter zukäme. Da sie sich aber nicht dazu imstande fühlt, so muss ich sie vertreten. Es gibt Geheimnisse, die man Kindern, namentlich Mädchen, sorgfältig verbirgt. Denn gerade letztere sollen reinen, absolut reinen Geistes bis zu der Stunde bleiben, wo sie den Händen dessen übergeben werden, der von da an für ihr Glück Sorge zu tragen hat. Ihm kommt es zu, den Schleier zu lüften, der über das süsseste Geheimnis des Lebens gebreitet ist. Die jungen Mädchen aber, je ahnungsloser sie sind, schrecken umso eher manchmal vor der etwas rauen Wirklichkeit zurück, welche die Erfüllung ihrer Träume mit sich bringt. Sie fühlen sich geistig und körperlich verletzt und verweigern ihrem Gatten das, was menschliches und natürliches Gesetz ihm als absolutes Recht einräumen. Mehr kann ich Dir nicht darüber sagen; aber vergiss das eine, nur das eine nicht: dass Du ganz und gar Deinem Manne angehörst.«
Was wusste sie nun eigentlich? Wie viel hatte sie erraten? Sie begann zu zittern; eine düstere schmerzliche Traurigkeit wie eine Art Vorahnung hatte sie ergriffen.
Als sie ins Haus zurückkehrten, blieben sie überrascht unter der Türe des Salons stehen. Madame Adelaïde hing an Julius Halse und schluchzte herzzerbrechend. Alles an ihr schien Tränen auszuströmen, Nase, Mund und Augen; und der junge Mann hatte in seinem Erstaunen alle Mühe, die starke Dame zu stützen, welche ihm in die Arme gesunken war, um ihm die Sorge für ihr Kleinod, ihr Herzblatt, ihr angebetetes Kind, auf die Seele zu binden.
»Ach, nur keine Szene!« sagte der Baron rasch vortretend, »ich bitte drum.« Er nahm seine Gattin und führte sie zu einem Sessel, während sie sich das Gesicht abwischte.
»Komm mein Kind«, wandte er sich alsdann zu Johanna, »gib Mama einen Kuss und geh’ zu Bett.«
Johanna hielt die gleichfalls drohenden Tränen zurück, küsste schnell ihre Eltern und verliess das Zimmer.
Tante Lison hatte sich schon auf ihr Zimmer zurückgezogen. Der Baron und die Baronin blieben mit Julius allein. Alle drei waren so verlegen, dass sie kein Wort sprachen. Die Herren standen zerstreut da in ihrer Diner-Toilette, während Madame Adelaïde ganz erschöpft, noch die letzten Tränen auf den Wangen, in ihrem Sessel lag.
Um der Verlegenheit ein Ende zu machen, begann der Baron von der Reise zu sprechen, welche die jungen Leute nach einigen Tagen unternehmen sollten.
Johanna ließ sich in ihrem Zimmer durch Rosalie auskleiden, die wie ein Wasserfall weinte. Ihre Hände waren ungeschickt; sie fand sich mit Schnüren und Hefteln nicht zurecht und schien noch in viel grösserer Gemütsbewegung wie ihre Herrin. Aber Johanna achtete nicht auf die Tränen ihrer Kammerjungfer; sie war wie auf einer anderen Welt, in einem fremden Land, getrennt von allem, was ihr bis dahin lieb und teuer gewesen war. In ihrem Denken und Fühlen schien alles so durcheinander zu sein, dass sie sich sogar fragte, ob sie eigentlich ihren Gatten liebe. Er schien ihr jetzt plötzlich ein Fremder zu sein, den sie kaum vorher gekannt hatte. Vor drei Monaten wusste sie noch nichts von seiner Existenz und jetzt war sie schon seine Frau. Wie kam das eigentlich? Warum so schnell in die Ehe stürzen, wie in ein Loch, das sich plötzlich zu unsern Füssen öffnet?
Als sie ihre Nachttoilette beendet hatte, schlüpfte sie ins Bett. Die frisch überzogenen Leintücher verursachten ihr einen leichten Schauer und vermehrten das Gefühl der Kälte, der Einsamkeit und Traurigkeit, welches seit zwei Stunden auf ihrer Seele lastete.
Rosalie entfernte sich, noch ganz in Tränen gebadet. Ängstlich und mit krampfhaftem Seelenschmerz erwartete sie das, was sie halb und halb aus den dunklen Andeutungen ihres Vaters erraten hatte, die Enthüllung dessen, was man das große Geheimnis der Liebe nennt.
Drei leichte Schläge ertönten an der Türe, ohne dass sie jemand hatte die Treppe heraufkommen hören. Sie fing heftig an zu zittern und wagte nicht zu antworten. Es klopfte abermals und dann wurde die Tür geöffnet. Sie steckte den Kopf unter die Decke, wie wenn ein Dieb in ihr Zimmer geschlichen käme. Leichte Schritte tönten auf dem Fussboden, und dann stand jemand plötzlich an ihrem Bett.
Sie stiess vor Erregung einen kleinen Schrei aus, und als sie den Kopf hervorstreckte, sah sie Julius neben sich stehen. Er schaute sie lächelnd an.
»Ach, wie Sie mich geängstigt haben!« sagte sie.
»Haben Sie mich denn nicht erwartet?« fragte er.
Sie antwortete nicht. Er war noch vollständig in seiner Festtoilette; als sie in sein hübsches Gesicht schaute, fühlte sie plötzlich eine große Scham darüber, vor diesem ganz angezogenen Manne so leicht bekleidet dazuliegen.
Sie wussten beide nicht, was sie sagen oder tuen sollten; sie wagten nicht einmal, sich anzusehen. So sehr fühlten beide instinktiv den Ernst dieser entscheidenden Stunde, von der ja so oft das Glück eines ganzen Lebens abhängt.
Er hatte so eine unbestimmte Ahnung, welche Gefahr für ihn darinlag, wenn er seine Selbstbeherrschung verlor. Er würde seine ganze wohlerwogene Zärtlichkeit aufbieten müssen, um nicht das peinliche Zartgefühl und die keusche Schamhaftigkeit eines nur von idealen Träumen erfüllten jungfräulichen Gemütes zu verletzen.
Sanft nahm er ihre Hand und küsste sie; dann kniete er vor ihrem Bett wie vor einem Altar nieder und flüsterte mit leiser zärtlicher Stimme:
»Werden Sie mir Ihre Liebe schenken?«
Sie gewann ihre Sicherheit langsam wieder, hob das Köpfchen aus dem spitzenbedeckten Kissen und sagte lächelnd:
»Ich liebe Sie ja schon längst, mein Freund!«
Da nahm er die kleinen zarten Finger seiner Frau an die Lippen und fragte sie zärtlicher noch als vorher:
»Wollen Sie mir auch den Beweis Ihrer Liebe geben?«
Seine Stimme klang ganz verändert, als er so zwischen ihren Fingern hindurch fragte.
»Ich gehöre Ihnen ja, lieber Freund!« antwortete sie aufs Neue verwirrt durch seine Frage, welche, ohne dass sie dieselbe ganz verstand, ihr doch die Worte des Vaters ins Gedächtnis zurückrief.
Er bedeckte immer wieder ihre Hand mit Küssen und, indem er langsam aufstand, suchte er sich ihrem Antlitz zu nähern, das sie aufs Neue zu verbergen strebte.
Dann streckte er plötzlich einen Arm aus, umschlang seine Frau mitsamt der Bettdecke und schob den anderen Arm unter das Kopfkissen. So zog er sie langsam an sich und flüsterte ihr leise, ganz leise zu:
»Würden Sie mir dann auch ein kleines Plätzchen in Ihrem Bette gönnen?«
Sie empfand Furcht, eine instinktive Furcht:
»Ach, jetzt noch nicht, ich bitte Sie«, stammelte sie.
Er war sichtlich überrascht, ein wenig verletzt sogar; und wenn er den bittenden Ton auch beibehielt, so klang es doch etwas rauer, als er jetzt sagte:
»Warum etwas verschieben, was wir doch schliesslich alle Tage so machen werden?«
Sie ärgerte sich über diese Worte; aber schliesslich sagte sie doch zum zweiten Male sanft und ergeben:
»Ich gehöre Ihnen ja, lieber Freund!«
Da verschwand er schnell im Ankleidezimmer. Sie hörte deutlich und mit ängstlichen Schauern das Geräusch abgelegter Kleider, das Klingen von Geld, das er aus der Tasche nahm, das Fallen der ausgezogenen Schuhe.
Und plötzlich kam er in Unterkleidern und Pantoffeln rasch durch das Zimmer gegangen, um seine Uhr auf den Kamin zu legen. Dann kehrte er hastig ins Nebengemach zurück, verweilte noch einige Augenblicke und … Johanna wandte sich rasch auf die Seite und schloss die Augen, als sie sein Nahen bemerkte.
Sie fühlte eine Regung aus dem Bett zu springen, als er jetzt rasch unter die Decke schlüpfte und sie die Berührung eines fremden, kalten und haarigen Körpers an dem ihrigen spürte. Entsetzt, das Gesicht mit den Händen bedeckend, hätte sie am Liebsten laut schreien mögen und sie zog sich ganz an das Ende des Bettes zurück.
Obschon sie ihm den Rücken drehte, schloss er sie doch in seine Arme und küsste sie heftig auf den Nacken, wobei er die Bänder ihrer Nachthaube und den Spitzenbesatz ihres Hemdes zurückschob.
Selbst als sie bemerkte, wie seine Hand begierig nach ihrem Busen tastete, regte sie sich nicht, von einer entsetzlichen Furcht gelähmt. Sie atmete schwer unter dieser ungewohnten Berührung, bei der sie am liebsten aus dem Zimmer geflüchtet wäre, um sich irgendwo, fern von diesem Manne, einzuschliessen.
Er aber wich nicht von der Stelle. Sie fühlte die Wärme seines Körpers, sie bemerkte, wie er seine Zärtlichkeiten verdoppelte und schliesslich merkte sie, dass ihr doch nichts übrig bleiben würde, als sich umzuwenden und ihn wieder zu küssen.
Denn er begann bereits ungeduldig zu werden und sagte mit traurigem Tone:
»Sie wollen also nicht meine kleine liebe Frau sein?«
»Bin ich das denn nicht schon?« murmelte sie kaum hörbar.
»Nein, durchaus nicht,« antwortete er mit einem Anflug von Herbheit, »ich glaube, Sie halten mich zum Besten.«
Ganz ergriffen vom Ton seiner Stimme wandte sie sich plötzlich zu ihm um und bat ihn um Verzeihung.
Er nahm sie nun vollends in seine Arme und begann wie ein Rasender sie mit Küssen zu bedecken. Keine Stelle an ihrem ganzen Gesicht blieb von diesen heisshungrigen, verzehrenden, wütenden Küssen unberührt. Sie hatte die Hände zurückgezogen und ergab sich widerstandslos, ohne selbst zu wissen, was sie tat, seinen stürmischen Liebkosungen. Ein tiefer Schmerz durchdrang ihren Körper, sie begann zu seufzen und erwiderte lebhaft die Küsse, vor denen sie vorhin noch so sehr zurückgeschreckt war. Jetzt war sie Julius seine Frau.
Was dann noch geschah, entzog sich ihrem Gedächtnisse, ihr Bewusstsein war ziemlich geschwunden; nur dunkel erinnerte sie sich noch, wie ihr Julius einen langen innigen dankbaren Kuss auf die Lippen drückte.
Dann sprach er mit ihr und sie musste ihm antworten. Nach einiger Zeit begann er seine Zärtlichkeiten aufs Neue; aber sie sträubte sich voll Scham, und während sie seine Umarmung abwehrte, fühlte sie auf seiner Brust die dichten Haare, die sie schon vorhin an seinen Beinen gespürt hatte. Entsetzt drehte sie sich um.
Er schien es schliesslich leid zu sein, sich vergeblich mit ihr zu bemühen und blieb ruhig liegen.
Dann dachte sie nach. »Das also heisst seine Frau sein; das also, nur das!« und die tiefste Verzweiflung ergriff ihr Herz, als sie ihre Träume von innigster Zärtlichkeit so zerstört, ihre teuersten Erwartungen enttäuscht, ihr Glück vernichtet sah.
Lange lag sie so mit ihrem Schmerze da, während ihre Augen über die Stickereien an der Wand flogen, über die alte Liebesgeschichte, mit der das ganze Zimmer sozusagen bedeckt war.
Aber als Julius nichts mehr sprach und ganz regungslos dalag, wandte sie langsam ihren Blick zu ihm und bemerkte, dass er schlief. Er schlief mit halboffenem Munde, sein Antlitz zeigte einen ruhigen, zufriedenen Ausdruck. Er schlief also!
Sie konnte es kaum glauben; sie fühlte sich verletzt. Dieser Schlaf befremdete sie noch mehr als sein Ungestüm, sie fühlte sich rücksichtslos behandelt. Konnte er denn wirklich in dieser Nacht schlafen? Für ihn hatte also das, was zwischen ihnen vorgefallen war, nichts Aussergewöhnliches? Ach, sie hätte sich lieber noch schlagen lassen, so fühlte sie sich verletzt und entrüstet über die sonderbaren Zärtlichkeiten; und er schlief ganz ruhig danach.
Auf einen Ellenbogen gestützt schaute sie unbeweglich zu ihm herüber und horchte auf die tiefen Atemzüge, welche über seine Lippen kamen und schliesslich in ein ziemlich lautes Schnarchen übergingen.
Der Tag brach an, anfangs unbestimmt dämmernd, dann lichter, rosiger und endlich hellstrahlend. Julius öffnete die Augen, gähnte, streckte die Arme, sah seine Frau an und fragte lächelnd: »Hast Du gut geschlafen, mein Herz?«
Sie bemerkte, dass er jetzt »Du« zu ihr sagte und antwortete etwas verwirrt: »O ja, und Sie?«
»Ach, ausgezeichnet« sagte er. Und er wandte sich zu ihr und küsste sie; dann fing er ruhig an zu plaudern. Er setzte ihr seine Zukunftspläne auseinander und seine Ansichten über Sparen; letzteres Wort kam in seinen Ausführungen öfters vor und machte Johanna etwas erstaunt. Sie horchte auf seine Worte, ohne den Sinn richtig zu verstehen, sah ihn an, dachte an tausend vergangene Dinge, die ihm doch viel näher liegen mussten und ihn dabei gar nicht zu berühren schienen.
Es schlug acht Uhr.
»Jetzt müssen wir aber aufstehen«, sagte er, »man könnte sich sonst lustig machen, wenn wir so spät herunterkämen.«
Er stand zuerst auf. Als er seine Toilette beendet hatte, half er sorgfältig seiner Frau bei der ihrigen und duldete nicht, dass Rosalie gerufen wurde.
Schon im Begriff, herauszugehen, blieb er nochmals stehen:
»Wenn wir allein sind,« sagte er, »können wir uns schon duzen, weißt Du; aber in Gegenwart der Eltern wollen wir lieber noch etwas damit warten. Es macht sich von selbst, wenn wir von der Hochzeitsreise zurückkehren.«
Sie zeigte sich erst zur Stunde des Frühstücks.
Der Tag verlief im Übrigen, als hätte sich inzwischen nichts neues zugetragen. Nur eine Person mehr war im Hause; das war alles.
*
Vier Tage später fuhr die Postkutsche vor, in der sie die Reise nach Marseille antreten wollten.
Nach dem Schrecken der ersten Nacht hatte Johanna sich schon mehr und mehr an das Zusammenleben mit Julius, an seine Küsse und zärtlichen Liebesbezeugungen gewöhnt, wenn auch ihr Widerstreben gegen intimere Beziehungen sich immer noch nicht verloren hatte.
Sie fand ihn sehr schön und gut; sie liebte ihn von Herzen. Im Ganzen fühlte sie sich glücklich und zufrieden.
Der Abschied war kurz und verlief ziemlich schmerzlos. Nur die Baronin schien bewegt. Im Augenblick der Abfahrt drückte sie eine große wohlgefüllte Börse ihrer Tochter in die Hände.
»Für Deine kleinen Nebenausgaben« sagte sie.
Johanna steckte die Börse ein und die Pferde zogen an.
»Wie viel hat Dir Deine Mutter in der Börse zugesteckt?« fragte Julius sie gegen Abend.
Sie hatte schon gar nicht mehr daran gedacht und schüttete jetzt den Inhalt in ihren Schoss aus. Es war ein ganzer Haufen Gold: Zweitausend Francs.
»Ich werde da noch die schönsten Torheiten begehen« sagte sie die Hände zusammenschlagend. Dann steckte sie das Geld wieder ein.
Nachdem sie acht Tage bei einer wahren Gluthitze auf der Landstrasse gefahren waren, kamen sie glücklich in Marseille an.
Am anderen Morgen trug sie der »König Ludwig«, ein kleines Packetboot, welches über Ajaccio nach Neapel fuhr, an die Gestade Korsikas.
Korsika! mit seinen Makis! seinen Räubern! seinen Bergen! Das Vaterland Napoleons! Es kam Johanna vor, als verliesse sie die Welt der Wirklichkeit, um wachenden Sinnes das Land der Träume zu betreten.
Auf dem Verdeck nebeneinander sitzend sahen sie die Küste der Provence an ihren Augen vorüberziehen. Ruhig, unbeweglich, in prächtig azurner Färbung lag das Meer, wie zu einer festen Masse erstarrt, unter den heissen Sonnenstrahlen, die von dem tiefblauen Himmel herniedersanken.
»Erinnerst Du Dich noch unserer Fahrt damals im Boote des Papa Lastique?« fragte sie ihn.
Statt aller Antwort drückte er einen Kuss auf ihre Wange.
Die Schaufeln der Räder weckten das Wasser aus seinem stillen Traume. Ein langer schäumender Streifen erstreckte sich vom Hinterteil des Schiffes aus soweit das Auge reichte, und das geteilte Wasser brauste zu beiden Seiten auf wie Champagner.
Plötzlich schnellte vorn, nur einige Fadenlängen vor dem Schiff, ein riesiger Fisch aus dem Wasser, tauchte dann den Kopf unter und verschwand wieder gänzlich. Johanna war so erschreckt, dass sie mit einem Angstruf ihr Gesicht an Julius’ Brust verbarg. Dann musste sie selbst über ihre Furcht lachen und wartete gespannt, ob das Tier nicht wieder zum Vorschein kam. Nach einigen Minuten tauchte es wieder auf wie ein großes künstliches Spielzeug. Jetzt verschwand es wieder, kam abermals herauf; dann waren es ihrer zwei, dann drei, endlich sechs, welche um das Schiff herumzuhüpfen schienen, als wollten sie dem grösseren Gefährten, dem hölzernen Fisch mit den eisernen Flossen, das Geleit geben. Bald waren sie rechts, bald links, bald einzeln, bald zusammen, dann einer hinter dem anderen wie in lustiger Verfolgung beim tändelnden Spiel. Zuweilen schnellten sie sich mit einem großen Sprung in die Luft, um dann eins nach dem anderen wieder in einem großen Bogen ins Wasser zurückzufallen.
Johanna klatschte vor Vergnügen in die Hände, trotzdem sie jedes Mal beim Erscheinen der großen Fische aufs neue schauderte.
Plötzlich verschwanden sie. Man sah sie noch einmal ziemlich weit in der offenen See; dann kehrten sie nicht wieder. Johanna wurde eine Zeit lang ganz traurig über ihr Verschwinden.
Der Abend kam heran, ein ruhiger, milder, strahlender Abend voll Glanz und süssem Frieden. Luft und Wasser waren in stiller Ruhe, und diese unbegrenzte Ruhe des Meeres und des Himmels teilte sich auch dem Herzen mit.
Langsam versank die Sonne da drüben in der Gegend von Afrika, dem unsichtbaren heissen Afrika, dessen Glut man schon zu spüren glaubte, wenn nicht ein schmeichelnder kühler Luftzug, der jedoch keineswegs einem Windhauche glich, die Gesichter der Reisenden umspielt hätte, nachdem die Sonne untergegangen war.
Sie hatten keine Lust, in ihre Kabine herunterzugehen, die mit allen Düften eines Packetbootes angefüllt war. So wickelten sie sich denn beide dicht in ihre Mäntel ein und legten sich nebeneinander aufs Verdeck. Julius schlief sofort ein, während Johanna noch eine Weile unter den ungewohnten Reise-Eindrücken wach blieb.
Das gleichförmige Geräusch der Schaufelräder hielt sie wach, und sie betrachtete mit Interesse die Legion von Sternen, so hell, so klar und funkelnd, wie man sie eben nur am südlichen Himmel erblickt.
Gegen Morgen schlief sie indessen ein, bis ein Geräusch von Stimmen sie weckte. Die Matrosen reinigten unter einförmigem Gesange das Schiff. Sie rüttelte ihren immer noch regungslos schlafenden Mann und beide erhoben sich.
Mit Entzücken sog sie den salzigen Duft ein, der ihr bis in die Fingerspitzen drang. Rings umher sah sie nichts als Meer. Indessen da vorn zeigte sich etwas graues, noch unbestimmt in der Morgendämmerung; es sah aus wie einzelne aufgetürmte zackige zerrissene Wolken, die auf den Wogen zu lagern schienen.
Dann konnte man genauer unterscheiden; die Formen traten mehr hervor, je mehr der Himmel sich aufklärte. Eine lange Reihe sonderbar gezackter Berge erhob sich aus dem Meere. Es war Corsika, noch verhüllt in einer Art leichtem Nebelschleier.
Dahinter stieg langsam die Sonne auf. Anfangs lagen die Kämme der Berge noch in tiefem Schatten, dann schien es, als ob auf allen Gipfeln strahlende Lichter entzündet würden, während der untere Teil der Insel noch in dichtem Nebel lag.
Der Kapitän, ein altes gelbliches, von den scharfen salzhaltigen Winden vertrocknetes, verschrumpftes und ausgedörrtes, aber zähes Männchen wurde auf der Steuerbrücke sichtbar.
»Riechen Sie das, diesen Duft?« sagte er mit seiner durch dreissigjähriges Kommandieren rau gewordenen und im Gebrüll der Stürme verschlissenen Stimme.
In der Tat nahm sie einen eigentümlichen seltsamen Pflanzenduft von ungewöhnlicher Würze wahr.
»Das ist Corsika in der Blüte, Madame«, fuhr der Kapitän fort. »Es ist wie der Duft einer hübschen jungen Frau. Ich würde ihn noch nach zwanzig Jahren auf fünf Meilen Entfernung wiedererkennen. Ich stamme von dort. Er, da unten auf St. Helena, spricht wie es heisst, stets von dem Dufte seines Vaterlandes. Wir sind mit ihm verwandt.«
Und der Kapitän lüftete seinen Hut, grüsste Corsika und grüsste da unten, weit im Ozean den großen gefangenen Kaiser, der zu seiner Familie gehörte.
Johanna fühlte sich so bewegt, dass sie beinahe geweint hätte.
Dann breitete der Seemann die Arme gegen den Horizont aus.
»Die Blutsteine!« sagte er.
Julius stand neben seiner Frau und hielt sie umschlungen; beide schauten in die Ferne, um den angedeuteten Punkt zu erkennen.
Endlich bemerkten sie einige Felsen in Gestalt von Pyramiden, welche bald darauf das Schiff umfuhr, um in einen ungeheuren ruhigen Golf einzulaufen, der von zahlreichen hohen Gipfeln umsäumt war, deren grüne Hänge mit Moos bedeckt schienen.
»Die Makis!«1 sagte der Kapitän, auf die grünen Hänge deutend.
Je näher man kam, desto mehr schien sich der Kreis von Bergen hinter dem Schiff zusammenzuschliessen, welches langsam dahin glitt. Die azurblaue Flut war so klar, dass man fast bis auf den Grund sehen konnte.
Und plötzlich zeigte sich im Hintergrunde der Bucht am Rande der Wogen zu Füssen der Berge die weißschimmernde Stadt.
Einige kleine italienische Schiffe lagen im Hafen vor Anker. Vier oder fünf Barken umkreisten den »König Ludwig«, um seine Passagiere aufzunehmen.
»Was meinst Du«, sagte Julius, das Gepäck zusammenlegend, leise zu seiner Frau, »zwanzig Sous wird für den Träger wohl genug sein?«
Seit acht Tagen stellte er jeden Augenblick die gleiche Frage, die ihr schrecklich peinlich war.
»Wenn man nicht weiß, ob es genug ist, gibt man lieber etwas mehr«, sagte sie ziemlich ungeduldig.
Unaufhörlich handelte er mit Wirten und Kellnern, mit Kutschern und Geschäftsleuten aller Art. Wenn er dann mit Hilfe seiner Zungenfertigkeit einen billigeren Preis erzielt hatte, so sagte er zu Johanna, sich vergnügt die Hände reibend:
»Ich lasse mich nicht gern übers Ohr hauen.«
Sie zitterte jedes Mal, wenn sie die Rechnungen kommen sah, denn sie wusste, dass er zu jedem Posten seine Einwendungen machen würde. Sie fühlte sich durch diesen Krämergeist erniedrigt und errötete jedes Mal bis über die Ohren, wenn sie den missvergnügten Blick der Angestellten bemerkte, mit welchem dieselben aus der Hand ihres Mannes das stets sehr spärliche Trinkgeld empfingen.
Nun hatte er noch einen längeren Streit mit dem Barkenführer, der sie an Land brachte.
Der erste Baum, den sie sah, war eine Palme.
Sie stiegen in einem großen stattlichen Hotel an der Ecke eines geräumigen Platzes ab und liessen sich ein Frühstück servieren.
Als sie mit dem Nachtisch fertig waren und Johanna sich gerade erheben wollte, um ein wenig durch die Stadt zu streifen, schloss sie Julius in seine Arme und flüsterte ihr zärtlich zu:
»Wollen wir uns nicht etwas niederlegen, mein Schatz?«
»Uns niederlegen?« fragte sie überrascht. »Aber Ich bin durchaus nicht müde!«
»Aber ich möchte … Du weißt schon«, sagte er, »seit zwei Tagen! …«
»Ach, zu dieser Stunde?« stammelte sie schamrot. »Was wird man davon denken? Wie würdest Du den Mut finden, am hellen Tage ein Zimmer zu verlangen? Ach, Julius, ich bitte Dich!«
»Ich mache mir den Kuckuck daraus, was die Leute denken oder sagen werden«, unterbrach er sie. »Du wirst sehen, wie gleichgültig mir das ist.« Und er schellte.
Sie wagte nichts mehr einzuwenden und sass mit niedergeschlagenen Augen da; ihr Herz und ihr ganzes Gefühl sträubte sich gegen dieses unbezähmbare Verlangen ihres Gatten. Nur widerstrebend fügte sie sich in das Unvermeidliche, aber sie fühlte sich erniedrigt und herabgewürdigt durch ein Begehren, welches ihr tierisch und unendlich unrein vorkam.
Ihre Gefühle waren noch nicht erwacht und doch tat ihr Mann, als ob sie schon ganz sein Feuer teile.
Als der Kellner kam, verlangte Julius auf ihr Zimmer geführt zu werden. Der Mann, ein echter Corse, haarig bis an die Augen, schien anfangs nicht recht zu begreifen; er versicherte, dass das Zimmer für die Nacht bereit stehen werde.
»Nein, ich wünsche es sofort!« sagte Julius ungeduldig. »Wir sind müde von der Reise und wollen uns ausruhen!«
Ein Lächeln huschte über die bärtigen Lippen des Kellners. Johanna wäre am liebsten davongelaufen.
Als sie eine Stunde später wieder herunterkamen, wagten sie nicht, die Leute anzusehen, die an ihnen vorübergingen; sie glaubte ein Lächeln und Tuscheln hinter ihrem Rücken zu bemerken. Es war ihr unbegreiflich, wie Julius dafür kein Gefühl hatte; sie ärgerte sich, dass er nicht mehr Rücksicht und zartere Scham besass. Wie ein Schleier, wie eine Scheidewand, legte es sich zwischen ihr und ihm, als sie jetzt zum ersten Mal die Überzeugung fasste, dass zwei Personen sich niemals wirklich bis auf den Grund der Seele dringen, um dort die verborgensten Gedanken zu lesen; dass sie nebeneinander, eng an einander geschmiegt sogar, gehen können, aber niemals ganz miteinander vermengt sind und dass die Seele eines jeden doch sozusagen ihre eigenen Wege wandelt.
Drei Tage verbrachten sie in der kleinen Stadt am blauen Golfe, die hinter dem Bergvorhang von jedem kühlen Luftzug abgesperrt, vor Hitze beinahe kochte.
Dann entwarfen sie einen Reiseplan und beschlossen, um auch die schwierigsten Touren machen zu können, sich Pferde zu mieten. So nahmen sie also zwei kleine korsische Hengste mit feurigen Augen, zäh und unermüdlich, und begaben sich eines Morgens bei Tagesanbruch auf den Weg. Ein Führer auf einem Maulesel, der zugleich mit Proviant beladen war, bildete ihre Begleitung; denn auf Gasthäuser durften sie in dem unwirtlichen Lande nicht rechnen.