Dann kamen drei alte Chorsänger, von denen einer hinkte, dann der Organist, endlich der Pfarrer, die goldgestickte Stola über der Brust gekreuzt. Er wünschte lächelnd durch ein Neigen des Hauptes »Guten Morgen.« Dann folgte er mit halbgeschlossenen Augen, ein Gebet auf den Lippen, das Barett in die Stirn gedrückt, seinem Stabe, der sich nach dem Meere hin bewegte.
Am Strande umstand eine dichtgedrängte Menge eine neue blumengeschmückte Barke. Ihr Mast, die Segel, das Tauwerk, waren mit langen Bändern geschmückt, die im Winde flatterten. Am Steuerbord erglänzte in goldigen Buchstaben der Name »Johanna.«
Papa Lastique, der Patron dieses mit dem Gelde des Barons erbauten Schiffes trat aus der Menge vor. Alle Menschen entblössten beim Anblick des Kreuzes mit derselben Handbewegung gleichzeitig ihre Häupter und knieten in einer dreifachen Reihe nieder. Es war ein seltsamer Anblick: Alle diese Andächtigen, eingehüllt in die gleichartigen, weiten schwarzen Schultermäntel.
Der Pfarrer mit den beiden Chorknaben begab sich in das eine Ende des kleinen Fahrzeuges, während an dem anderen sich die drei alten Chorsänger aufstellten. Ihre weißen Chorhemden waren nicht mehr ganz sauber, das Kinn unrasiert; aber sie schauten mit ihrer wichtigsten Miene in das Gesangbuch und detonierten in Folge der klaren Morgenluft recht bedenklich.
Jedes Mal, wenn sie Atem schöpften, setzte der Küster allein seinen Gesang fort, und seine kleinen grauen Augen verschwanden fast hinter den dick aufgeblasenen Backen. Seine Stirn und sein Nacken waren von der Anstrengung so rot geworden, dass man hätte meinen können, die Haut wäre ihm dort abgezogen.
Das Meer selbst in seiner klaren unbeweglichen Ruhe schien an der Taufe seines Fahrzeuges Teil zu nehmen. Kaum eine leichte Regung des Wassers war zu bemerken, leise nur knirschte der Kies des Gestades unter den Wellen, die nicht ’mal eine Handbreit hoch waren. Und die großen weißen Möven zogen mit ausgebreiteten Schwingen ihre Kreise am blauen Himmel; bald schossen sie pfeilschnell davon, bald kamen sie langsam durch die Luft gesegelt auf die Menge der Andächtigen zu, als wollten sie schauen, was es da eigentlich gäbe.
Jetzt schloss der Gesang mit einem minutenlangen Amen und der Priester sprach mit tiefer Stimme ein lateinisches Gebet, von dem man im Allgemeinen nur die schärfer betonten Endsilben verstand.
Alsdann machte er einen Gang über die ganze Barke und besprengte sie mit Weihwasser; hierauf sprach er das Pater noster, wobei er an der Langseite des Schiffchens den Taufpaten gerade gegenüber stand. Diese blieben unbeweglich Hand in Hand.
Der junge Mann wenigstens behielt ganz seine ernste würdevolle Miene bei; aber die junge Dame wurde schliesslich doch von einer plötzlichen inneren Regung erfasst und fühlte sich so erschüttert, dass ihr die Zähne klapperten. Der Traum, der sie schon so lange verfolgte, nahm plötzlich eine feste Gestalt an; wenigstens glaubte sie seine Erfüllung vor sich zu sehen. Man hatte von einer Hochzeit gesprochen und ein Priester war da, um zu segnen; fromme Lieder und Gebete tönten zum Himmel. War das nicht in der Tat, als wenn es ihre Hochzeit wäre?
War das nervöse Zucken ihrer Hand, der erregte Schlag ihres Herzens durch ihre Adern zum Herzen ihres Nachbarn gedrungen? Verstand er sie, erriet er ihre Gedanken; wurde er wie sie von einem Gefühl zärtlichster Liebe beseelt? Oder wusste er nur aus Erfahrung, dass kein weibliches Wesen ihm zu widerstehen vermochte? Sie fühlte plötzlich, wie er ihre Hand drückte, anfangs ganz sanft, dann immer stärker, sodass sie fast hätte aufschreien mögen. Und ohne im Mindesten seinen ernsten Gesichtsausdruck zu verändern, sodass niemand es bemerkte, sagte er zu ihr, ja, er sagte es ganz deutlich:
»Ach, Johanna, wenn Sie wollten, könnte das unsere Verlobungsfeier werden!«
Sie neigte ganz langsam das Haupt, sodass es wie ein leises »Ja« gelten konnte; und in diesem Augenblicke fielen einige Tropfen des Weihwassers, womit der Priester sie besprengte, auf ihre zusammengepressten Hände.
Die Zeremonie war beendigt. Die Frauen erhoben sich von den Knien. Der Rückweg wurde in Unordnung angetreten. Der Chorknabe trug das silberne Kreuz nicht mehr feierlich; dasselbe schwankte in seinen Händen bald nach rechts und links, bald neigte es sich vornüber, sodass man fürchten musste, es fiele hin. Der Pfarrer eilte jetzt ohne Gebet hinter dem Knaben drein; die Chorsänger verschwanden in einer Seitengasse, um sich schneller ausziehen zu können, und auch die Fischer stürmten gruppenweise davon. Sie empfanden schon im Voraus etwas wie einen guten Küchenduft, der ihnen von der Nase bis zum Magen drang, sodass ihnen das Wasser im Munde zusammenlief und ein leichtes kollerndes Geräusch in ihrem Innern ertönte.
In Peuples erwartete sie nämlich ein gutes Frühstück.
Auf dem Hofe unter den Obstbäumen war eine große Tafel gedeckt, an der sechzig Personen, Fischer und Landleute, Platz nahmen. Die Baronin, welche in der Mitte sass, hatte die beiden Pfarrer von Yport und Etouvent rechts und links neben sich. Der Baron sass ihr gegenüber zwischen dem Maire und dessen Gattin. Es war dies eine magere, bereits etwas bejahrte Frau von ländlichen Sitten, die nach allen Seiten lebhaft grüsste. Ihr schmales runzeliges Gesicht war ganz in ihrer großen normännischen Mütze versteckt; ein richtiges Hühnergesicht mit einem weißen Kamm darüber, unter dem ein rundes Auge stets verwundert und neugierig in die Welt schaute. Sie ass mit kleinen hastigen Schlucken, als hätte sie mit ihrer Nase auf dem Teller gepickt.
Johanna schwelgte an der Seite des Vicomte im vollen Glücke. Sie sah und hörte nichts; schweigend gab sie sich ihren seligen Gedanken hin.
»Wie ist doch Ihr Vorname?« fragte sie endlich den Vicomte.
»Julius«, sagte er, »das wussten Sie nicht?«
Aber sie gab keine Antwort. »Wie oft werde ich mir diesen Namen im Stillen wiederholen« war das einzige, was sie dachte.
Als das Mahl beendet war, überliess man den Hof den Fischern und Landleuten; die Übrigen begaben sich an die andere Seite des Schlosses. Die Baronin schickte sich, auf den Gatten gestützt und von den beiden Geistlichen begleitet, zu »ihrer Übung« an, während Johanna und Julius zu dem Bosquet gingen. Kaum hatten sie die verschlungenen Pfade desselben betreten, als der Vicomte ihre Hand ergriff und zu ihr sagte:
»Johanna, wollen Sie meine Gattin werden?« Anfangs senkte sie das Köpfchen; als aber der Vicomte sie nochmals fragte: »Antworten Sie mir, ich bitte Sie«, da hob sie sanft die Augen zu ihm auf und er konnte die Antwort in ihrem Blicke lesen.
*
Eines Morgens, noch ehe Johanna aufgestanden war, trat der Baron in ihr Zimmer und setzte sich zu Füssen des Bettes.
»Der Vicomte de Lamare hat um Deine Hand bei uns angehalten«, sagte er feierlich.
Sie hätte am liebsten das Gesicht unter der Decke versteckt.
»Wir haben unsere Antwort noch etwas verschoben.«
Johanna atmete kaum noch vor innerer Erregung.
»Wir wollten nämlich keine Entscheidung ohne Dich treffen«, fuhr der Baron nach einer kurzen Pause lächelnd fort. »Deine Mutter und ich haben gegen diese Heirat nichts einzuwenden, ohne Dich indes zwingen zu wollen. Du bist viel reicher wie er; aber wenn es sich um das Glück des Lebens handelt, muss man nicht nach dem Gelde schauen. Er hat keine Eltern mehr; wenn Du ihn heiraten solltest, so würde er als Sohn in unsere Familie eintreten. Bei einem anderen wäre es umgekehrt; da würdest Du, unser Kind, zu fremden Leuten gehen. Der junge Mann gefällt uns. Ich weiß nicht, ob er Dir gefällt …?«
»Ach ja, Papa!« stammelte sie, über und über rot.
»Ich war mir noch nicht ganz klar darüber« sagte ihr Vater, nachdem er ihr eine Weile, immer lächelnd, tief in die Augen gesehen hatte.
Sie lebte bis zum Abend in einem Taumel, ohne zu wissen, was sie tat. Mechanisch nahm sie bald diesen, bald jenen Gegenstand zur Hand; in all ihren Gliedern fühlte sie eine weiche Erschlaffung, ohne dass sie einen grösseren Spaziergang gemacht hätte.
Gegen sechs Uhr, als sie mit der Mutter unter der großen Platane sass, erschien der Vicomte.
Johannas Herz klopfte zum Zerspringen. Der junge Mann näherte sich ihnen, ohne besonders erregt zu scheinen. Als er vor ihnen stand, ergriff er die Hand der Baronin und führte sie an die Lippen. Dann nahm er die Johannas und drückte einen langen Kuss voll Zärtlichkeit und Dankbarkeit darauf …
Und nun begann die wunderbare Zeit des Brautstandes. Sie plauderten zusammen in irgend einer Ecke des Salons oder auf der Rasenbank hinten im Bosquet, vor sich die weite Heide.
Zuweilen spazierten sie mit der Mama in »ihrer Allee« und sprachen von der Zukunft, wobei Johanna nachdenklich den Blick auf die staubigen Fussspuren der Mutter heftete.
Nachdem die Sache nun einmal entschieden war, wollte man auch den Ausgang beschleunigen. So kam man überein, dass in sechs Wochen, am 15. August, die Vermählung stattfinden sollte und gleich darauf das junge Paar seine Hochzeitsreise antreten würde. Johanna, um ihre Ansicht gefragt, entschied sich dafür, dass man Korsika besuchen wolle. Dort würde man ungestörter sein, als in den vielbesuchten und belebten Städten Italiens.
Sie erwarteten den festgesetzten Tag ihrer Verbindung ohne allzu große Ungeduld, aber beseelt und getragen von einer innigen Zärtlichkeit. Sie durchkosteten alle die zahllosen kleinen Freuden des Brautstandes, die Händedrücke, die liebevollen langen Blicke, bei denen die Seelen sich in einander zu verschmelzen scheinen. Nur hin und wieder hegten beide das heftige Verlangen nach Beendigung dieser Zeit, um sich dann ganz angehören zu können.
Es wurde beschlossen, Niemanden zur Hochzeit einzuladen ausser der Tante Lison, der Schwester der Baronin, die als eine Art Pensionärin in einem Kloster bei Versailles lebte.
Nach dem Tode ihres Vaters hatte die Baronin ihre Schwester zu sich nehmen wollen; aber das ältliche Fräulein hatte die fixe Idee, dass es aller Welt zur Last sei, dass es zu Nichts zu gebrauchen und nirgend gern gesehen wäre. So zog es sich in eines jener Ordenshäuser zurück, die einsam und allein stehenden Personen Zimmer vermieten.
Von Zeit zu Zeit brachte sie ein oder zwei Monate in der Familie zu.
Sie war klein von Statur, sprach sehr wenig, zog sich sehr zurück und erschien eigentlich nur bei den Mahlzeiten, nach denen sie sofort wieder verschwand, um sich die übrige Zeit auf ihrem Zimmer einzuschliessen.
Ihr Gesichtsausdruck deutete auf Herzensgüte. Trotz ihrer zweiundvierzig Jahre machte sie aber einen viel älteren Eindruck. Ihr Blick war sanft und traurig; sie war von jeher in der Familie als eine Null betrachtet worden.
Als Kind war sie weder hübsch noch anziehend; niemand gab ihr einen Kuss. Ruhig und bescheiden hockte sie in ihrem Winkel. Seitdem war sie unbeachtet geblieben, selbst als junges Mädchen.
Sie war so eine Art Familien-Anhängsel, ein lebendes Möbel, welches man jedes Jahr zu sehen gewohnt war, um das sich aber im Übrigen niemand groß kümmerte.
Ihre Schwester betrachtete sie gleich allen im Elternhause, wie ein etwas schwachsinniges, durchaus unbedeutendes Wesen. Man behandelte sie mit ungezwungener Vertraulichkeit, in der aber manchesmal etwas herablassende Güte lag. Sie hiess Liese, aber dieser schmucke jugendliche Name schien ihr selbst mitunter unbequem zu sein. Als man sah, dass sie keinen Mann fand und auch wohl sicher war, dass sie niemals einen finden würde, taufte man sie in Lison um. Seit Johannas Geburt war sie zur »Tante Lison« avanciert. Aber sie blieb die unbedeutende überall zurückgesetzte Verwandte, die sich vor Allen fürchtete, selbst vor ihrer Schwester und ihrem Schwager, obgleich diese ihr zugetan waren. Es fehlte dieser Zuneigung indessen der warme herzliche Ausdruck; sie hatte vielmehr etwas von Mitleid und natürlichem Wohlwollen an sich.
Wenn die Baronin zuweilen von fernliegenderen Ereignissen aus ihrer Jugendzeit sprach, bemerkte sie zur Bezeichnung eines Datums: »Das war, als Lison ihren Einfall hatte.« Man sprach nie mehr darüber; und so blieb dieser »Einfall« stets in ein gewisses Dunkel gehüllt.
Eines Abends nämlich hatte Lise, als sie ungefähr zwanzig Jahr alt war, sich ins Wasser gestürzt, ohne dass man den Grund dafür erraten konnte. Nichts in ihrer Lebensweise, in ihrem ganzen Gebaren ließ dieses Ereignis vorhersehen. Halbtot hatte man sie aus dem Wasser gezogen, und die Eltern hoben erstaunt und entrüstet die Arme in die Höhe. Aber statt nach der geheimnisvollen Ursache dieses Schrittes zu forschen, beschränkten sie sich darauf, von Lises »Einfall« zu sprechen, wie sie von dem Unfall des Pferdes »Coco« sprachen, das kurz vorher in einem Wagegeleise das Bein gebrochen hatte und infolgedessen getötet werden musste.
Seitdem galt Lise und später Lison als schwachsinnig. Die milde Herablassung, mit der ihre Verwandten sie behandelten, übertrug sich langsam auch auf ihre sonstige Umgebung. Selbst die kleine Johanna hatte in ihrer Jugend mit dem natürlichen Instinkt der Kinder bald heraus, dass es sich nicht lohne, ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Niemals kam sie auf ihr Zimmer, niemals schmiegte sie sich zärtlich an sie, oder stieg sie auf ihr Bett, um sie zu küssen. Nur die Kammerzofe Rosalie, welche ihr Zimmer besorgte, schien zu wissen, wo ihr Bett stand.
Wenn Tante Lison zum Frühstück im Speisezimmer erschien, so ging die Kleine gewohnheitsmässig hin, um ihr die Stirn zum Kusse zu bieten; aber das war auch so ziemlich alles.
Wenn man sie sprechen wollte, so schickte man einen Dienstboten um sie. Im Übrigen beschäftigte man sich in ihrer Abwesenheit nicht viel mit ihr. Niemals wurde an sie gedacht und niemals würde man gehört haben, dass jemand etwa mit Besorgnis gefragt hätte: Wo nur Lison diesen Morgen bleibt?
Sie füllte eben keinen Platz im Leben aus; sie war eines jener Wesen, die selbst ihren Anverwandten fremd bleiben, weil sich niemand die Mühe gibt, sie zu erforschen. Ihr Tod hätte keine Lücke im Familienkreise zurückgelassen; sie verstand es weder sich in das Leben, noch in die Gewohnheit, noch selbst in die Zuneigung jener einzuführen, welche mit ihr zusammen lebten.
Wenn von »Tante Lison« die Rede war, so berührten diese Worte sozusagen keine wärmere Stelle in Jemandes Herzen. Es war gerade so, als wenn vom »Cafétier« oder vom »Zuckerbäcker« die Rede gewesen wäre.
Sie ging stets mit kurzen leisen Schritten, ohne Geräusch zu machen, stiess nirgends an oder schien doch wenigstens die Eigenschaft zu haben, keinem Gegenstand einen Ton zu entlocken. Ihre Hände mussten wie von Watte sein; so zart und leicht behandelte sie alles, was sie anfasste.
Gegen Mitte Juli traf sie dieses Mal in Peuples ein, ganz überrascht durch den Gedanken an diese Heirat, und mit Geschenken beladen, die, weil von ihr herrührend, fast unbeachtet blieben. Seit dem Montage, wo sie angekommen war, wusste man kaum, dass sie da sei.
Aber in ihrem eigenen Innern vollzog sich eine aussergewöhnliche Bewegung, und sie wandte ihre Augen kaum von dem Brautpaare. Mit ganz eigentümlicher, fast fieberhafter Energie widmete sie sich dem Trousseau Johannas und arbeitete wie eine einfache Nähmamsell den ganzen Tag daran auf ihrem Zimmer, wohin niemand kam, sich nach ihr umzusehen.
Jeden Augenblick brachte sie der Baronin selbstgesäumte Taschentücher, Servietten, in denen sie die Monogramme eingestickt hatte und fragte: »Ist das gut so, Adelaïde?« Und indem die Baronin alles mit gleichgültiger Miene musterte, antwortete sie: »Gib Dir doch nicht so viel Mühe, Lison!«
Einstmals gegen Ende des Monats stieg nach einem sehr heissen Tage der Mond in einer jener klaren lauen Sommernächte auf, welche unwillkürlich zum Herzen gehen und zärtliche Regungen, wundersame Gefühle, mit einem Wort die ganze geheime Poesie der Seele in demselben erwecken. Von den Feldern her drang ein lauer würziger Duft in den Salon. Die Baronin und ihr Gatte spielten beim Lampenlicht eine Partie Karten; Tante Lison sass bei ihnen und häkelte, während die jungen Leute vom Fenster aus den in voller Klarheit daliegenden Garten betrachteten. Die Linde und die Platane warfen ihre Schatten auf den großen Rasenplatz, der sich mit seinem fahlen Schimmer bis zu dem ganz dunklen Bosquet dahinter ausdehnte.
Der sanfte Reiz dieser Nacht mit der duftigen Beleuchtung von Bäumen und Häusern zog Johanna mächtig an.
»Mama, wir möchten einen Gang auf dem Rasen hier vorn machen«, wandte sie sich zu ihren Eltern.
»Geht nur, liebe Kinder«, sagte der Baron, ohne von seinem Spiel aufzusehen.
Sie gingen fort und wandelten langsam auf der großen lichten Fläche bis zum kleinen Gehölz im Hintergrunde.
Die Zeit verrann, ohne dass sie an die Rückkehr dachten. Die Baronin spürte Müdigkeit und wünschte zu Bett zu gehen.
»Wir möchten doch unser Pärchen hereinrufen«, meinte sie.
Der Baron ließ seinen Blick durch den großen Park schweifen, wo die beiden Schatten sanft dahinglitten.
»Lasst sie nur«, entgegnete er, »es ist so hübsch da draussen. Lison wird schon auf sie warten; nicht wahr, Lison?«
Das alte Fräulein schlug die Augen ängstlich auf und sagte mit furchtsamen Tone:
»Gewiss, ich werde schon warten.«
Papachen stützte die Baronin.
»Ich werde mich auch schlafen legen«, sagte er, von der Hitze des Tages selbst etwas angegriffen.
Nun erhob sich Tante Lison ihrerseits, legte die angefangene Arbeit, ihre Wolle und die große Häkelnadel auf einen Sessel und beugte sich zum Fenster in die liebliche Sommernacht hinaus.
Die beiden Verlobten gingen ohne Unterlass über den Rasen vom Bosquet zur Rampe und von der Rampe wieder zum Bosquet. Sie drückten sich die Hände ohne viel zu sprechen, gleich als ob die Seele den Körper verlassen hätte, um sich mit dem poetischen Reiz dieser klaren Sommernacht zu verschmelzen.
Plötzlich bemerkte Johanna die Gestalt des alten Fräuleins, welche sich von der Helle des Zimmers deutlich im Fensterrahmen abhob.
»Sieh nur«, sagte sie, »Tante Lison beobachtet uns!«
»Ja, Tante Lison beobachtet uns«, sagte der Vicomte nach einem flüchtigen Blicke, gedankenlos, mit gleichgültigem Tone.
Und sie setzten traumverloren ihren Spaziergang fort.
Als der Tau zu fallen begann und es merklich kühler wurde, sagte sie:
»Wir wollen doch lieber hereingehen.«
Und sie kehrten heim.
Als sie den Salon betraten, sass Tante Lison wieder bei ihrer Häkelei, den Kopf tief über ihre Arbeit gebeugt. Ihre mageren Finger zitterten leicht wie von Übermüdung.
»Es wird Zeit zum Schlafengehen, Tante«, sagte Johanna, sich ihr nähernd.
Das alte Fräulein schlug die Augen auf; sie waren wie vom Weinen gerötet. Die Verlobten hatten kein Acht darauf; vielmehr betrachtete der junge Mann mit ängstlichem Blick die feinen Schühchen seiner Braut, die ganz mit Tau bedeckt waren.
»Hast Du nicht kalt an Deinen lieben kleinen Füsschen?« fragte er zärtlich.
Die Finger der Tante wurden plötzlich von so heftigem Zittern befallen, dass ihr die Arbeit entsank; der Wollknäuel rollte weit über das Parkett. Sie barg das Gesicht in den Händen und begann plötzlich krampfhaft zu schluchzen.
Erstaunt sahen die beiden Verlobten sie an, ohne ein Wort zu sagen. Dann aber sank Johanna auf die Knie, umschlang sie mit ihren Armen und fragte tief ergriffen:
»Aber was hast Du nur, Tante Lison; was fehlt Dir doch nur?«
»Ach, als er Dich fragte«, stammelte die Ärmste mit tränenerstickter Stimme und konvulsivischem Zucken, »ob Du … an … Deinen … lieben … kleinen … Füssen … nicht kalt hättest … Mir hat man … so etwas … nie gesagt … ach nie … nie …!«
Johanna war so überrascht von diesem Gefühlsausbruch, dass sie bei dem Gedanken an einen Liebhaber, der Tante Lison Zärtlichkeiten zuflüsterte, erbarmungslos beinahe laut aufgelacht hätte. Der Vicomte wandte sich ab, um seine Heiterkeit zu verbergen.
Dann erhob sich die Tante plötzlich, ließ ihre Arbeit im Stich und suchte im Dunkeln mit tastenden Schritten die Treppe zu ihrem Zimmer.
Allein gelassen, sahen sich die beiden jungen Leute lustig und zärtlich zugleich an.
»Die arme Tante! …« murmelte Johanna.
»Sie muss heute Abend nicht ganz bei Trost sein«, meinte Julius.
Es wurde ihnen schwer sich zu trennen; sie drückten sich immer wieder die Hände, und leise, ganz leise gaben sie sich den ersten Kuss vor dem großen Sessel, den Tante Lison soeben verlassen hatte.
Am anderen Tage dachten sie schon nicht mehr an die Tränen des alten Fräuleins.
Die beiden letzten Wochen vor der Hochzeit verbrachte Johanna ziemlich still und ruhig, als wenn sie von den süssen Regungen des Brautstandes ermüdet sei.
Am Morgen des entscheidenden Tages war es ihr nicht mehr möglich, über irgendetwas klare Gedanken zu fassen. Sie fühlte etwas wie eine große Leere in ihrem ganzen Körper; es war, als ob ihr ganzes Innere, ihr Herz, ihr Hirn, ihre Gebeine selbst den Dienst versagten. Wenn sie etwas anfasste, so fühlte sie, dass sie heftig zitterte.
Erst im Chor der Kirche vor Beginn des Gottesdienstes fand sie ihre Selbstbeherrschung wieder.
Verheiratet! So war sie also verheiratet! Alles was sie seit Tagesanbruch gedacht, erlebt und empfunden hatte, erschien ihr wie ein Traum. In solchen Momenten kommt einem alles wie ausgewechselt vor; die Bewegungen und Mienen gewinnen eine andere Bedeutung, ja selbst die Stunden scheinen nicht mehr in der richtigen Reihenfolge zu sein.
Sie war verwirrt und über alles erstaunt. Am Abend vorher war noch alles beim Alten gewesen; höchstens hatte sie gefühlt, dass das, was sie erhoffte, nun ganz nahe, beinahe greifbar sei. Als junges Mädchen war sie eingeschlafen, jetzt war sie eine junge Frau.
Sie hatte also die Schranke überschritten, jenseits welcher die Zukunft mit all’ ihren Freuden, all’ ihrem erträumten Glücke lag. Vor ihr schien eine Tür offen zu stehen; sie trat durch dieselbe ein in das erwartete Paradies.
Die Feierlichkeit war zu Ende. Da niemand eingeladen war, so betraten sie fast allein die Sakristei.
Als sie beim Verlassen der Kirche unter dem Portale erschienen, stutzte die junge Frau vor einem mächtigen Krach, der die Luft erschütterte und der Baronin einen Schrei erpresste. Die Landleute hatten eine Salve abgefeuert, deren Widerhall, immer wieder durch neue Schüsse geweckt, sich bis zum Schlosse Peuples fortsetzte.
Für die Familie, die beiden Pfarrer, den Maire und einige Zeugen, die man unter den grösseren Gutsbesitzern der Umgegend ausgesucht hatte, war im Schlosse ein Frühstück angerichtet.
Nach demselben wurde vor dem Diner ein Spaziergang gemacht; der Baron, die Baronin, Tante Lison, der Maire und der Abbé Picot durchwanderten die Allee der Mama, während in der gegenüberliegenden der andere Pfarrer, mit großen Schritten auf- und abwandelnd, sein Brevier betete.
Von der anderen Seite des Schlosses vernahm man den ausgelassenen Jubel der Landleute und Fischer, die unter den Obstbäumen mit Cider regaliert wurden. Die ganze Umgegend war hier im Sonntagsstaat versammelt; die Burschen und jungen Mädchen trieben allerlei muntere Spiele.
Johanna und Julius gingen zusammen durch das Bosquet, stiegen die kleine Anhöhe hinan und betrachteten das ausgebreitete Meer. Trotz der Augustsonne wehte ein kühles Lüftchen; aber der Himmel erglänzte in lichtem reinen Blau.
Die jungen Leutchen durchschritten die Heide, um zu dem lieblichen Tale zu gelangen, welches sich mit seinem Gehölz bis Yport erstreckte. Sobald sie dasselbe betreten hatten, war kaum noch ein Luftzug zu verspüren. Sie verliessen den Hauptweg und verfolgten einen schmalen Pfad, der sich unter dem Gebüsch verlor. Es war hier kaum noch Platz für Zweie und Johanna fühlte plötzlich, wie ein Arm sich langsam um ihre Taille legte.
Sie sagte nichts; nur ihr kurzer Atem und das Klopfen ihres Herzens gaben Kunde von ihren Gefühlen. Die niedrigen Zweige streiften ihre Stirn, sodass sie dieselben oftmals zur Seite biegen mussten. Als sie ein Blatt abgerissen hatte, bemerkte sie unter demselben ein Paar Muttergotteskäferchen, die sich wie zwei kleine rote Schnecken dort festgeklammert hielten.
»Sieh’ mal, Mann und Frau!« sagte sie unschuldig.
»Heute Abend wirst Du auch meine Frau sein« flüsterte Julius ihr ins Ohr.
Obschon sie während ihres Lebens auf dem Lande schon manches gesehen und gehört hatte, fasste sie doch noch die Liebe rein von der poetischen Seite auf. Seine Worte überraschten sie. Seine Frau? war sie das denn nicht schon?
Jetzt überhäufte er sie plötzlich mit unzähligen Küssen auf Stirn und Nacken, dort wo ihre Haare anfingen. Unter dem Eindruck dieser ungewohnten stürmischen Zärtlichkeit eines Mannes neigte sie unwillkürlich den Kopf zur Seite, um den Küssen auszuweichen, die ihr aber doch so wohl taten.
Sie befanden sich jetzt am Rande des Gehölzes. Erschreckt über die weite Entfernung vom Hause blieb Johanna stehen. Was sollte man nur denken?
»Lass uns umkehren« sagte sie.
Er zog den Arm von ihrer Taille fort, und indem sie sich umwandten, standen sie beide so nahe gegenüber, dass sie fast ihren Atem spürten. Sie sahen sich an und zwar mit einem jener starren Blicke, die alles durchdringen und der Verschmelzung zweier Seelen gleichen. Ihre Herzen suchten sich in ihren Augen, hinter denselben, als wollten sie ein Wesen ergründen, das ihnen noch unbekannt, undurchdringlich bis dahin geblieben war. Sie prüften sich gegenseitig mit dieser stummen aber doch so ausdrucksvollen Frage. Was würden sie sich sein? Wie würde sich das Leben gestalten, das sie jetzt miteinander begannen? Welche Freuden, welches Glück oder welche Enttäuschung würde eins dem anderen in diesem langen Zusammensein einer unlöslichen Ehe bereiten? Und es schien ihnen beiden, als hätten sie sich vorher noch nie gesehen.
Plötzlich legte Julius beide Hände auf die Schultern seiner Frau und drückte einen vollen Kuss auf ihre Lippen, wie sie ihn bis da noch nicht empfangen hatte. Er weilte nicht auf ihren Lippen, dieser Kuss, er pflanzte sich durch ihr ganzes Innere fort, durch Mark und Bein. Sie fühlte einen solchen geheimnisvollen Schauer, dass sie halb von Sinnen mit beiden Armen Julius zurückdrängte, wobei sie beinahe hintenüber gefallen wäre. »Lass uns gehen, lass uns gehen« stammelte sie verwirrt.
Er antwortete nichts und ergriff ihre beiden Hände, die er den ganzen Weg über nicht wieder losliess.
Bis zu Hause wechselten sie kein Wort mehr. Der Rest des Nachmittags erschien ihnen sehr lang.
Gegen Abend setzte man sich zu Tische. Das Diner war, ganz gegen die sonstigen Gebräuche in der Normandie, kurz und einfach. Es lag wie eine Art Verlegenheit auf allen Teilnehmern. Nur die beiden Pfarrer, der Maire und die vier geladenen Landleute zeigten einigermassen eine gewisse ausgelassene hochzeitliche Stimmung.
Wenn sie zu lachen aufhörten, so reizte sie ein Witz des Maires aufs Neue dazu. Gegen neun Uhr ungefähr nahm man den Kaffee ein. Draussen unter den Obstbäumen im ersten Hofe begann der ländliche Reigen. Durch die offenen Fenster konnte man den Festplatz übersehen. An den Bäumen waren Papierlaternen aufgehängt und liessen den ganzen Raum in grünlich-gelbem Lichte erschimmern. Männlein und Weiblein hüpften beim Klange eines eigenartigen normannischen Liedes in der Runde, zu dem zwei Violinen und eine Klarinette auf einem als Tribüne dienenden Küchentische eine etwas dünne Begleitung spielten. Der laute Gesang der Tanzenden übertönte vollständig die Instrumente; nur hin und wieder klangen ihre mageren Töne durch das Gejohle hindurch, als wenn sie von Oben her dazu aufspielten.