Buch lesen: «Guy de Maupassant – Gesammelte Werke», Seite 12

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Das Kind sah ihn er­staunt an. Ma­da­me de Ma­rel­le sag­te la­chend: »Ant­wor­te: heu­te möch­te ich es schon, denn im­mer geht das nicht.«

Du­roy setz­te sich so­fort hin, zog Lau­ri­ne auf sein Knie und streif­te die zar­ten, wol­li­gen Haa­re des Kin­des mit den Lip­pen.

Die Mut­ter war er­staunt: »Wie, sie ist nicht da­von­ge­lau­fen? Das ist ja son­der­bar. Sonst lässt sie sich nur von Frau­en küs­sen. Sie müs­sen un­wi­der­steh­lich sein, Herr Du­roy.«

Er wur­de rot, ant­wor­te­te nichts und schau­kel­te mit ei­ner leich­ten Be­we­gung das klei­ne Mäd­chen auf den Kni­en.

Ma­da­me Fo­res­tier trat zu ihm und stieß einen Ruf des Er­stau­nens aus: »Schau, ein Wun­der, Lau­ri­ne ist ge­zähmt.«

Jaques Ri­val trat mit der Zi­gar­re im Mun­de her­an und Du­roy ver­ab­schie­de­te sich, um durch ir­gend­ein un­ge­schick­tes Wort den gu­ten Ein­druck, den er ge­macht hat­te, nicht wie­der zu zer­stö­ren und das be­gon­ne­ne Erobe­rungs­werk in Fra­ge zu stel­len.

Er ver­beug­te sich, drück­te leicht die klei­nen Frau­en­hän­de, die sich ihm ent­ge­gen­streck­ten, und schüt­tel­te kräf­tig den Her­ren die Hand. Es fiel ihm da­bei auf, dass Jaques Ri­vals Hand heiß und tro­cken war und sei­nen Druck herz­lich er­wi­der­te, wäh­rend die Hand Nor­bert de Va­ren­nes feucht und kalt war und sich kaum fas­sen ließ. Va­ter Wal­ters Hand war kühl und weich, ohne Ener­gie und Aus­druck, die Fo­res­tiers fett und warm. Sein Freund flüs­ter­te ihm zu:

»Mor­gen um drei. Ver­giss nicht!«

»O nein, sei un­be­sorgt!«

Als er sich wie­der auf der Trep­pe be­fand, war sei­ne Freu­de so groß, dass er am liebs­ten hin­ab­ge­lau­fen wäre. Er nahm im­mer zwei Stu­fen auf ein­mal.

Plötz­lich er­blick­te er in dem großen Spie­gel des zwei­ten Stockes einen über­ei­li­gen Herrn, der auf ihn zu­ge­sprun­gen kam. Be­schämt blieb er ste­hen, als hät­te man ihn auf ei­ner Dumm­heit er­tappt. Dann be­trach­te­te er sich lan­ge Zeit aufs höchs­te ver­wun­dert, dass er wirk­lich ein so hüb­scher Kerl war. Freund­lich lä­chel­te er sich zu und ver­ab­schie­de­te sich dann von sei­nem Eben­bild mit ei­nem tie­fen, fei­er­li­chen Gruß, wie man eine hoch­ge­stell­te Per­sön­lich­keit grüßt.

III.

Ge­or­ges Du­roy be­fand sich wie­der auf der Stra­ße und über­leg­te, was er tun soll­te. Er hat­te Lust zu lau­fen, zu träu­men, im­mer­fort zu ge­hen, an sei­ne Zu­kunft zu den­ken und die mil­de Nacht­luft ein­zuat­men; doch der Ge­dan­ke an die Ar­ti­kel­se­rie, die Va­ter Wal­ter be­stellt hat­te, gab ihm kei­ne Ruhe, und er be­schloss, so­fort nach Hau­se zu ge­hen und sich an die Ar­beit zu set­zen. Mit ei­li­gen Schrit­ten ging er wei­ter, er­reich­te den äu­ße­ren Bou­le­vard und ge­lang­te end­lich in die Rue Boursault, wo er wohn­te. Sei­ne Woh­nung be­fand sich in ei­nem sechs­stö­cki­gen Haus, das von etwa zwan­zig Ar­bei­ter- und Klein­bür­ger­fa­mi­li­en be­völ­kert war. Er stieg die Trep­pe hin­auf und be­leuch­te­te mit Wachss­treich­höl­zern die schmut­zi­gen Stu­fen, auf de­nen Pa­pier­fet­zen, Zi­gar­ren­stum­mel und Kü­chen­ab­fäl­le her­um­la­gen. Er emp­fand ein wi­der­wär­ti­ges Ge­fühl und einen Drang, so rasch als mög­lich von hier fort­zu­kom­men und so zu woh­nen, wie es die rei­chen Leu­te tun, in sau­be­ren Woh­nun­gen mit schö­nen Tep­pi­chen. Ein schwe­rer Ge­ruch von Spei­se­res­ten, Un­rat und un­sau­be­rer Men­sch­lich­keit, ein sta­gnie­ren­der Duft von Fett und Mau­ern, den kein fri­scher Luft­zug ver­trei­ben konn­te, er­füll­te das Haus von oben bis un­ten.

Das Zim­mer des jun­gen Man­nes lag im fünf­ten Stock und ging wie auf einen tie­fen Ab­grund, auf den wei­ten Ein­schnitt der West­bahn, ge­ra­de ober­halb der Tun­ne­lein­fahrt, vor dem Bahn­hof Ba­ti­gnol­les, hin­aus. Du­roy öff­ne­te das Fens­ter und lehn­te sich auf das ver­ros­te­te, ei­ser­ne Fens­ter­brett.

Un­ter ihm glüh­ten in der Tie­fe der fins­te­ren Wöl­bung drei rote, un­be­weg­li­che Si­gnal­la­ter­nen wie große, feu­ri­ge Raub­tierau­gen, und wei­ter, im­mer wei­ter, sah er im­mer noch an­de­re Lich­ter. Fort­wäh­rend gell­ten lan­ge und kur­ze Pfif­fe durch die Nacht, die einen nahe, die an­de­ren kaum hör­bar in der Rich­tung nach As­nie­res. Sie klan­gen wie mensch­li­che, ru­fen­de Stim­men. Ei­ner kam nä­her und nä­her, sein kla­gen­der Ton klang von Se­kun­de zu Se­kun­de lau­ter; plötz­lich blitz­te ein großes gel­bes Licht auf, das lär­mend da­hin­roll­te, und Du­roy sah die lan­ge Wa­gen­rei­he in der Tun­nel­mün­dung ver­schwin­den.

Dann sag­te er zu sich: »Also an die Ar­beit«, und stell­te das Licht auf den Tisch. Doch wie er sich hin­set­zen woll­te, um zu schrei­ben, be­merk­te er erst, dass er nur eine Schach­tel Brief­pa­pier hat­te.

»Das ist kein Un­glück«; er half sich, in­dem er die Bo­gen aus­ein­an­der­fal­te­te und sie in ih­rer gan­zen Grö­ße be­nutz­te. Er tauch­te die Fe­der in die Tin­te und schrieb mit sei­ner schö­nen Hand­schrift auf den Kopf des ers­ten Bo­gens die Wor­te:

»Erin­ne­run­gen ei­nes afri­ka­ni­schen Jä­gers.«

Dann such­te er nach dem An­fang des ers­ten Sat­zes. Er saß, den Kopf auf die Hän­de ge­stützt, die Au­gen auf das wei­ße Pa­pier ge­rich­tet, das sich vor ihm aus­brei­te­te. Was soll­te er schrei­ben? Er fand ab­so­lut nichts von dem wie­der, was er kurz vor­her er­zählt hat­te, kei­ne An­ek­do­te, kei­ne ein­zi­ge Tat­sa­che, nichts. Plötz­lich fiel ihm ein: »Ich muss mit mei­ner Abrei­se aus der Hei­mat be­gin­nen.« Und er schrieb: »Es war un­ge­fähr am 15. Mai des Jah­res 1874, als das er­schöpf­te Frank­reich sich von den Schick­sals­schlä­gen der schreck­li­chen Kriegs­jah­re er­hol­te.«

Dann stock­te er wie­der, er wuss­te nicht, wie er nun das Fol­gen­de schil­dern soll­te, sei­ne Ein­schif­fung, die Rei­se, sei­ne ers­ten Ein­drücke … Nach­dem er zehn Mi­nu­ten ge­grü­belt hat­te, be­schloss er, die­sen ein­lei­ten­den Teil auf den nächs­ten Mor­gen zu ver­schie­ben und einst­wei­len mit der Be­schrei­bung von Al­gier zu be­gin­nen.

Und er schrieb auf sein Pa­pier:

»Al­gier ist eine ganz wei­ße Stadt…«, da blieb er wie­der ste­cken. Er sah in Ge­dan­ken die hüb­sche, hel­le Stadt vor sich, die sich von der Höhe des Ge­bir­ges bis zum Meer hin­un­ter­zog, wie eine Kas­ka­de von nied­ri­gen Häu­sern mit fla­chen Dä­chern. Aber er fand kei­nen Aus­druck für das, was er ge­se­hen und emp­fun­den hat­te.

Mit vie­ler Mühe und An­stren­gung schrieb er wei­ter: »Sie ist zum Teil von Ara­bern be­wohnt…« Dann warf er sei­ne Fe­der auf den Tisch und stand auf. Auf sei­nem schma­len, ei­ser­nen Bett, in das sein Kör­per ein Loch ein­ge­drückt hat­te, sah er sei­ne Werk­tags­klei­der her­um­lie­gen, schä­big, ab­ge­ris­sen, wie Lum­pen aus der Morgue. Auf dem Stroh­stuhl stand sein Sei­den­zy­lin­der, der ein­zi­ge Hut, den er be­saß, und schi­en hilfs­be­dürf­tig mit der Öff­nung nach oben um ein Al­mo­sen zu bit­ten.

Die graue Ta­pe­te mit blau­en Blu­men­sträu­ßen hat­te eben­so viel Schmutz als Blu­men, alte, ver­däch­tig aus­se­hen­de Fle­cke un­be­stimm­ter Her­kunft, tot­ge­drück­te In­sek­ten und Öl­kleck­se, fet­ti­ge Fin­ger­ab­drücke und Sei­fen­schaum­spu­ren, die wäh­rend des Wa­schens an­ge­spritzt wa­ren. Das al­les roch nach dem nack­tes­ten Elend, nach dem Elend ei­nes mö­blier­ten Zim­mers. Und eine Er­bit­te­rung er­griff ihn ge­gen die Arm­se­lig­keit sei­nes bis­he­ri­gen Le­bens. Er sag­te sich, dass er so­fort schon mor­gen aus ihr hin­aus müss­te, um end­lich die­sem küm­mer­li­chen Da­sein ein Ende zu ma­chen.

Plötz­lich über­kam ihn ein neu­er Ar­beitsei­fer, er setz­te sich wie­der an den Tisch und such­te wie­der nach Wor­ten, um den ei­gen­ar­ti­gen und reiz­vol­len Ein­druck von Al­gier zu schil­dern, die­ses Ein­gang­stor in das ge­heim­nis­vol­le und tie­fe Afri­ka, in das Land um­her­strei­fen­der Ara­ber und un­be­kann­ter Ne­ger­stäm­me, in das un­er­forsch­te und ver­lo­cken­de Afri­ka, des­sen un­wahr­schein­li­che Tier­welt uns bis­wei­len in den öf­fent­li­chen Gär­ten ge­zeigt wird; ganz merk­wür­di­ge Tie­re, wie aus dem Mär­chen­lan­de: Strau­ße, Rie­sen­hüh­ner, Ga­zel­len, präch­ti­ge Zie­gen, gro­tes­ke Gi­raf­fen, schwe­re, erns­te Ka­me­le, un­ge­heu­er­li­che Nil­pfer­de, plum­pe Rhi­no­ze­ros­se und Go­ril­las, die­se ab­scheu­li­chen Eben­bil­der der Men­schen.

Un­be­stimm­te Ge­dan­ken schweif­ten in sei­nem Kopf; er hät­te sie viel­leicht er­zäh­len kön­nen, aber er ver­moch­te sie nicht in ge­schrie­be­ne Sät­ze zu fas­sen. Sei­ne Ohn­macht er­reg­te ihn fie­ber­haft, er sprang wie­der auf, sei­ne Hän­de schwitz­ten und das Blut häm­mer­te in den Schlä­fen.

Sei­ne Bli­cke fie­len auf die Rech­nung der Wasch­frau, die der Con­cier­ge ihm her­auf­ge­bracht hat­te, und von Neu­em über­fiel ihn eine gren­zen­lo­se Verzweif­lung. Sei­ne Freu­de war im Au­gen­blick da­hin und mit ihr sein Selbst­ver­trau­en und die Hoff­nung auf sei­ne Zu­kunft. Es war aus — al­les aus; er wür­de es zu nichts brin­gen und wür­de nichts wer­den. Er fühl­te sich leer, un­fä­hig, un­nütz und ver­dammt. Er trat an das Fens­ter und blick­te hin­un­ter. Ein Zug kam mit to­sen­dem Lärm aus dem Tun­nel her­aus, um über Fel­der und Ebe­nen nach der Mee­res­küs­te zu fah­ren. Und Erin­ne­rung an sei­ne El­tern er­füll­te das Herz Du­roys.

Die­ser Zug wür­de nur we­ni­ge Mei­len von ih­rem Hau­se vor­bei­fah­ren. Er sah es wie­der, die­ses klei­ne Häu­schen am Ein­gan­ge des Dor­fes Can­te­leu, oben auf dem Ab­hang, der Rou­en und das wei­te Tal der Sei­ne be­herrsch­te. Sein Va­ter und sei­ne Mut­ter hat­ten eine klei­ne Schen­ke, ein Wirts­haus, wo die Ein­woh­ner des klei­nen Vo­r­orts Sonn­tags zu früh­stücken pfleg­ten. Es hieß »Zur schö­nen Aus­sicht«. Sie hat­ten aus ih­rem Sohn einen »Herrn« ma­chen wol­len und schick­ten ihn aufs Gym­na­si­um. Nach Been­di­gung sei­ner Stu­di­en­zeit fiel er beim Ex­amen durch und hat­te sich zum Mi­li­tär­dienst ge­mel­det, in der Ab­sicht, Of­fi­zier, Oberst, Ge­ne­ral zu wer­den. Doch das Sol­da­ten­le­ben hat­te ihn nicht be­frie­digt, und so war er, ehe er sei­ne fünf Jah­re Dienst­zeit ab­sol­viert hat­te, nach Pa­ris ge­gan­gen, um dort sein Glück zu ma­chen.

So war er hier­her­ge­kom­men trotz der Bit­ten sei­ner El­tern, die ihn, als sie den Fehl­schlag ih­rer Hoff­nun­gen ein­sa­hen, bei sich be­hal­ten woll­ten. Er sei­ner­seits hoff­te auf die Zu­kunft; der Er­folg muss­te kom­men, er wuss­te nur nicht wie, aber er wür­de Mit­tel und Wege fin­den, ihn an sich zu rei­ßen.

Schon im Re­gi­ment hat­te er im­mer Glück bei Frau­en ge­habt und hat­te in bes­se­ren Krei­sen ein paar Aben­teu­er ge­habt. Er hat­te die Toch­ter des Steuer­ein­neh­mers ver­führt, die al­les im Stich las­sen woll­te, um ihm zu fol­gen, und dann die Frau ei­nes An­walts, die, als er sie ver­las­sen hat­te, sich aus Verzweif­lung zu er­trän­ken ver­such­te.

Sei­ne Ka­me­ra­den nann­ten ihn einen Schlau­kopf, einen Ra­cker, der klug ge­nug sei, sich aus der Klem­me zu zie­hen, und er hat­te sich fest vor­ge­nom­men, die­ser Kri­tik Ehre zu ma­chen.

Sein an­ge­bo­re­nes, nor­man­ni­sches Ge­wis­sen war durch die täg­li­che Pra­xis des Sol­da­ten­le­bens, durch die Bei­spie­le von Räu­be­rei­en in Afri­ka, von un­er­laub­tem Miss­brauch, von be­denk­li­chen Prel­le­rei­en ab­ge­stumpft und elas­tisch ge­wor­den; au­ßer­dem war er über­reizt von den in der Ar­mee gel­ten­den Ehr­be­grif­fen, von den qua­si he­ro­i­schen Ta­ten, von de­nen die Un­ter­of­fi­zie­re un­ter sich zu er­zäh­len wis­sen und von dem gan­zen Ruh­mes­glanz des Sol­da­ten­le­bens, so­dass sein Ge­wis­sen zu ei­ner Art Kis­te mit drei­fa­chem Bo­den wur­de, wo al­les mög­li­che zu fin­den war.

Doch der Drang, Kar­rie­re zu ma­chen, be­herrsch­te al­les an­de­re.

Ohne des­sen be­wusst zu sein, war er wie­der in Träu­me­rei­en ver­sun­ken, wie das all­abend­lich ge­sch­ah. Er träum­te von ei­nem Lie­bes­aben­teu­er, das ihm mit ei­nem Schla­ge die Er­fül­lung al­ler sei­ner Hoff­nun­gen brin­gen soll­te. Er wür­de die Toch­ter ei­nes Ban­kiers oder ei­nes vor­neh­men großen Herrn hei­ra­ten, nach­dem er sie auf der Stra­ße ge­trof­fen und auf den ers­ten Blick er­obert hät­te.

Der schnei­den­de Pfiff ei­ner ein­zel­nen Lo­ko­mo­ti­ve, die ganz al­lein, wie ein großes Ka­nin­chen aus sei­nem Bau, aus dem Tun­nel her­vor­kam und mit vol­lem Dampf über die Schie­nen nach dem Ma­schi­nen­schup­pen lief, er­weck­te ihn aus sei­nen Träu­men. Die et­was ver­wirr­ten Ge­dan­ken an die­se fro­hen Hoff­nun­gen, die sein gan­zes In­ne­re er­füll­ten, hat­ten ihn er­frischt, und er warf einen Kuss in die Nacht hin­aus, einen Lie­bes­gruß an das Bild der er­sehn­ten Frau, einen Kuss des Ver­lan­gens nach dem Glück, das er be­gehr­te. Dann schloss er das Fens­ter und be­gann sich aus­zu­klei­den, wo­bei er mur­mel­te: »Ach was, mor­gen früh wer­de ich bes­ser auf­ge­legt sein. Heu­te Abend ist mein Kopf zu schwer, viel­leicht habe ich auch ein biss­chen zu viel ge­trun­ken. Un­ter sol­chen Be­din­gun­gen kann man nicht gut ar­bei­ten.« Er leg­te sich zu Bett, blies die Lam­pe aus und schlief fast un­mit­tel­bar da­nach ein.

Er wach­te früh­zei­tig auf, wie man an Ta­gen leb­haf­ter Hoff­nun­gen oder großer Sor­gen auf­wacht, sprang aus dem Bett und öff­ne­te das Fens­ter, um einen Schluck fri­scher Luft zu neh­men, wie er zu sa­gen pfleg­te.

Die Häu­ser in der Rue de Rome ge­ra­de ge­gen­über, jen­seits des brei­ten Ei­sen­bahn­dam­mes, leuch­te­ten im hel­len Schein der Mor­gen­son­ne, als wä­ren sie mit Licht weiß ge­malt. Rechts in der Fer­ne sah er den Hü­gel von Ar­gen­teuil, die Hö­hen von San­nois und die Müh­len von Or­ge­mont in leich­tem, bläu­li­chem Duns­te, wie hin­ter ei­nem dün­nen, durch­sich­ti­gen Schlei­er, der auf den Ho­ri­zont ge­wor­fen war.

Ein paar Mi­nu­ten blieb Du­roy in der Be­trach­tung der wei­ten Land­schaft ver­sun­ken und mur­mel­te: »Es wäre doch ver­dammt schön da drau­ßen an ei­nem sol­chen Tag wie die­sem.« Dann fiel ihm ein, dass er ar­bei­ten müss­te, und zwar so­fort, und dass er für zehn Sous den Jun­gen des Con­cier­ge zu sei­nem Büro schi­cken müss­te, um sich krank zu mel­den. Er setz­te sich an den Tisch, tauch­te die Fe­der in das Tin­ten­fass, stütz­te den Kopf mit der Hand und such­te nach Ein­fäl­len. Al­les ver­ge­bens. Nichts fiel ihm ein.

Trotz­dem ver­lor er nicht den Mut. Er dach­te: »Es ist nicht so schlimm, ich bin eben nicht dar­an ge­wöhnt. Das ist ein Hand­werk, das man wie je­des an­de­re ler­nen muss. Die ers­ten paar­mal muss ich mir hel­fen las­sen. Ich wer­de Fo­res­tier auf­su­chen, und er macht mir mei­nen Ar­ti­kel in zehn Mi­nu­ten zu­recht.

Er zog sich an.

Als er auf der Stra­ße war, dach­te er, dass; es wohl noch zu früh sei, sich schon sei­nem Freun­de vor­zu­stel­len, denn er pfleg­te lan­ge zu schla­fen. Er ging lang­sam un­ter den Bäu­men der äu­ße­ren Bou­le­vards auf und ab.

Es war noch nicht neun Uhr. Er er­reich­te den Park Mon­ceau, der vom fri­schen Tau noch ganz feucht war. Er setz­te sich auf eine Bank und be­gann wie­der zu träu­men. Ein sehr ele­gan­ter, jun­ger Mann ging vor ihm auf und ab, of­fen­bar in Er­war­tung ei­ner Frau.

End­lich kam sie, ver­schlei­ert, mit has­ti­gen Schrit­ten, und nach ei­nem kur­z­en Hän­de­druck nahm er sie beim Arm und ver­schwand.

Ein stür­mi­scher Trieb nach Lie­be schoss durch Du­roys Herz, ein hei­ßes Ver­lan­gen nach ei­nem vor­neh­men, par­fü­mier­ten, zar­ten Lie­bes­aben­teu­er. Er stand auf, setz­te sei­nen Weg fort und dach­te da­bei an Fo­res­tier. Hat­te der Glück ge­habt!

An der Haus­tür traf er mit Fo­res­tier zu­sam­men, der ge­ra­de fort­ge­hen woll­te: »Du hier? So früh? Was willst du denn?«

Du­roy war ver­le­gen, dass er ihn ge­ra­de beim Auf­bruch stör­te und stot­ter­te: »Es… es … es han­delt sich um mei­nen Ar­ti­kel, ich kann ihn nicht fer­tig­brin­gen, weißt du, den Ar­ti­kel, den Herr Wal­ter über Al­gier ha­ben will. Es ist ei­gent­lich kein Wun­der, weil ich doch bis­her noch nie ge­schrie­ben habe. Hier, wie bei al­lem, ist Übung nö­tig. Ich weiß ganz ge­nau, ich wer­de mich sehr leicht hin­ein­fin­den, aber jetzt beim ers­ten Mal weiß ich nicht recht, wie ich es an­fas­sen soll. Ich habe wohl die Ide­en, die sind alle da, aber es ge­lingt mir nicht, sie zum Aus­druck zu brin­gen.«

Er hielt inne und zau­der­te ein we­nig. Fo­res­tier lä­chel­te lis­tig und sag­te:

»Das ken­ne ich.«

»Ja,« fuhr Du­roy fort, »so muss es am An­fang je­dem ge­hen. Ich woll­te also … ich woll­te dich da­her bit­ten, mir eine klei­ne. An­lei­tung zu ge­ben. In zehn Mi­nu­ten wür­dest du es mir schon zu­recht­ma­chen, mir den nö­ti­gen Schwung bei­brin­gen. Du wür­dest mir da eine gute Lek­ti­on im Stil ge­ben, denn ohne dich, glau­be ich, brin­ge ich es nicht fer­tig.«

Der an­de­re lä­chel­te noch im­mer ver­gnügt. Er klopf­te sei­nem al­ten Ka­me­ra­den auf den Arm und sag­te:

»Geh zu mei­ner Frau hin­auf, sie wird die Sa­che eben­so gut in Ord­nung brin­gen wie ich. Ich habe ihr die­se Ar­bei­ten bei­ge­bracht. Ich habe lei­der heu­te früh kei­ne Zeit, sonst hät­te ich es ja gern ge­tan.«

Du­roy wur­de plötz­lich wie­der ver­le­gen, er zö­ger­te und ge­trau­te sich nicht.

»Aber jetzt zu die­ser Zeit kann ich sie un­mög­lich stö­ren?«

»Doch, si­cher kannst du das. Sie ist auf. Du fin­dest sie in mei­nem Ar­beits­zim­mer, sie hat ei­ni­ge Schrift­stücke für mich zu ord­nen.«

Du­roy wei­ger­te sich noch im­mer, hin­auf­zu­ge­hen.

»Nein … das geht nicht!«

Fo­res­tier pack­te ihn bei der Schul­ter, dreh­te ihn her­um und schob ihn die Trep­pe hin­auf: »Also, geh doch, dum­mes Schaf, wenn ich es dir sage. Du wirst mich nicht etwa zwin­gen wol­len, die drei Trep­pen wie­der hin­auf­zu­klet­tern, dich vor­zu­stel­len und dei­ne Sa­che aus­ein­an­der­zu­set­zen.«

Da ent­schloss sich end­lich Du­roy. »Dan­ke, ich gehe, ich wer­de ihr sa­gen, dass ich auf dei­ne Ver­an­las­sung kom­me, dass du mich ge­zwun­gen hast, sie auf­zu­su­chen.«

»Gut. Sei un­be­sorgt, sie frisst dich nicht auf. Aber ver­giss nicht nach­her um drei Uhr.«

»Oh, hab kei­ne Angst.«

Fo­res­tier ging schnell da­von, wäh­rend Du­roy lang­sam Stu­fe für Stu­fe die Trep­pe hin­auf­stieg, denn er wuss­te nicht recht, was er oben sa­gen soll­te, und war nicht si­cher, wie er emp­fan­gen wür­de.

Der Die­ner öff­ne­te; er trug eine blaue Schür­ze und hielt einen Be­sen in der Hand.

»Der Herr ist aus­ge­gan­gen«, sag­te er, ohne eine Fra­ge ab­zu­war­ten.

Du­roy ließ sich nicht ab­wei­sen.

»Fra­gen Sie Ma­da­me Fo­res­tier, ob sie mich emp­fan­gen könn­te, und sa­gen Sie ihr, dass ich im Auf­tra­ge ih­res Gat­ten käme, den ich eben auf der Stra­ße ge­trof­fen habe.«

Dann war­te­te er. Der Die­ner kam zu­rück, öff­ne­te rechts eine Tür und mel­de­te: »Ma­da­me lässt bit­ten.«

Sie saß auf ei­nem Schreib­tisch­ses­sel in ei­nem klei­nen Zim­mer, des­sen Wän­de durch schwar­ze Bü­cher­re­ga­le mit wohl­ge­ord­ne­ten Bü­chern gänz­lich ver­deckt wa­ren. Nur die Ein­bän­de mit ih­ren bun­ten Far­ben, rot, blau, gelb, grün und vio­lett, brach­ten Froh­sinn in die­se ein­för­mi­gen Bü­cher­rei­hen.

Be­klei­det mit ei­nem wei­ßen, spit­zen­be­deck­ten Mor­gen­kleid, wand­te sie sich ihm lä­chelnd zu, und als sie ihm die Hand reich­te, sah er un­ter dem weit ge­öff­ne­ten Är­mel ih­ren nack­ten Arm.

»So früh?« frag­te sie, füg­te aber hin­zu: »Das soll durch­aus kein Vor­wurf sein, son­dern bloß eine harm­lo­se Fra­ge.«

Er stam­mel­te:

»Oh, Ma­da­me, ich woll­te gar nicht her­auf­kom­men. Doch ich traf un­ten Ihren Herrn Ge­mahl, er zwang mich dazu. Ich bin der­ma­ßen ver­wirrt, dass ich nicht zu sa­gen wage, was mich ei­gent­lich her­führt.«

Sie wies auf einen Stuhl:

»Set­zen Sie sich hin und spre­chen Sie.«

Sie hielt zwi­schen den Fin­gern eine Gän­se­fe­der, die sie ge­schickt her­um­dreh­te, und vor ihr lag ein halb be­schrie­be­ner Bo­gen Pa­pier. Die An­kunft des jun­gen Man­nes hat­te of­fen­bar ihre Ar­beit un­ter­bro­chen. Es mach­te ganz den Ein­druck, als fühl­te sie sich an die­sem Schreib­tisch ge­nau so zu Hau­se wie in ih­rem Sa­lon, als ob die­ses ihr all­täg­li­cher Be­ruf wäre.

Ein leich­tes Par­füm ent­stieg dem Mor­gen­rock, der fri­sche Duft der eben be­en­de­ten Toi­let­te. Und Du­roy such­te den jun­gen, wei­ßen, war­men Frau­en­kör­per durch die Fal­ten des wei­chen Stof­fes zu er­ra­ten. Da er noch im­mer schwieg, fuhr sie fort:

»Also sa­gen Sie, was gibt es?«

Zö­gernd mur­mel­te er:

»Also … aber wirk­lich … ich wage es gar nicht zu sa­gen … Ich habe ges­tern bis spät in die Nacht ge­ar­bei­tet … und heu­te früh … sehr früh mor­gens … um den Ar­ti­kel über Al­gier zu schrei­ben, den Herr Wal­ter von mir ha­ben will … Es will mir nicht ge­lin­gen … ich habe al­les zer­ris­sen … Ich habe kei­ne Übung in die­ser Ar­beit und da woll­te ich Fo­res­tier bit­ten, mir et­was zu hel­fen … für die­ses eine Mal …«

Sie un­ter­brach ihn und lach­te glück­lich und ge­schmei­chelt aus vol­lem Her­zen:

»Und da hat er Ih­nen ge­sagt, Sie soll­ten mich auf­su­chen? Das war lieb von ihm!« …

»Ja, gnä­di­ge Frau, er sag­te, Sie wür­den mir aus der Ver­le­gen­heit noch bes­ser hel­fen, als er selbst … Aber trotz­dem wag­te ich es nicht, ich woll­te nicht … Nicht wahr, Sie ver­ste­hen mich …«

Sie stand auf.

»Das wird rei­zend sein, so mit Ih­nen zu­sam­men zu ar­bei­ten. Ich bin be­geis­tert von Ih­rer Idee. Also set­zen Sie sich hier auf mei­nen Platz, denn bei der Re­dak­ti­on kennt man mei­ne Hand­schrift. Nun wol­len wir Ih­nen einen Ar­ti­kel schrei­ben, aber einen gu­ten, der auch Er­folg ha­ben wird.«

Er setz­te sich, nahm eine Fe­der, brei­te­te ein Blatt Pa­pier vor sich aus und war­te­te.

Ma­da­me Fo­res­tier sah sei­nen Vor­be­rei­tun­gen ste­hend zu, dann nahm sie vom Ka­min eine Zi­ga­ret­te und zün­de­te sie an:

»Ich kann nicht ar­bei­ten, ohne zu rau­chen. Also, was woll­ten Sie er­zäh­len?«

Er blick­te er­staunt zu ihr auf.

»Das weiß ich eben nicht, des­we­gen bin ich auch her­ge­kom­men.«

Sie fuhr fort:

»Ja, ich wer­de Ih­nen da­bei schon hel­fen. Die Sau­ce will ich Ih­nen ma­chen, Sie müs­sen mir aber den Bra­ten ge­ben.«

Er blieb ver­wirrt, end­lich sag­te er zö­gernd:

»Ich woll­te mei­ne Rei­se von An­fang an schil­dern …«

Da setz­te sie sich ihm ge­gen­über an die an­de­re Sei­te des großen Schreib­ti­sches und sag­te, ihm in die Au­gen bli­ckend:

»Nun gut, er­zäh­len Sie mir zu­erst, mir ganz al­lein, ver­ste­hen Sie, lang­sam und ohne et­was zu ver­ges­sen. Ich wer­de dann schon das Pas­sen­de aus­wäh­len.«

Er wuss­te aber nicht, wo er an­fan­gen soll­te, und so be­gann sie, ihn aus­zu­fra­gen, wie ein Pries­ter sein Beicht­kind. Sie leg­te ihm ganz be­stimm­te Fra­gen vor, durch die ihm eine Men­ge ver­ges­se­ner Ein­drücke, flüch­tig be­kann­te Per­so­nen und ver­schie­de­ne Ein­zel­hei­ten ins Ge­dächt­nis zu­rück­ge­ru­fen wur­den. Als sie ihn etwa eine Vier­tel­stun­de auf sol­che Wei­se aus­ge­fragt hat­te, un­ter­brach sie ihn plötz­lich:

»Jetzt wol­len wir be­gin­nen. Zu­nächst neh­men wir an, Sie be­rich­ten Ihrem Freun­de Ihre Er­leb­nis­se. Das er­laubt Ih­nen, eine Men­ge Bos­hei­ten zu sa­gen, Be­mer­kun­gen al­ler Art ein­zu­flech­ten, und so na­tür­lich und wit­zig zu sein, wie wir es ir­gend kön­nen. Also los:

›Mein lie­ber Hen­ri, Du willst wis­sen, was Al­gier ist, Du sollst es er­fah­ren. Da ich in der klei­nen Hüt­te aus ge­trock­ne­tem Lehm, die mir als Woh­nung dient, nichts Bes­se­res an­zu­fan­gen weiß, will ich Dir eine Art Ta­ge­buch über mein Le­ben schi­cken und Dir schil­dern, wie mein Le­ben sich Tag für Tag, Stun­de für Stun­de ge­stal­tet … Es wird manch­mal et­was toll dar­in zu­ge­hen, ei­ner­lei: Du bist doch nicht ver­pflich­tet, es den Da­men aus Dei­nem Be­kann­ten­krei­se vor­zu­zei­gen.‹«

Sie mach­te eine Pau­se, um die aus­ge­gan­ge­ne Zi­ga­ret­te wie­der an­zu­zün­den, und so­fort hör­te das krit­zeln­de Geräusch der Gän­se­fe­der auf dem Pa­pier auf.

»Nun wei­ter!« sag­te sie.

»Al­gier ist eine aus­ge­dehn­te fran­zö­si­sche Be­sit­zung an der Gren­ze der großen un­be­kann­ten Län­der, die man die Wüs­te, die Sa­ha­ra, Zen­tral­afri­ka und so wei­ter nennt.

Al­gier ist das Tor, das wei­ße, be­zau­bern­de Ein­gang­stor die­ses selt­sa­men Kon­tin­ents.

Aber zu­nächst muss man die­ses Land er­rei­chen und das ist nicht für je­der­mann so be­son­ders an­ge­nehm. Du weißt, ich bin ein aus­ge­zeich­ne­ter Rei­ter, denn ich muss ja die Pfer­de des Obers­ten zu­rei­ten. Aber man kann ein gu­ter Rei­ter und da­bei ein schlech­ter See­mann sein. Das ist bei mir der Fall.

Ent­sinnst Du Dich noch des Ma­jors Sim­bre­ta, den wir den Dok­tor Ipé­ca nann­ten? Wenn wir uns reif für vier­und­zwan­zig Stun­den La­za­rett fühl­ten, so be­such­ten wir ihn.

Er saß auf sei­nem Stuhl, die di­cken Bei­ne in den ro­ten Ho­sen weit aus­ein­an­der ge­spreizt, die Hän­de auf die Knie ge­stützt, die El­len­bo­gen in der Luft, so­dass die Arme wie eine Brücke aus­sa­hen. Er roll­te sei­ne großen Au­gen und knab­ber­te da­bei an sei­nem wei­ßen Schnurr­bart. Ent­sinnst Du Dich noch sei­ner Ver­ord­nung?

›Die­ser Sol­dat hat einen ver­dor­be­nen Ma­gen. Er be­kommt das Brech­mit­tel Num­mer 3 nach mei­nem Re­zept. Dann zwölf Stun­den Ruhe und er ist wie­der ge­sund.‹

Die­ses Brech­mit­tel war all­mäch­tig und un­wi­der­steh­lich. Man schluck­te es run­ter, weil man es halt muss­te. Hat­te man die Kur des Dok­tor Ipé­ca über­stan­den, dann ge­noss man zwölf Stun­den teu­er er­kauf­ter Ruhe.

Nun, mein lie­ber Freund, um nach Afri­ka zu ge­lan­gen, muss man ein an­de­res, nicht min­der un­wi­der­steh­li­ches Mit­tel neh­men, und zwar nach dem Re­zept der Trans­at­lan­ti­schen Damp­fer­ge­sell­schaft.«

Sie rieb sich die Hän­de, höchst zu­frie­den mit ih­rem Ein­fall.

Dann stand sie auf, ging im Zim­mer auf und ab, steck­te sich eine neue Zi­ga­ret­te an und dik­tier­te wei­ter. Sie blies den Rauch vor sich hin, der zu­erst aus dem klei­nen run­den Loch zwi­schen ih­ren zu­sam­men­ge­press­ten Lip­pen ker­zen­ge­ra­de em­por­stieg, dann wur­den die Rauch­rin­ge im­mer brei­ter und ver­flüch­tig­ten sich in der Luft als graue, durch­sich­ti­ge Ne­bel­strei­fen, ähn­lich ei­nem Spinn­ge­we­be. Bis­wei­len zer­stör­te sie die leich­ten, üb­rig­ge­blie­be­nen Strei­fen mit ei­ner schnel­len Be­we­gung der fla­chen Hand, bis­wei­len durch­schnitt sie die­sel­ben lang­sam mit dem Zei­ge­fin­ger und sah dann nach­denk­lich zu, wie die bei­den Hälf­ten all­mäh­lich ver­schwan­den.

Du­roy ver­folg­te jede ih­rer Be­we­gun­gen, jede Stel­lung ih­res Kör­pers, jede Ver­än­de­rung in ih­rem Ge­sichts­aus­druck, die dies me­cha­ni­sche, ge­dan­ken­lo­se Spiel bei ihr her­vor­rief.

Sie er­fand jetzt Rei­se­er­leb­nis­se, schil­der­te selbst er­fun­de­ne Rei­se­ge­fähr­ten und ent­warf eine Lie­bes­ge­schich­te mit der Frau ei­nes In­fan­te­rie­haupt­manns, die ih­rem Man­ne nach­reis­te.

Dann setz­te sie sich wie­der und frag­te Du­roy über die Bo­den­ver­hält­nis­se von Al­gier aus, von de­nen sie kei­ne Ah­nung hat­te. Und in zehn Mi­nu­ten wuss­te sie ge­nau so viel wie er und mach­te dar­aus ein klei­nes Ka­pi­tel über po­li­ti­sche und ko­lo­nia­le Geo­gra­fie, um den Le­ser ein­zu­füh­ren und auf das Ver­ständ­nis erns­ter Fra­gen vor­zu­be­rei­ten, die im fol­gen­den Ar­ti­kel be­han­delt wür­den.

Dann flocht sie eine Er­zäh­lung über einen frei er­fun­de­nen Aus­flug nach der Pro­vinz Oran ein, bei dem es sich vor al­lem um Frau­en han­del­te, um Mau­ren­mäd­chen, Jü­din­nen und Spa­nie­rin­nen.

»Das ist das ein­zi­ge, was wirk­lich die Leu­te in­ter­es­siert«, mein­te sie.

Sie schloss mit ei­nem Auf­ent­halt in Sai­da, am Fuße der Ho­chebe­ne, und ei­nem hüb­schen klei­nen Lie­bes­aben­teu­er zwi­schen dem Un­ter­of­fi­zier Ge­or­ge Du­roy und ei­ner spa­ni­schen Ar­bei­te­rin, die in ei­ner Spar­to­gras­flech­te­rei in Ain-el-Ha­d­jar be­schäf­tigt war. Frau Fo­res­tier er­zähl­te von dem nächt­li­chen Stell­dich­ein in dem stei­ni­gen, kah­len Ge­bir­ge, wo in­mit­ten von Fels­blö­cken Scha­ka­le, Hyä­nen und ara­bi­sche Hun­de heul­ten, schri­en und bell­ten.

Und fröh­lich sag­te sie nun:

»Fort­set­zung folgt!«

Dann stand sie auf.

»Se­hen Sie, Lie­ber Herr Du­roy, so schreibt man Ar­ti­kel. Jetzt un­ter­schrei­ben Sie bit­te.«

Er zö­ger­te.

»Schrei­ben Sie doch Ihren Na­men.«

Da be­gann er zu la­chen und schrieb un­ten auf den Rand der letz­ten Sei­te: »Ge­or­ges Du­roy.«

Sie rauch­te und ging auf und ab; er be­trach­te­te sie im­mer­zu. Er fand kei­ne Wor­te, um ihr zu dan­ken. Er war glück­lich, in ih­rer Nähe zu sein; er­füllt von Dank­bar­keit, ge­noss er das sinn­li­che Glück ih­rer wach­sen­den Ver­trau­lich­keit. Ihm war, als ob al­les, was sie um­gab, ein Teil ih­rer selbst war, al­les bis zu den bü­cher­be­deck­ten Wän­den. Die Stüh­le, die Mö­bel, die von Ta­bak durch­tränk­te Luft. Al­les be­saß et­was Ei­gen­ar­ti­ges, Rei­zen­des, das von ihr kam.

Plötz­lich frag­te sie ihn:

»Was hal­ten Sie von mei­ner Freun­din, der Ma­da­me de Ma­rel­le?«

Er war über­rascht.

»Nun ja, ich fin­de … ich fin­de sie ent­zückend.«

»Nicht wahr?«

»Ja ge­wiss.«

Er woll­te hin­zu­fü­gen: »Aber doch nicht so ent­zückend wie Sie.« Doch er wag­te das nicht.

Sie fuhr fort:

»Und wenn Sie wüss­ten, wie wit­zig, wie ei­gen­ar­tig, wie ge­scheit sie ist! Sie ist eine Zi­geu­ne­rin, eine rich­ti­ge Zi­geu­ne­rin. Des­halb liebt ihr Mann sie auch nicht sehr. Er sieht nur ihre Feh­ler und weiß ihre Vor­zü­ge nicht zu schät­zen.«

Du­roy war er­staunt, zu hö­ren, dass Ma­da­me de Ma­rel­le ver­hei­ra­tet sei, ob­gleich das eine ganz na­tür­li­che Sa­che war.

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Altersbeschränkung:
0+
Umfang:
5297 S. 80 Illustrationen
ISBN:
9783962817695
Rechteinhaber:
Bookwire
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