Meine liebe Colette!
Ich weiß nicht, ob du dich eines Verses aus Sainte-Beuve entsinnst, den wir zusammen gelesen haben, und der sich meinem Gedächtnis fest eingeprägt hat; denn er sagt mir Manches, dieser Vers, und oft hat er mein armes Herz beruhigt, besonders in der letzten Zeit. Er heißt:
»Im selben Haus geboren werden, leben
Und sterben…«
Hier bin ich nun ganz allein in diesem Hause, in dem ich geboren bin, gelebt habe und auch zu sterben gedenke. Es ist nicht alle Tage heiter, aber es ist süß; denn ich bin von Erinnerungen umgeben.
Mein Sohn Henry ist Advokat; er besucht mich jährlich zwei Monate. Jeanne wohnt mit ihrem Manne am anderen Ende Frankreichs; sie besuche ich jeden Herbst. So bin ich denn hier allein, ganz allein, aber vertraute Gegenstände umgeben mich und erzählen mir unausgesetzt von den Meinen, von den Toten wie von den fernen Lebenden.
Ich lese nicht mehr viel, aber ich denke viel, oder besser, ich träume! Freilich nicht in meiner Art von ehedem. Du kennst ja unsere abenteuerlichen Grillen, unsere Pläne, die wir schmiedeten, als wir zwanzig Jahre alt waren, all die glücklichen Aussichten, die sich uns eröffneten!
Von alledem ist nichts in Erfüllung gegangen, oder vielmehr, es ist alles anders gekommen, weniger süß und poetisch, aber doch zufriedenstellend, wenn man sein Schicksal zu nehmen weiß.
Denn weißt du, warum wir Frauen so oft unglücklich sind? Weil man uns in der Jugend zu viel an das Glück glauben lehrte. Wir sind nicht mit dem Gedanken erzogen worden, dass der Mensch zu kämpfen, zu harren und zu leiden hat. Und unser Herz bricht beim ersten Stoße. Mit offener Brust erwarten wir Ströme von glücklichen Ereignissen, und es kommen immer nur halbwegs gute. Dann weinen wir gleich. Das Glück, das wahre Glück unserer Träume habe ich erst lernen müssen. Es besteht nicht in einem glücklichen Ereignis, denn die sind sehr selten und von kurzer Dauer, sondern einfach im steten Erwarten einer Reihe von guten Dingen, die niemals kommen. Glück, das ist das glückliche Warten, das ist ein Dunstkreis von Hoffnungen, also die Illusion ohne Ende. Ja, meine Liebe, es gibt nichts Gutes, als die Illusionen, und so alt ich bin, mache ich mir noch alle Tage welche; nur hat sich ihr Gegenstand geändert, denn meine Wünsche sind nicht dieselben geblieben. Ich sagte dir schon, dass ich die meiste Zeit mit Träumen verbringe. Was soll ich auch andres tun? Ich habe dazu zwei Arten. Ich will sie dir nennen: vielleicht, dass sie dir nützlich sind.
Die erste ist sehr einfach; sie besteht darin, dass ich mich in einen niedrigen Lehnstuhl, der meinen alten Knochen weich genug ist, vor mein Kaminfeuer setze und meine Blicke auf Das zurück schweifen lasse, was dahinter liegt.
Oh wie kurz ist doch ein Menschenleben! Besonders, wenn es ganz an einem Orte verfließt.
»Im selben Haus geboren werden, leben
Und sterben…«
Welche Fülle von Erinnerungen! Sie drängen sich förmlich. Und wenn man alt wird, deucht es einem kaum zehn Tage her, dass man jung war. Ja, es ist alles verflossen, als wär’ es nur Ein Tag gewesen! Morgen, Mittag und Abend – und die Nacht fällt schnell, die Nacht ohne Morgenrot!
Wie ich so Stunde auf Stunde ins Feuer starre, wird mir die Vergangenheit wieder lebendig, als wäre es gestern gewesen. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin; der Traum reißt mich fort; mein ganzes Dasein lebe ich noch einmal durch.
Und oft glaube ich wieder, ich wäre noch ein Mädchen: so stark sind die Eindrücke der Vergangenheit, die Gefühle der Jugend, ihre hohen Stunden und selbst ihr Herzklopfen, all diese achtzehnjährige Lebensfreude; und das Vergangene steht greifbar, wie neue Wirklichkeit, vor meinen Augen.
Namentlich meine Jugendspaziergänge suchen mich wieder heim! Hier auf meinem Lehnstuhl, als ich vor meinem Feuer saß, dachte ich neulich wieder an einen Sonnenuntergang auf dem Mont Saint-Michel und gleich darauf an eine Hetzjagd im Walde von Uville; und der Duft des feuchten Sandes und des thaufrischen Laubes, die Glut der Sonne, die ins Wasser tauchte, und die feuchte Wärme ihrer ersten Strahlen, als ich durchs Holz galoppierte – das alles umschwebte mich plötzlich wieder. Und alles, was ich damals gedacht habe, meine Begeisterung vor den endlosen Weiten des Meeres, mein frohes Selbstgefühl, als die Zweige im Reiten mich streiften, meine kleinsten Gedanken, all die kleinen Ergebnisse meiner Beobachtungen, meiner Wünsche und meiner Gefühle, alles, alles ist wieder da, als wären die fünfzig Jahre nicht verflossen, die mein Blut gedämpft und mein Hoffen gewandelt haben. Meine andere Art aber, die Vergangenheit zu beschwören, ist bei Weitem die bessere.
Du weißt oder du weißt nicht, meine liebe Colette, dass im Hause nichts weggeworfen wird. Oben unter dem Dache haben wir eine große Trödelkammer, die »das Antiquitätenkabinet« heißt. Alles, was nicht mehr gebraucht wird, wandert dort hinein. Ich gehe oft herauf und sehe mich um. Da erblicke ich dann einen Haufen von Nichtigkeiten wieder, an die ich nie mehr dachte, und die mir eine Menge Dinge ins Gedächtnis zurückrufen. Zwar sind es nicht die trauten Möbel, die man von Kindheit auf kennt, und an denen die Erinnerungen von Ereignissen, von Freuden und Leiden, von Tagen unserer Geschichte haften. Keine Gegenstände, die mit unserem Leben verknüpft sind, und darum eine Art von Persönlichkeit und Charakter angenommen haben. Keine Gefährten unsrer holden und trüben Stunden, – die einzigen, ach! die wir sicher sind, nicht zu verlieren, die einzigen, die nicht sterben werden wie die anderen, deren Züge, deren liebe Augen, deren Mund und Stimme auf ewig dahin sind! – Aber ich finde in dem alten Trödel eine Menge von alten, nichtssagenden Dingen wieder, die vierzig Jahre um uns herum gewesen sind, ohne dass sie einem je aufgefallen wären, und die nun, wo man sie wieder sieht, plötzlich die Bedeutung und den Ausdruck alter Zeugen annehmen. Sie kommen mir vor, wie Leute, die man unbestimmt gekannt hat, ohne dass sie sich je offenbart hätten, und die plötzlich eines Abends ohne jede Veranlassung zu schwatzen beginnen, ohne wieder aufzuhören, und uns ihr ganzes Dasein und alle ihre Intimitäten erzählen, von denen wir nichts ahnten.
Und ich gehe vom einen zum anderen und mein Herz krampft sich wehmütig zusammen. Halt, sage ich mir, das habe ich an dem Abend zerbrochen, wo Paul nach Lyon abreiste. Oder: Ach, da ist ja die kleine Laterne, mit der Mama an den Winterabenden immer zum Gottesdienst ging!
Es sind auch Sachen darunter, die nichts sagen, die von den Großeltern herstammen, Dinge, die niemand unter den Lebenden gekannt hat, von denen sogar niemand weiß, wer sie besessen. Niemand hat die Hände gesehen, die sie angefasst, noch die Augen, die sie beschaut haben. Die geben mir lange zu denken! Sie kommen mir wie Verlassene vor, deren letzte Freunde gestorben sind…
Vielleicht, meine liebe Colette, wirst du das alles kaum begreifen, vielleicht wirst du über meine Einfalt und über meine kindlichen und sentimentalen Anwandlungen lachen. Du bist Pariserin, und Euch Pariserinnen ist dieses in sich gekehrte Leben, dieses ewige Zurückgreifen auf sein eigenes Herz etwas Unbekanntes. Ihr lebt nach außen, und alle eure Gedanken flattern in den Wind. Ich lebe allein, darum kann ich dir nur von mir erzählen. Wenn du mir aber antwortest, dann sprich mir auch ein wenig von dir, damit ich mich auch in deine Lage versetzen kann, wie du dich morgen in die meine wirst versetzen können.
Aber nie wirst du den Vers von Sainte-Beuve ganz verstehen:
»Im selben Haus geboren werden, leben
Und sterben…«
Tausend Küsse. Deine alte Freundin
Adelaide.
*
Die Herrengesellschaft war zu Ende, und damit begann das endlose Zigarrenrauchen und das unaufhörliche Liqueurtrinken im Rauche. Die Köpfe waren von dem vielen Durcheinander von Speisen und Getränken nicht mehr ganz klar, und eine schlaffe Verdauungsruhe herrschte.
Man kam auf den Magnetismus zu sprechen, auf die Wunderkuren Donatos und die Erfahrungen des Dr. Charcot. Und mit einem Male begannen diese blasierten, lächelnden, jeder Religion abholden Lebemänner, sich die merkwürdigsten Geschichten zu erzählen, lauter unglaubliche aber wahre Begebenheiten, wie sie versicherten; sie fielen plötzlich wieder in die abergläubischesten Vorstellungen zurück, klammerten sich an diesen letzten Rest des Geheimnisses an und beugten sich dem Magnetismus, den sie im Namen der Wissenschaft verteidigten…
Nur einer lächelte hartnäckig; er war ein übermütiger Gesell und großer Schürzenjäger; sein Unglauben war so fest eingewurzelt, dass er nicht einmal zulassen wollte, dass über diesen Gegenstand geredet wurde.
– Unsinn! Unsinn! Unsinn! rief er höhnisch dazwischen. Über Donato ist garnicht erst zu reden, er ist ganz einfach ein schäbiger Quacksalber. Und Herr Charcot, der ja ein namhafter Arzt sein soll, macht mir immer den Eindruck eines Fabulisten vom Schlag Edgar Poes: er denkt über besondere Fälle von Verrücktheit so lange nach, bis er selber verrückt wird… Er hat Nervenzustände konstatiert, die unerklärlich und jedenfalls noch unerklärt sind; er lebt in jenem Unbekannten, das tagtäglich unsern Witz herausfordert, und da er nicht immer alles versteht, was er sieht, macht er vielleicht von den religiösen Erklärungen des Geheimnisvollen einen zu ausgiebigen Gebrauch. Außerdem möchte ich ihn selbst einmal hören; das ist etwas ganz andres, als was Sie mir hier nacherzählen.
Diese Worte des Ungläubigen riefen unter den Anwesenden eine mitleidige Bewegung hervor, als ob er in einer Gesellschaft von Mönchen Lästerliches gesagt hätte.
– Jedenfalls hat es früher Wunder gegeben! bekräftigte einer der Herren.
– Das leugne ich. Sonst müsste es ja auch heute noch welche geben.
Da brachte nun jeder ein Beweisstück vor, fantastische Vorahnungen und Mitteilungen von Seelen durch weite Räume, geheime Einflüsse eines Wesens auf das andere u. s. w. Und diese Tatsachen wurden beteuert und für unbestreitbar erklärt, während der hartnäckige Leugner immer noch sein »Unsinn! Unsinn! Unsinn!« dazwischen schrie.
Endlich stand er auf, warf seine Zigarre fort, steckte die Hände in die Taschen und begann:
– Nun wohl. Auch ich kann Ihnen zwei Geschichten der Art erzählen, die ich Ihnen aber nachher erklären werde. Die eine ist folgendermaßen.
Die Männer des kleinen Stranddorfes Étretat sind sämtlich Fischer und fahren jedes Jahr nach den Bänken von Terre-Neuve zum Stockfischfang. Eines Nachts nun wachte das Kind eines der Fischer plötzlich auf und schrie: »De Vatter is im Mee ätunken!« Man beruhigte den Schreihals, aber bald wachte er von Neuem auf und heulte, sein »Vatter wäre ätunken«. Einen Monat spater wurde nun wirklich bekannt, dass der Vater von einer Sturzsee erfasst und von der Brücke ins Meer geschleudert worden wäre, wo er seinen Tod gefunden hätte. Da schrie nun alles: »Ein Wunder! Ein Wunder!« und regte sich groß auf. Es wurde nachgerechnet, und es fand sich, dass der Unfall und der Traum ungefähr zusammenfielen. Daraus wurde dann geschlossen, dass beides in derselben Nacht und zur selben Stunde geschehen wäre. Das ist so ein Wunder der Fernwirkung…
Der Erzähler hielt inne.
– Und wie erklären Sie das? fragte einer der Zuhörer sehr erregt.
– Sehr gut, meine Herren; ich habe das Geheimnis gelüftet. Die Tatsache hatte mich allerdings verblüfft und selbst lebhaft beunruhigt; aber sehen Sie, ich glaube grundsätzlich an nichts. Wie die anderen damit anfangen zu glauben, so fange ich damit an zu zweifeln. Und wenn ich es auch garnicht begreife, so leugne ich doch ruhig weiter fort, dass es eine Fernwirkung von Seelen gibt, und ich bin gewiss, dass mein Scharfsinn allein ausreicht. Nun wohl, ich habe also gesucht und gesucht, bis ich es heraus hatte. Ich fragte alle Weiber der abwesenden Fischer aus und überzeugte mich, dass keine Woche verging, wo nicht eines von ihnen oder eines der Kinder davon träumte, dass sein »Vatter im Meer ätunken« wäre, und dies beim Erwachen ausposaunte. Die beständige schreckliche Furcht vor diesem Unglück ließ sie stets davon reden, immer daran denken. Wenn nun eine dieser häufigen Ahnungen durch einen ganz einfachen Zufall mit einem solchen Unglücksfalle zusammentrifft, schreit alles gleich: »Ein Wunder!« – und alle anderen Träume und Vorahnungen, alle unglücklichen Prophezeiungen, die sich nicht erfüllt haben, werden vergessen. Ich selbst habe an die fünfzig in der Erinnerung, von denen der Urheber schon acht Tage später nichts mehr wusste. Wäre aber der Mann wirklich umgekommen, dann wäre das Gedächtnis unversehens erwacht, und die einen hätten ein Wunder Gottes, die anderen den Magnetismus gepriesen.
– Das ist alles ganz richtig, was Sie da sagen, unterbrach ihn einer der Raucher. Aber wie steht es mit Ihrer anderen Geschichte?
– Oh, meine andere Geschichte ist ein heikeles Thema. Sie ist mir selbst begegnet, und darum misstraue ich meiner eigenen Ansicht darüber ein wenig. Man kann nicht Richter und Partei zugleich sein. Nun also, die Sache war folgende:
– Unter meinen Bekanntschaften, die ich hatte, befand sich eine junge Frau, an die ich nie gedacht, die ich nie angesehen hatte, kurz, die mir nie aufgefallen war, wie man sagt. Sie gehörte nach meiner Meinung unter die nichtssagenden Wesen, obwohl sie nicht hässlich war. Schließlich hatte sie Nase, Mund und Ohren, Haare von irgend einer Farbe und eine, wie soll ich sagen, verblichene Physiognomie. Sie war eines von den Wesen, an denen unsre Gedanken scheinbar nur durch Zufall haften, ohne bei ihnen zu verweilen, und die unser Verlangen nie wachrufen.
Eines Abends nun schrieb ich vor dem Schlafengehen Briefe am Kamin, und wie ich so meinen Gedanken die Zügel schießen lasse und Bild auf Bild mir durch den Kopf gehen, wie ich so mit der Feder in der Hand vor mich hinträume, läuft mir plötzlich ein leiser Schauder durchs Hirn und ein Beben durchs Herz, und unmittelbar darauf sehe ich, ohne vernünftigen Grund, ohne logische Ideen-Verkettung, sehe ich dieses junge Weib ganz deutlich vor mir, zum Greifen nahe, vom Kopf bis zu den Füßen… Sie, an die ich noch nie länger als drei Sekunden gedacht hatte, solange mir ihr Name durch den Kopf ging… Und plötzlich entdeckte ich an ihr eine Fülle von holden Eigenschaften, die mir nie aufgefallen waren, einen sanften Zauber, einen bestrickenden Reiz… Und sie rief jene verliebte Unruhe in mir wach, die uns einem Weibe nachgehen heißt.
Sie alle kennen jene eigentümlichen Träume, die einen zum Herrn des Unmöglichen machen, einem die verschlossenen Tore unverhoffter Freuden und die sprödesten Arme öffnen. Wer von uns hat nicht jene unruhigen, aufregenden, atemlosen Träume gehabt, wo wir das Weib, nach dem uns der Sinn stand, mit der größten sinnlichen Schärfe und Deutlichkeit in den Armen gehalten haben? Und haben Sie nicht gemerkt, welche überirdische Wonne in solchen verzückten Träumen liegt? In welchen Taumelzustand sie einen versetzen, wie sie einem das ganze Wesen durchkämpfen und das Herz mit unendlicher, zärtlichster, überströmender Zärtlichkeit erfüllen; wie man das Wesen liebt, das man in diesem göttlich teuflischen, Wirklichkeit scheinenden Gaukelspiel ohnmächtig und glühend im Arme hält…
Alles dies empfand ich damals mit unvergesslicher Deutlichkeit. Dies Weib war mein eigen gewesen, ich fühlte es! Als ich längst enttäuscht erwacht war, hatte ich das sammetweiche Gefühl ihres Haares noch an den Fingern, den Schmelz ihrer Haut noch in den Sinnen, die Süßigkeit ihrer Küsse noch auf den Lippen, den Klang ihrer Stimme noch im Ohre, den Druck ihrer Umarmung noch um den Hals; und der berauschende Zauber ihrer Liebkosungen erfüllte mich ganz und gar.
Und dreimal in derselben Nacht hatte ich denselben Traum.
Als es Tag wurde, erfüllte mich nur der Gedanke an sie; ihr Bild spukte mir durch Herz und Hirn; es verging keine Minute, wo ich nicht an sie dachte.
Ich wusste nicht mehr aus noch ein; schließlich stand ich auf, kleidete mich an und ging zu ihr. Als ich die Treppe herauf stieg, zitterte ich vor Aufregung und fühlte mein Herz gegen die Rippen hämmern; ein unwiderstehliches Verlangen erfüllte mich vom Kopf bis zu den Füßen.
Ich trat ein. Als sie meinen Namen hörte, richtete sie sich hoch auf, und plötzlich begegneten sich unsere Blicke mit merkwürdiger Starrheit. Ich setzte mich und stotterte ein paar unzusammenhängende Worte, die sie garnicht zu hören schien. Ich wusste nicht, was ich tun und sagen sollte; dann plötzlich stürzte ich auf sie zu und umschlang sie mit beiden Armen. Mein ganzer Traum verwirklichte sich so rasch, so leicht und süß und toll, das ich plötzlich in Zweifel war, ob ich auch wach wäre… Sie war zwei Jahre lang meine Geliebte…
– Und was schließen Sie daraus? fragte eine Stimme.
Der Erzähler schien zu zögern.
– Was ich daraus schließe? fragte er langsam. Ich schließe daraus, dass dies ein einfaches Zusammentreffen war, ja gewiss! Und dann – wer weiß? – vielleicht auch ein Blick von ihr, den ich nicht bemerkt hatte, und den mir mein Gedächtnis an jedem Abend wieder wachrief; denn es gibt ja solche geheimnisvollen und unbewussten Erinnerungen, welche gerade Das wiedergeben, was unser Bewusstsein vernachlässigt und unser Intellekt nicht beachtet hat!
– Nun, wie Sie wollen, schloss einer der Gäste. Aber wenn Sie hierauf nicht an Magnetismus glauben, dann, mein verehrter Herr, sind Sie ein ganz undankbarer Mensch!
*
Der Weg stieg im Walde von Aïtona sanft an. Riesige Pinien wölbten sich über uns zum seufzenden Dache und rauschten in ewiger Schwermut; rechts und links stiegen ihre geraden dünnen Stämme wie ein Meer von Orgelpfeifen empor, aus denen die eintönige Musik des Windes in den Baumkronen hervorzuquellen schien.
Nach dreistündigem Marsche lichtete sich dieses Durcheinander von langen Baumschäften; hin und wieder wölbte eine riesige, alleinstehende Pinie, deren Wipfel sich wie ein ungeheures Schirmdach ausspannten, ihr dunkles Grün, und plötzlich erreichten wir den Waldrand ein paar hundert Schritt unterhalb der Enge, die in das wilde Niolotal führt.
Auf den beiden hochragenden Kuppen, die diese Stelle überragten, erhoben sich ein paar unförmige alte Bäume, die dem nachfolgenden Gewimmel wie Aufklärer voranzugehen schienen. Als wir uns umdrehten, sahen wir den ganzen Wald sich vor uns dehnen, wie ein ungeheures Becken voller Grün, dessen Ränder, von nackten Felsen umstarrt, an den Himmel zu stoßen schienen.
Wir gingen weiter und hatten den Hohlweg nach zehn Minuten erreicht. Eine erstaunliche Landschaft erschloss sich da. Hinter einem neuen Walde lag ein Tal, wie ich es noch nie gesehen, eine Steinwüste von zehn Meilen Länge, von fünftausend Fuß hohen Bergen eingeschlossen, nirgends ein bebautes Feld oder ein Baum. Es war das Niolotal, die Heimat der korsischen Freiheit, das unbezwingbare Bollwerk, aus dem noch kein Eroberer das Bergvolk verdrängt hat.
– Hier flüchten sich auch alle unsere Banditen hin, meinte mein Begleiter.
Bald schritten wir auf der Talsohle dieses wilden und unvergleichlich schönen Bergkessels. Kein Halm, keine Pflanze war umher, nichts als Granit, soweit das Auge reichte, eine leuchtende Granitwüste, welche die pralle Sonne wie einen Backofen durchglühte. Es war, als ob sie eigens über diesen Steintopf schwebte. Wenn man die Augen zu den Felsgraten erhob, blieb man geblendet und gebannt stehen. Sie schienen rot und gezähnt, wie lange Korallenschnüre, die zwischen den roten Porphyrgipfeln aufgehängt waren, und der Himmel darüber war von sattem, veilchenfarbenen Tone; so verfärbte er sich in der Nähe dieser seltsamen Felszinken. Weiter unten war der Granit von stechendem Grau und unter unsern Füßen war er wie zermahlen und zerkörnt; wir schritten auf funkelndem Staube. Uns zur Rechten zuckte in langem, gewundenen Bette ein ungestümer Bergbach. Wie betäubt wankte man unter dieser schwebenden Glut, in diesem Lichtmeer durch das nackte, brennende, trockene, wilde Tal, dem das schäumende Wildwasser in Hast zu enteilen schien; denn es war ohnmächtig, dieses Gestein zu befeuchten, und verloren in diesem Schmelzofen, der es gierig aufsaugte, ohne je davon durchtränkt und erfrischt zu werden…
Zu unserer Rechten tauchte plötzlich ein kleines Holzkreuz auf, das in einen Steinhaufen steckte. Dort war einer getötet worden.
– Erzählt mir doch etwas von Euren Banditen, bat ich meinen Gefährten.
– Den berühmtesten davon habe ich selbst gekannt, rühmte er; es war der schreckliche Santa Lucia; dessen Geschichte will ich Ihnen erzählen.
Sein Vater war im Streit erschlagen worden; ein junger Mann dieses Landes sollte den Mord begangen haben, und Santa Lucia blieb allein mit seiner Schwester zurück. Er war ein schwacher, furchtsamer Knabe, klein, oftmals krank und ohne irgendwelche Willenskraft. Dem Mörder seines Vaters schwur er keine Vendetta. Alle seine Verwandten kamen zu ihm und beschworen ihm hoch und heilig, sich zu rächen; aber er blieb taub gegen ihr Flehen und selbst gegen ihre Drohungen.
Da nahm ihm seine Schwester nach altem korsischen Brauche entrüstet seine schwarzen Kleider fort, damit er nicht um einen Toten trauerte, der ungerächt geblieben. Aber selbst dagegen blieb er unempfindlich, und anstatt die noch geladene Flinte seines Vaters herunter zu nehmen, schloss er sich ein und zeigte sich nirgends mehr, denn er wagte den verächtlichen Blicken seiner Altersgenossen nicht Trotz zu bieten.
So vergingen Monde. Es schien, als hätte er die Untat ganz vergessen und lebte mit seiner Schwester in der Tiefe ihrer gemeinsamen Behausung.
Eines Tages nun heiratete der, den man des Mordes bezichtigte. Santa Lucia schien diese Nachricht nicht zu rühren, und der Bräutigam ging auf dem Wege zur Kirche, wie um ihn herauszufordern, an dem Hause der beiden Waisen vorbei. Bruder und Schwester saßen gerade am Fenster und aßen Gebackenes, als der Bursche den Brautzug erblickte, der vor seiner Wohnung vorbeizog. Plötzlich überkam ihn ein Zittern; er stand auf, ohne ein Wort zu sagen, bekreuzigte sich, langte die Flinte von der Herdwand herunter und ging heraus.
Wenn er später hierauf zu sprechen kam, pflegte er zu sagen: »Ich weiß nicht, was mir war, aber ich hatte es im Blute; ich fühlte, es musste so sein, ich könnte doch nicht widerstehen, und darum ging ich und versteckte die Flinte im Rohr an der Straße nach Corte.«
Eine Stunde darauf kehrte er mit leeren Händen und seiner alltäglichen Miene zurück. Seine Schwester glaubte, dass er an nichts mehr dächte. Aber des Nachts verschwand er.
Sein Feind musste noch in derselben Nacht mit seinen beiden Hochzeitsbittern zu Fuße nach Corte gehen. Sie schritten singend auf der Straße einher, als plötzlich Santa Lucia vor ihnen auftauchte und den Mörder anblitzte. »Jetzt ist’s Zeit!« schrie er und jagte ihm einen wohlgezielten Schuss durch die Brust.
Einer der Hochzeitsbitter lief davon, der andere blickte ihn an und fragte: »Was hast du da getan, Santa Lucia?«
Damit wollte er nach Corte laufen und Hilfe holen. Aber Santa Lucia wetterte ihn an: »Steh oder ich schieße dir dein Bein entzwei!« Der andere, der seine bisherige Furchtsamkeit kannte, erwiderte geringschätzig: »Das wagst du ja doch nicht!« und ging. Aber da krachte schon der Schuss und er brach zusammen; die Kugel hatte ein Bein zerschmettert.
Santa Lucia kam näher. »Ich will deine Wunde besehen«, sagte er. »Ist sie nicht schwer, so werde ich dich hier liegen lassen; ist sie tötlich, so werde ich dir den Rest geben.«
Damit untersuchte er die Wunde, und da er sie für tötlich befand, lud er sein Gewehr noch einmal, forderte den Verwundeten auf, sein Paternoster zu beten, und schoss ihm dann durch den Schädel. Am nächsten Morgen war er in den Bergen.
Und wissen Sie, was er da getan hat, dieser Santa Lucia?
Seine ganze Familie wurde von Gendarmen festgenommen. Selbst sein Onkel, der Pfarrer, den man als Anstifter des Mordes im Verdacht hatte, wurde ins Gefängnis geworfen und von den Verwandten des Erschossenen angeklagt. Es gelang ihm indessen, zu entfliehen; er griff gleichfalls zur Flinte und tat sich mit seinem Neffen zusammen.
Lucia tötete nun nacheinander die Ankläger seines Oheims und riss ihnen die Augen aus, um den anderen die Lehre zu geben, dass sie nichts behaupten sollten, was sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätten.
Er tötete alle Verwandten und den ganzen Anhang der feindlichen Familie. Er brachte in seinem Leben vierzehn Gendarmen um, zündete die Häuser seiner Widersacher an und war bis zu seinem Tode der gefürchteteste Räuber, dessen man sich entsinnen kann. – – –
Die Sonne verschwand hinter dem Monte Cinto, und die mächtigen Schatten des Granitstockes legten sich auf den Granit des Tales. Wir beschleunigten unsern Schritt, um noch vor Anbruch der Nacht nach dem kleinen Dorfe Albertacce zu kommen, das wie ein großer Steinklumpen an den Rändern der wilden Schlucht klebte. Und ich sagte im Gedanken an den Banditen:
– Was für eine schreckliche Sitte ist doch Eure Vendetta!
– Was wollen Sie? entgegnete mein Begleiter. Man tut nur seine Pflicht!
*