Duroy setzte sich auf ein niedriges Sofa, das ebenso rot war wie die Tapete. Die abgenutzten Federn gaben stark nach, sodass er das Gefühl hatte, als stürze er in ein Loch hinein. In dem ganzen, großen Gebäude vernahm er ein verworrenes Getöse, das Geräusch der großen Restaurants mit ihrem Geschirr und Tellergeklapper, dem Klingen von Silberzeug, den schnellen Schritten der Kellner auf den Gängen, deren Schall durch die Läufer gedämpft wird, dem Knarren der Türen, die sich einen Augenblick öffneten und den Stimmenlärm aller Insassen der engen Salons herausdringen ließen.
Nach einer Weile kam Forestier und drückte ihm die Hand mit einer herzlichen Vertraulichkeit, wie er sie ihm niemals auf der Vie Française gezeigt hatte.
»Die beiden Damen kommen zusammen,« sagte er, »solche Diners sind immer sehr nett.«
Dann besah er sich den Tisch, ließ eine Gasflamme, die wie ein Nachtlicht brannte, ganz ausdrehen, schloss einen Fensterflügel wegen des Luftzuges, suchte sich den geschütztesten Platz aus und sagte:
»Ich muss mich sehr in acht nehmen. Seit einem Monat ging es mir besser, aber vor einigen Tagen habe ich einen Rückfall bekommen. Ich muss mich am Dienstag erkältet haben, als ich aus dem Theater kam.«
Die Tür ging auf und die beiden Frauen erschienen, gefolgt von dem Oberkellner. Sie waren verschleiert und eingehüllt, mit jenem reizenden geheimnisvollen Wesen, wie es Frauen an Orten, die nicht ganz angebracht sind, so gern anzunehmen pflegen.
Als Duroy Madame Forestier begrüßte, machte sie ihm heftige Vorwürfe, warum er sie nicht besucht hätte. Dann sah sie ihre Freundin lächelnd an und fügte hinzu:
»Natürlich, Sie ziehen Madame de Marelle mir vor; für sie haben Sie also Zeit übrig.«
Man setzte sich, und als der Oberkellner Forestier die Weinkarte reichte, rief Madame de Marelle:
»Geben Sie den Herren, was sie wollen; uns bringen Sie Champagner in Eis, aber süßen Champagner, bitte, die beste Sorte, die Sie haben; sonst nichts!«
Als der Mann gegangen war, erklärte sie mit aufgeregtem Lachen:
»Heute will ich mir einen Schwips antrinken. Wir wollen ein Gelage veranstalten, ein richtiges Gelage.«
Forestier, der anscheinend nicht zugehört hatte, fragte:
»Würde es Ihnen recht sein, wenn ich das Fenster schlösse. Seit ein paar Tagen habe ich wieder Schmerzen in der Brust.«
»Aber bitte, selbstverständlich!«
Er stand auf, machte auch den zweiten Fensterflügel zu und setzte sich dann beruhigt und vergnügt wieder auf seinen Platz. Seine Frau sagte nichts; ihre Gedanken schienen ganz woanders zu sein. Ihre Augen waren gesenkt, ihre Blicke fielen auf die Gläser. Sie lächelte; ihr Gesichtsausdruck schien viel zu versprechen, ohne jemals etwas zu halten.
Es wurden Ostender Austern serviert. Sie waren klein und fett, sie sahen in ihren Schalen wie Ohren aus und schmolzen zwischen Zunge und Gaumen wie salzige Bonbons. Nach der Suppe gab es Lachsforelle, rosig wie das Fleisch eines jungen Mädchens, und nun begann die Unterhaltung in Fluss zu kommen. Man sprach zuerst über einen Stadtklatsch, der damals überall besprochen wurde; es war die Geschichte einer Dame der Gesellschaft, die vom Freund ihres Mannes dabei überrascht wurde, wie sie mit einem ausländischen Fürsten im Separé soupierte.
Forestier lachte sehr über das Abenteuer, die beiden Damen aber erklärten den indiskreten Schwätzer für einen Lümmel und Feigling. Duroy schloss sich ihrer Meinung an und erklärte laut und deutlich, in derartigen Fällen wäre für den Ehrenmann strengste Diskretion geboten, gleichgültig, ob er Beteiligter, Vertrauter oder bloß zufälliger Mitwisser sei. Er fügte hinzu, wie voll von wundervollen Dingen das Leben wäre, wenn wir immer auf eine gegenseitige, unbedingte Verschwiegenheit rechnen könnten. Was die Frauen nur zu oft, ja fast immer zurückschreckt, ist die Enthüllung des Geheimnisses. Er lächelte und fuhr fort:
»Nicht wahr? — Wie viele würden sich, dem heftigen Verlangen und der vorübergehenden Laune gehorchend, zur Liebe hinreißen lassen, wenn sie nicht fürchteten, ein. leichtes, kurzes Glück mit ewiger Schande und schmerzlichen Tränen bezahlen zu müssen. Er sprach mit ansteckender Überzeugungskraft, als plädierte er für sich selbst, als wollte er sagen: »Bei mir hat man derartige Gefahren nicht zu fürchten! Bitte, probieren Sie es nur einmal!«
Die beiden Frauen sahen ihn an und ihre Blicke schienen ihm zuzustimmen. Sie fanden, er spräche gut und zutreffend, und verrieten durch ihr wohlwollendes, zustimmendes Schweigen, dass ihre unbeugsame Moral der Pariserinnen nicht lange aushallen würde, wenn absolute Verschwiegenheit im Voraus garantiert wäre.
Forestier, der fast auf dem Sofa lag, ein Bein an sich gezogen und die Serviette in die Weste gesteckt, um den Frack nicht zu beflecken, erklärte plötzlich mit dem überzeugten Lachen eines Skeptikers:
»Weiß Gott! Das würden sie ausnützen. Wenn man nur der Verschwiegenheit sicher wäre. Donnerwetter! Und die Ehemänner! Die armen Ehemänner!«
Das Gespräch kam nun auf die Liebe im Allgemeinen. Duroy hielt sie zwar nicht für ewig, aber für dauerhaft. Sie musste zu einer zärtlichen Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen führen. Die Vereinigung der Sinne sei nur ein Siegel zur Gemeinschaft der Herzen. Vor peinigenden Eifersuchtsszenen dagegen und vor all den Qualen, die das Ende einer solchen Liebe zu begleiten pflegen, hatte er einen heftigen Abscheu.
Dann schwieg er. Madame de Marelle seufzte:
»Ja, die Liebe ist das einzig Angenehme und Schöne im Leben und wir verderben sie nur allzu oft durch unmögliche Forderungen.«
Frau Forestier spielte mit dem Messer und sagte:
»Ja … ja … es ist so schön, geliebt zu werden!«
Träumerisch schweiften ihre Blicke umher, und sie begann über Dinge nachzudenken, von denen sie nicht zu sprechen wagte.
Da das erste Zwischengericht auf sich warten ließ, so schlürften sie von Zeit zu Zeit einen Schluck Champagner und knabberten ein Stück Kruste von kleinen runden Brötchen und ihre Gedanken weilten bei der Liebe, schwollen langsam an und wirkten berauschend auf ihre Seelen, wie der helle Champagner, der Tropfen für Tropfen durch ihre Kehlen rann, ihr Blut erhitzte und den Geist verwirrte.
Man servierte zarte, leichte Hammelkoteletts, die auf einer dichten Unterlage von Spargelspitzen lagen.
»Oh, das ist was Feines!« rief Forestier aus.
Und sie aßen langsam und genossen das schöne Fleisch und das weiche cremeartige Gemüse.
Duroy fuhr fort:
»Wenn ich eine Frau liebe, dann verschwindet für mich alles übrige auf der Welt.«
Er sagte das aus voller Überzeugung und berauschte sich an diesem Vorgefühl von Liebesfreude, wie er sich eben jetzt an dem Genuss und Wohlgeschmack der Tafel begeisterte.
Madame Forestier murmelte mit einem unverständlichen und unnahbaren Gesichtsausdruck:
»Es gibt kein größeres Glück als den ersten Händedruck, wenn die eine Hand fragt: ›Liebst du mich?’, und die andere darauf mit einem leisen Druck erwidert: ›Ja, ich liebe dich!’«
Madame de Marelle hatte eben wieder ein neues Glas Champagner ausgetrunken und setzte es wieder hin mit den Worten:
»Ich bin weniger platonisch!«
Alle lachten und stimmten ihr mit erregten Blicken zu.
Forestier lehnte sich auf dem Sofa zurück, stützte sich mit ausgebreiteten Armen auf die Kissen und sagte ganz ernsthaft:
»Diese Freimütigkeit ehrt Sie und beweist, dass Sie eine offenherzige, praktische Frau sind. Aber dürfte ich vielleicht erfahren, welcher Ansicht Ihr Herr Gemahl ist?«
Sie zuckte bedächtig die Achseln, mit tiefer Verachtung, dann sagte sie mit klarer Stimme:
»Mein Mann hat über diesen Punkt überhaupt keine Meinung … er enthält sich …«
Dann glitt die Unterhaltung langsam von den allgemeinen Theorien über Liebe auf jene schlüpfrigen Gebiete hinab, wo man an feinen Anspielungen aus dem Reich des Eros Gefallen findet.
Es kam zu witzigen, geschickten Zweideutigkeiten, zu einem Schleierlüften mit Worten. Es überstürzten sich verwegene Scherze und pikante Andeutungen, die uns alles blitzartig klar und scharf vor Augen führen, was wir niemals auszusprechen wagen würden und uns plötzlich in leidenschaftlicher Erregung alles enthüllen, was sonst schamhaft und verschwiegen bei uns im Innern verschlossen bleibt, und was der vornehmen Gesellschaft eine Art geheimnisvoller Wollust gewährt, eine Art unkeuscher Berührung der Gedanken durch die gleichzeitig aufregende, sinnliche Beschwörung aller geheimen, schamlosen Triebe.
Man brachte den Braten: Rebhühner, mit Wachteln garniert, junge Erbsen und dann eine Terrine Gänseleberpastete, zu der es Salat gab, der wie grüner Schaum eine große Salatschüssel in Form eines Lavoirs füllte.
Sie kosteten von allem, ohne darauf zu achten, was sie eigentlich aßen, so sehr waren sie mit ihren Gedanken und der Unterhaltung beschäftigt, als ob sie in ein Bad von Liebe tauchten.
Die beiden Damen begannen bald auch Anekdoten zu erzählen. Madame de Marelle tat es mit einer natürlichen Kühnheit, die fast herausfordernd wirkte, während Madame Forestier mit einer gewissen Verschämtheit im Ton, in der Stimme, im Lächeln und in ihrem ganzen Wesen eine reizende, allerliebste Zurückhaltung bewahrte, was alle Keckheiten, die ihrem Munde entquollen, scheinbar milderte, in Wahrheit aber unterstrich.
Forestier hatte sich ganz und gar zwischen die Sofakissen vergraben; er lachte, trank und aß ununterbrochen und warf hin und wieder eine so unzweideutige Bemerkung dazwischen, dass die Frauen der brüsken Form halber etwas ungehalten waren und einige Sekunden lang ein verlegenes Gesicht zeigten. Hatte er eine zu derbe Zote vorgebracht, dann setzte er hinzu:
»Ihr benehmt euch fein, meine Kinder, wenn es so weiter geht, werdet ihr noch allerhand Dummheiten anstellen.«
Nach dem Dessert wurde Kaffee serviert, und die Liköre weckten in den erregten Gemütern eine noch schwerere und heißere Unruhe.
Madame de Marelle war angeheitert, wie sie es sich bei Beginn der Mahlzeit vorgenommen hatte, und das erkannte sie ohne weiteres an mit der lustigen, schwatzhaften Anmut einer Frau, die einen tatsächlich kleinen Rausch übertreibt, um ihre Gäste zu amüsieren.
Madame Forestier schwieg vermutlich aus Vorsicht, und auch Duroy, der fühlte, dass er in seinem angeregten Zustande leicht einen Missgriff begehen konnte, bewahrte eine geschickte Zurückhaltung.
Jetzt wurden Zigaretten herumgereicht und Forestier begann plötzlich zu husten. Es war ein schrecklicher Anfall, der ihm die Brust beinahe zu zerreißen schien. Mit krebsrotem Gesicht, die Stirne mit Schweiß bedeckt, erstickte er fast in seiner vorgehaltenen Serviette. Als der Anfall einigermaßen vorbei war, murmelte er wütend:
»Es ist zu dumm, ich kann solche Feste nicht mitmachen.«
Seine ganze, gute Laune verschwand vor der Angst, die ihm der Gedanke an seine Krankheit einflößte:
»Gehen wir nach Hause«, sagte er.
Madame de Marelle klingelte nach dem Kellner und verlangte die Rechnung. Sie erhielt sie sogleich und versuchte, sie zu lesen, aber die Ziffern tanzten ihr vor den Augen und sie reichte Duroy das Papier:
»Bitte, bezahlen Sie für mich, ich kann nicht mehr lesen, ich bin zu berauscht.«
Und gleichzeitig warf sie ihm die Börse zu. — Die Rechnung betrug hundertunddreißig Francs. Duroy prüfte sie, gab zwei Banknoten, ließ sich herausgeben und fragte halblaut: »Wie viel soll ich dem Kellner geben?«
»Was Sie wollen, ich weiß nicht.«
Er legte fünf Francs auf den Teller, gab der jungen Frau ihre Börse zurück und sagte:
»Darf ich Sie nach Hause begleiten?«
»Aber unbedingt. Ich bin überhaupt nicht mehr imstande, meine Wohnung zu finden.«
Sie drückten Herrn und Frau Forestier die Hand, und gleich darauf saß Duroy allein mit Madame de Marelle in einer rollenden Droschke.
Sie waren jetzt dicht aneinander gedrängt in diesem schwarzen Kasten eingeschlossen, der dann und wann auf einen Augenblick durch das Licht der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Er fühlte durch seinen Ärmel die Wärme ihrer Schulter, und er wusste ihr nichts zu sagen, absolut nichts, so sehr beherrschte ihn der heiße Wunsch, sie in seine Arme zu schließen. »Was würde sie denn tun, wenn ich es wagte?« Und die Erinnerung an alle anzüglichen Bemerkungen während des Essens erregten ihn, während ihn die Angst vor einem Skandal zurückhielt. Sie sagte kein Wort und saßt regungslos in ihrer Ecke. Er hätte gedacht, sie schliefe, hätte er nicht jedes Mal, wenn ein Lichtschein in das Kupee fiel, ihre Augen blitzen sehen. Was dachte sie wohl? Er fühlte zwar, dass er nicht sprechen dürfe, dass ein Wort, ein einziges Wort, das das Schweigen unterbräche, all seine Aussichten vernichten könnte, doch ihm fehlte der Mut, frech und brutal zuzugreifen.
Plötzlich fühlte er, wie ihr Fuß sich rührte. Es war eine harte, nervöse, ungeduldige Bewegung, vielleicht eine Aufforderung. Bei dieser fast unmerklichen Bewegung überlief ihn ein Schaudern von Kopf bis zu Fuß. Mit einem Ruck wandte er sich um und warf sich über sie. Er suchte ihren Mund mit seinen Lippen und mit den Händen ihr nacktes Fleisch.
Sie stieß einen Schrei aus, einen leichten Schrei; sie wollte sich aufrichten, ihn zurückstoßen, dann aber gab sie nach, als fehlte ihr die Kraft, sich zu wehren. Aber die Droschke hielt schon nach kurzer Zeit vor dem Hause, wo sie wohnte, und Duroy fand vor Überraschung kein leidenschaftliches Wort, um ihr seine dankbare Liebe zu gestehen.
Indessen erhob sie sich nicht und rührte sich nicht; sie schien wie betäubt von dem, was geschehen war. Da fürchtete er, der Kutscher könnte Verdacht schöpfen und stieg zuerst aus, um der jungen Dame die Hand zu reichen. Stolpernd, und ohne ein Wort zu sagen, stieg sie endlich aus der Droschke. Er läutete, und als die Tür aufging, fragte er zitternd: »Wann darf ich Sie wiedersehen?«
Sie flüsterte so leise, dass er es kaum hörte: »Kommen Sie morgen zu mir frühstücken.« Und sie verschwand im Schatten des Hausflurs, nachdem sie die schwere, laut dröhnende Tür zugeworfen hatte.
Er gab dem Kutscher fünf Francs und ging dann rasch und siegesgewiss, voll übermütiger Freude, seinen Weg zurück. Endlich hatte er eine Frau gefunden, eine Frau aus der Gesellschaft, aus der besten Pariser Gesellschaft. Wie leicht war es gewesen und wie unverhofft. Er hatte sich eingebildet, dass, um eines von diesen ersehnten Geschöpfen zu verführen und zu erobern, endlose Mühe, langes Warten und eine geschickte Belagerung durch Aufmerksamkeiten, Liebesworte, Seufzer und Geschenke nötig seien. Und siehe da, die erste, die ihm begegnete, ergab sich ihm mit einem Schlag, beim ersten Angriff, so schnell, dass er noch ganz verblüfft war.
»Sie war berauscht,« dachte er, »morgen wird die Tonart anders sein. Ich fürchte, es gibt Tränen.« Diese Aussicht beunruhigte ihn, dann aber sagte er sich: »Umso schlimmer; jetzt habe ich sie und lasse sie nicht wieder los.«
Und in einer wirren Vision, in der sich alle seine Zukunftshoffnungen auf Ruhm und Ehre, auf Reichtum und Liebe widerspiegelten, erblickte er plötzlich, ähnlich einem Schwarm von Figurantinnen bei den Theaterapotheosen, eine lange Reihe eleganter, reicher, vornehmer Frauen, die auf den goldenen Wolken seiner Träume eine nach der anderen lächelnd an ihm vorüberzogen.
Und auch sein Schlaf war reich von solchen Träumen.
Am nächsten Tage war er etwas aufgeregt, als er die Treppe zur Wohnung der Madame de Marelle hinaufstieg. Wie würde sie ihn empfangen? Würde sie überhaupt gestatten, ihn hereinzulassen? Womöglich war sie für ihn überhaupt nicht zu Hause? Wenn sie schwatzte… Nein, sie konnte gar nichts weitererzählen, ohne die ganze Wahrheit durchblicken zu lassen. Er war also völlig Herr der Situation.
Das kleine Dienstmädchen öffnete die Tür und hatte einen Gesichtsausdruck wie immer. Ihr war nichts anzusehen, denn fast hatte er erwartet, dass das Dienstmädchen auch ein verstörtes Aussehen zur Schau tragen würde.
»Geht es der gnädigen Frau gut?« fragte er.
»Jawohl, mein Herr,« antwortete sie, »wie immer.«
Sie ließ ihn in den Salon hinein. Er ging direkt auf den Kamin zu, um den Zustand seiner Frisur und seines Anzugs zu prüfen. Er zog sich die Krawatte vor dem Spiegel zurecht und sah in diesem die junge Frau, die an der Schwelle ihres Zimmers stand und ihn anschaute.
Er tat so, als bemerke er sie nicht, und so beobachteten sie sich erst einander prüfend eine Zeit lang durch den Spiegel, ehe sie sich gegenübertraten. Nun drehte er sich um. Sie rührte sich nicht und schien zu warten.
Er eilte auf sie zu und stammelte:
»Wie ich Sie liebe! Wie ich Sie liebe!«
Sie öffnete die Arme und sie küssten sich lange.
Er dachte: »Das war leichter, als ich geglaubt hatte, die Sache klappt ausgezeichnet!«
Und als ihre Lippen sich getrennt hatten, lächelte er, ohne ein Wort zu sagen, und versuchte, in seine Blicke den Ausdruck einer unendlichen Liebe hineinzulegen. Sie lächelte gleichfalls mit jenem Lächeln, das die Frauen haben, wenn sie ihr Verlangen, ihre Zustimmung, ihren Willen zur Hingabe ausdrücken wollen. Sie sagte leise:
»Wir sind allein. Ich habe Laurine zu einer Freundin zum Frühstück geschickt.«
Er küsste ihre Handgelenke und seufzte:
»Danke. Ich liebe Sie über alles!«
Sie nahm ihn am Arm, als ob er ihr Gatte wäre, und sie gingen zum Sofa, wo sie sich nebeneinander hinsetzten.
Er versuchte eine leichte und angenehme Unterhaltung anzufangen. Da er jedoch keine Ausdrücke fand, stammelte er:
»Also … Sie sind mir nicht böse?«
Sie legte ihm ihre Hand auf den Mund:
»Sei doch still.«
Und so saßen sie schweigend, die Blicke ineinander versenkt, mit verschlungenen Händen, liebebedürftig und glühend vor Verlangen.
»Wie heiß habe ich Sie begehrt!« sagte er.
»Sei doch still!« wiederholte sie.
Man hörte das Mädchen im Esszimmer hinter der Wand mit dem Geschirr klappern.
Er stand auf. »Ich kann nicht so dicht neben Ihnen bleiben, sonst verliere ich den Kopf.«
Die Tür ging auf.
»Es ist angerichtet, gnädige Frau!«
Duroy bot der jungen Dame mit Würde den Arm. Sie saßen sich bei Tisch gegenüber; sie sahen sich an und lächelten einander immerfort zu, ganz miteinander beschäftigt und ganz umfangen von dem süßen Zauber aufblühender Leidenschaft. Sie aßen, ohne zu merken, was. Er fühlte einen Fuß, einen kleinen Fuß, der unter dem Tisch sich regte. Er nahm ihn zwischen die seinen, hielt ihn fest und drückte ihn, so stark er konnte. Das Mädchen kam und ging, brachte die Speisen und trug sie wieder ab, ohne dass sie irgendetwas zu merken schien.
Als die Mahlzeit beendet war, kehrten sie in den Salon zurück und setzten sich wieder auf das Sofa, Seite an Seite. Er wollte zärtlich sein und sie umarmen; sie wies ihn sanft zurück.
»Nehmen Sie sich in acht, man könnte hereinkommen.«
Er fragte: »Wann könnte ich Sie ganz allein sehen, um Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie liebe?«
Sie neigte sich zu ihm hin und sagte ihm ganz leise ins Ohr:
»Ich komme in den nächsten Tagen einmal zu Ihnen.«
Er fühlte, wie er rot wurde.
»Zu mir? … Es ist … ja so … ich meine nur… es ist sehr bescheiden.«
Sie lächelte. »Das tut nichts, ich will Sie besuchen und nicht Ihre Wohnung.«
Nun drängte er sie, zu sagen, wann sie kommen würde. Sie bestimmte einen der letzten Tage der nächsten Woche; er flehte sie an, früher zu kommen, mit stammelnden Worten und leuchtenden Augen, während er ihre Hände streichelte, drückte und presste. Sein Gesicht glühte fieberhaft, verzerrt von Verlangen, das einer Mahlzeit zu zweien zu folgen pflegt. Es machte ihr Spaß, sein glühendes Bitten zu sehen und zu hören und sie ging einen Tag nach dem anderen zurück. Aber er wiederholte immerfort:
»Morgen … Sagen Sie … morgen.«
Endlich willigte sie ein. »Gut, also morgen, um fünf.«
Freudig und erleichtert seufzte er auf und nun plauderten sie wieder ganz ruhig; sie waren so vertraut miteinander, als hätten sie sich bereits seit zwanzig Jahren gekannt.
Ein Klingelzeichen ertönte; mit einem Ruck fuhren sie auseinander.
»Es wird wohl Laurine sein«, flüsterte sie.
Das Kind erschien, blieb einen Augenblick erstaunt stehen und lief dann händeklatschend auf Duroy zu. Als sie ihn sah, war sie außer sich vor Freude und rief:
»Ah, mein Bel-Ami.«
Madame de Marelle begann zu lachen:
»Halt, Bel-Ami. Laurine hat Sie so getauft. Das ist ein netter Kosename für Sie und ich werde Sie auch ›Bel-Ami‹ nennen.«
Er nahm das Mädchen auf die Knie und musste nun mit ihr alle die Spiele spielen, die er sie gelehrt hatte.
Zwanzig Minuten vor drei brach er auf, um auf die Redaktion zu gehen. Auf der Treppe flüsterte er nochmals durch die halboffene Tür:
»Morgen, um fünf.«
Die junge Frau antwortete lächelnd »Ja« und verschwand.
Sobald er seine Tagesarbeit erledigt hatte, überlegte er sich, wie er sein Zimmer ausschmücken sollte, um seine Geliebte zu empfangen, und wie er am besten die Ärmlichkeit des Raumes verbergen sollte. Er kam auf den Gedanken, allerlei kleine japanische Gegenstände mit Stecknadeln an den Wänden zu befestigen und kaufte sich für fünf Francs eine ganze Sammlung von kleinen Fächern und Wandschirmen, mit denen er die beschmutzten Stellen der Tapete verdeckte. Auf die Fensterscheiben klebte er durchscheinende Bilder von Flüssen mit Kähnen, von Vogelschwärmen auf glühendem Himmel, von buntgekleideten Damen oder von einer Reihe kleiner, schwarzer Gestalten, die auf einer schneebedeckten Ebene wanderten.
Auf diese Weise sah sein Zimmer, das gerade groß genug war, um darin zu schlafen und zu sitzen, sehr bald wie das Innere einer bemalten Papierlaterne aus. Er hielt die Wirkung für hinreichend und verbrachte den Abend damit, aus kolorierten Blättern, die er noch besaß, einige Vögel auszuschneiden und an die Decke zu kleben. Dann legte er sich schlafen, eingewiegt durch das Pfeifen der Eisenbahnzüge.
Am nächsten Tage kehrte er frühzeitig heim und brachte Gebäck und eine Flasche Madeira mit, die er beim Kolonialwarenhändler gekauft hatte. Dann musste er nochmals hinunter, um zwei Teller und zwei Gläser zu besorgen, worauf er alles auf den Waschtisch stellte, dessen schmutzige Platte er durch eine Serviette verdeckte. Das Waschbecken und den Wasserkrug hatte er darunter versteckt.
Und nun wartete er.
Um viertel nach fünf erschien sie; die bunten Bilderchen gefielen ihr sehr, und sie rief:
»Es ist nett bei Ihnen, nur auf der Treppe trifft man zu viel Leute.«
Er nahm sie in seine Arme und küsste leidenschaftlich ihre Haare durch den Schleier hindurch zwischen Stirn und Hut.
Anderthalb Stunden später begleitete er sie zu einer Droschkenhaltestelle in der Rue de Rome. Als sie im Wagen saß, sagte er leise:
»Dienstag um dieselbe Zeit.«
Sie wiederholte:
»Um dieselbe Zeit Dienstag.«
Da es schon dunkelte, zog sie seinen Kopf noch einmal an sich und küsste ihn auf den Mund.
Der Kutscher hieb auf sein Pferd ein; sie rief:
»Leb’ wohl, Bel-Ami!«
Der Schimmel begann langsam zu traben und die Droschke rollte davon.
Drei Wochen lang besuchte Frau de Marelle jeden zweiten oder dritten Tag ihren Freund, manchmal des Morgens, manchmal des Abends.
Eines Nachmittags, als er sie erwartete, hörte er lauten Lärm auf der Treppe und eilte nach der Tür. Ein Kind heulte. Eine wütende Männerstimme schrie:
»Willst du Halunke wohl das Maul halten.«
Eine schrille, keifende Weiberstimme antwortete:
»Die dreckige Hure, die immer zum Journalisten hinaufläuft, hat meinen Nicolas umgestoßen. So ein Gesindel läuft hier frei herum und gibt nicht mal auf die Kinder auf der Treppe acht.«
Duroy war entsetzt und zog sich zurück, denn schon hörte er das Rauschen von Röcken und hastige Schritte die letzte Treppe hinaufeilen.
Es klopfte gleich darauf an seiner Tür, die er wieder geschlossen hatte, und er öffnete. Madame de Marelle stürzte atemlos, verstört ins Zimmer und stammelte: »Hast du gehört?«
Er tat, als ob er von nichts wüsste:
»Nein, was denn?«
»Wie sie mich beleidigt haben?«
»Wer?«
»Die abscheulichen Menschen, die da unten wohnen.«
»Aber nein, was gibt es denn? Sage es mir doch!«
Sie fing an zu schluchzen und konnte kein Wort hervorbringen. Er musste ihr den Hut abnehmen, ihr Korsett öffnen, sie aufs Bett legen und ihre Schläfen mit einem feuchten Tuch kühlen; sie erstickte fast. Dann, als ihre Erregung sich etwas gelegt hatte, brach ihre ganze Wut und Entrüstung los. Er sollte sofort hinuntergehen, sich mit den Leuten schlagen, sie umbringen.
»Das sind doch Arbeiter, rohe Menschen«, wiederholte er immer wieder. »Bedenke doch, man müsste sie der Polizei anzeigen, du könntest erkannt und festgenommen werden, du wärest verloren. Man gibt sich mit solchen Leuten nicht ab.«
Sie kam nun auf einen anderen Gedanken.
»Was sollen wir tun, ich kann nicht wieder herkommen!«
»Ganz einfach,« erwiderte er, »ich ziehe aus.«
Sie murmelte:
»Ja, aber das dauert zu lange.«
Dann fiel ihr plötzlich etwas anderes ein und sie sagte schnell und wieder ganz heiter:
»Nein, höre mal, ich weiß etwas. Überlass es mir, kümmere dich um nichts. Ich schicke dir morgen ein blaues Briefchen.« — (Blaues Briefchen nannte sie die geschlossenen Telegramme, wie sie innerhalb Paris befördert wurden.) — Jetzt lächelte sie, entzückt über ihren Einfall, den sie nicht offenbaren wollte und trieb tausend verliebte Tollheiten.
Trotzdem war sie sehr aufgeregt, als sie die Treppe wieder hinunterging; sie stützte sich mit aller Kraft auf den Arm ihres Geliebten; ihre Beine trugen sie kaum.
Die Treppe war leer, sie trafen niemanden.
Da er spät aufstand, lag er noch im Bett, als ihm am nächsten Morgen um elf Uhr der Postbote das versprochene »blaue Briefchen« brachte.
Duroy öffnete es und las:
»Rendezvous noch heute um fünf Uhr in der Rue de Constantinople 127. Lass Dich in die von Frau Duroy gemietete Wohnung führen. Einen Kuss von Clo.«
Punkt fünf Uhr trat er in die Pförtnerloge eines großen Chambre-garnie-Hauses ein und fragte:
»Hat hier Madame Duroy eine Wohnung gemietet?«
»Ja, mein Herr.«
»Wollen Sie mich bitte dorthin führen?«
Der Mann war offenbar an heikle Umstände gewöhnt, wo man sich klug und vorsichtig verhalten musste. Er sah ihn prüfend an, dann suchte er in der langen Reihe von Schlüsseln und fragte:
»Sie sind doch Herr Duroy?«
»Jawohl, das bin ich.«
Und er öffnete eine kleine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss, gegenüber der Pförtnerloge.
Der Salon war mit hellen und ziemlich neuen Tapeten beklebt und enthielt ein Mahagonisofa, das mit grünem Plüsch, mit gelben Arabesken überzogen war. Auf dem Boden lag ein kleiner Teppich, der so dünn war, dass man das Holz darunter fühlte. Das Schlafzimmer war so winzig, dass das Bett es zu dreiviertel ausfüllte. Es war ein breites Bett, wie man es in möblierten Zimmern findet, und reichte von einer Wand bis zur anderen. Schwere blaue Vorhänge, ebenfalls aus Plüsch, hingen daran herunter. Darüber lag eine rotseidene Daunendecke mit verdächtigen Flecken.
Duroy war unruhig und unzufrieden; er dachte: »Das wird mich ein Heidengeld kosten, dieses Quartier. Ich werde wieder irgendwo pumpen müssen. Es ist zu dumm, was sie da alles angestellt hat.«