Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Du­roy setz­te sich auf ein nied­ri­ges Sofa, das eben­so rot war wie die Ta­pe­te. Die ab­ge­nutz­ten Fe­dern ga­ben stark nach, so­dass er das Ge­fühl hat­te, als stür­ze er in ein Loch hin­ein. In dem gan­zen, großen Ge­bäu­de ver­nahm er ein ver­wor­re­nes Ge­tö­se, das Geräusch der großen Re­stau­rants mit ih­rem Ge­schirr und Teller­ge­klap­per, dem Klin­gen von Sil­ber­zeug, den schnel­len Schrit­ten der Kell­ner auf den Gän­gen, de­ren Schall durch die Läu­fer ge­dämpft wird, dem Knar­ren der Tü­ren, die sich einen Au­gen­blick öff­ne­ten und den Stim­men­lärm al­ler In­sas­sen der en­gen Sa­lons her­aus­drin­gen lie­ßen.

Nach ei­ner Wei­le kam Fo­res­tier und drück­te ihm die Hand mit ei­ner herz­li­chen Ver­trau­lich­keit, wie er sie ihm nie­mals auf der Vie Françai­se ge­zeigt hat­te.

»Die bei­den Da­men kom­men zu­sam­men,« sag­te er, »sol­che Di­ners sind im­mer sehr nett.«

Dann be­sah er sich den Tisch, ließ eine Gas­flam­me, die wie ein Nacht­licht brann­te, ganz aus­dre­hen, schloss einen Fens­ter­flü­gel we­gen des Luft­zu­ges, such­te sich den ge­schütz­tes­ten Platz aus und sag­te:

»Ich muss mich sehr in acht neh­men. Seit ei­nem Mo­nat ging es mir bes­ser, aber vor ei­ni­gen Ta­gen habe ich einen Rück­fall be­kom­men. Ich muss mich am Diens­tag er­käl­tet ha­ben, als ich aus dem Thea­ter kam.«

Die Tür ging auf und die bei­den Frau­en er­schie­nen, ge­folgt von dem Ober­kell­ner. Sie wa­ren ver­schlei­ert und ein­gehüllt, mit je­nem rei­zen­den ge­heim­nis­vol­len We­sen, wie es Frau­en an Or­ten, die nicht ganz an­ge­bracht sind, so gern an­zu­neh­men pfle­gen.

Als Du­roy Ma­da­me Fo­res­tier be­grüß­te, mach­te sie ihm hef­ti­ge Vor­wür­fe, warum er sie nicht be­sucht hät­te. Dann sah sie ihre Freun­din lä­chelnd an und füg­te hin­zu:

»Na­tür­lich, Sie zie­hen Ma­da­me de Ma­rel­le mir vor; für sie ha­ben Sie also Zeit üb­rig.«

Man setz­te sich, und als der Ober­kell­ner Fo­res­tier die Wein­kar­te reich­te, rief Ma­da­me de Ma­rel­le:

»Ge­ben Sie den Her­ren, was sie wol­len; uns brin­gen Sie Cham­pa­gner in Eis, aber sü­ßen Cham­pa­gner, bit­te, die bes­te Sor­te, die Sie ha­ben; sonst nichts!«

Als der Mann ge­gan­gen war, er­klär­te sie mit auf­ge­reg­tem La­chen:

»Heu­te will ich mir einen Schwips antrin­ken. Wir wol­len ein Ge­la­ge ver­an­stal­ten, ein rich­ti­ges Ge­la­ge.«

Fo­res­tier, der an­schei­nend nicht zu­ge­hört hat­te, frag­te:

»Wür­de es Ih­nen recht sein, wenn ich das Fens­ter schlös­se. Seit ein paar Ta­gen habe ich wie­der Schmer­zen in der Brust.«

»Aber bit­te, selbst­ver­ständ­lich!«

Er stand auf, mach­te auch den zwei­ten Fens­ter­flü­gel zu und setz­te sich dann be­ru­higt und ver­gnügt wie­der auf sei­nen Platz. Sei­ne Frau sag­te nichts; ihre Ge­dan­ken schie­nen ganz wo­an­ders zu sein. Ihre Au­gen wa­ren ge­senkt, ihre Bli­cke fie­len auf die Glä­ser. Sie lä­chel­te; ihr Ge­sichts­aus­druck schi­en viel zu ver­spre­chen, ohne je­mals et­was zu hal­ten.

Es wur­den Os­ten­der Aus­tern ser­viert. Sie wa­ren klein und fett, sie sa­hen in ih­ren Scha­len wie Ohren aus und schmol­zen zwi­schen Zun­ge und Gau­men wie sal­zi­ge Bon­bons. Nach der Sup­pe gab es Lachs­fo­rel­le, ro­sig wie das Fleisch ei­nes jun­gen Mäd­chens, und nun be­gann die Un­ter­hal­tung in Fluss zu kom­men. Man sprach zu­erst über einen Stadt­klatsch, der da­mals über­all be­spro­chen wur­de; es war die Ge­schich­te ei­ner Dame der Ge­sell­schaft, die vom Freund ih­res Man­nes da­bei über­rascht wur­de, wie sie mit ei­nem aus­län­di­schen Fürs­ten im Se­paré sou­pier­te.

Fo­res­tier lach­te sehr über das Aben­teu­er, die bei­den Da­men aber er­klär­ten den in­dis­kre­ten Schwät­zer für einen Lüm­mel und Feig­ling. Du­roy schloss sich ih­rer Mei­nung an und er­klär­te laut und deut­lich, in der­ar­ti­gen Fäl­len wäre für den Ehren­mann strengs­te Dis­kre­ti­on ge­bo­ten, gleich­gül­tig, ob er Be­tei­lig­ter, Ver­trau­ter oder bloß zu­fäl­li­ger Mit­wis­ser sei. Er füg­te hin­zu, wie voll von wun­der­vol­len Din­gen das Le­ben wäre, wenn wir im­mer auf eine ge­gen­sei­ti­ge, un­be­ding­te Ver­schwie­gen­heit rech­nen könn­ten. Was die Frau­en nur zu oft, ja fast im­mer zu­rück­schreckt, ist die Ent­hül­lung des Ge­heim­nis­ses. Er lä­chel­te und fuhr fort:

»Nicht wahr? — Wie vie­le wür­den sich, dem hef­ti­gen Ver­lan­gen und der vor­über­ge­hen­den Lau­ne ge­hor­chend, zur Lie­be hin­rei­ßen las­sen, wenn sie nicht fürch­te­ten, ein. leich­tes, kur­z­es Glück mit ewi­ger Schan­de und schmerz­li­chen Trä­nen be­zah­len zu müs­sen. Er sprach mit an­ste­cken­der Über­zeu­gungs­kraft, als plä­dier­te er für sich selbst, als woll­te er sa­gen: »Bei mir hat man der­ar­ti­ge Ge­fah­ren nicht zu fürch­ten! Bit­te, pro­bie­ren Sie es nur ein­mal!«

Die bei­den Frau­en sa­hen ihn an und ihre Bli­cke schie­nen ihm zu­zu­stim­men. Sie fan­den, er sprä­che gut und zu­tref­fend, und ver­rie­ten durch ihr wohl­wol­len­des, zu­stim­men­des Schwei­gen, dass ihre un­beug­sa­me Moral der Pa­ri­se­r­in­nen nicht lan­ge aus­hal­len wür­de, wenn ab­so­lu­te Ver­schwie­gen­heit im Voraus ga­ran­tiert wäre.

Fo­res­tier, der fast auf dem Sofa lag, ein Bein an sich ge­zo­gen und die Ser­vi­et­te in die Wes­te ge­steckt, um den Frack nicht zu be­fle­cken, er­klär­te plötz­lich mit dem über­zeug­ten La­chen ei­nes Skep­ti­kers:

»Weiß Gott! Das wür­den sie aus­nüt­zen. Wenn man nur der Ver­schwie­gen­heit si­cher wäre. Don­ner­wet­ter! Und die Ehe­män­ner! Die ar­men Ehe­män­ner!«

Das Ge­spräch kam nun auf die Lie­be im All­ge­mei­nen. Du­roy hielt sie zwar nicht für ewig, aber für dau­er­haft. Sie muss­te zu ei­ner zärt­li­chen Freund­schaft und ge­gen­sei­ti­gem Ver­trau­en füh­ren. Die Ve­rei­ni­gung der Sin­ne sei nur ein Sie­gel zur Ge­mein­schaft der Her­zen. Vor pei­ni­gen­den Ei­fer­suchtss­ze­nen da­ge­gen und vor all den Qua­len, die das Ende ei­ner sol­chen Lie­be zu be­glei­ten pfle­gen, hat­te er einen hef­ti­gen Ab­scheu.

Dann schwieg er. Ma­da­me de Ma­rel­le seufz­te:

»Ja, die Lie­be ist das ein­zig An­ge­neh­me und Schö­ne im Le­ben und wir ver­der­ben sie nur all­zu oft durch un­mög­li­che For­de­run­gen.«

Frau Fo­res­tier spiel­te mit dem Mes­ser und sag­te:

»Ja … ja … es ist so schön, ge­liebt zu wer­den!«

Träu­me­risch schweif­ten ihre Bli­cke um­her, und sie be­gann über Din­ge nach­zu­den­ken, von de­nen sie nicht zu spre­chen wag­te.

Da das ers­te Zwi­schen­ge­richt auf sich war­ten ließ, so schlürf­ten sie von Zeit zu Zeit einen Schluck Cham­pa­gner und knab­ber­ten ein Stück Krus­te von klei­nen run­den Bröt­chen und ihre Ge­dan­ken weil­ten bei der Lie­be, schwol­len lang­sam an und wirk­ten be­rau­schend auf ihre See­len, wie der hel­le Cham­pa­gner, der Trop­fen für Trop­fen durch ihre Keh­len rann, ihr Blut er­hitz­te und den Geist ver­wirr­te.

Man ser­vier­te zar­te, leich­te Ham­mel­ko­te­letts, die auf ei­ner dich­ten Un­ter­la­ge von Spar­gel­spit­zen la­gen.

»Oh, das ist was Fei­nes!« rief Fo­res­tier aus.

Und sie aßen lang­sam und ge­nos­sen das schö­ne Fleisch und das wei­che cre­me­ar­ti­ge Ge­mü­se.

Du­roy fuhr fort:

»Wenn ich eine Frau lie­be, dann ver­schwin­det für mich al­les üb­ri­ge auf der Welt.«

Er sag­te das aus vol­ler Über­zeu­gung und be­rausch­te sich an die­sem Vor­ge­fühl von Lie­bes­freu­de, wie er sich eben jetzt an dem Ge­nuss und Wohl­ge­schmack der Ta­fel be­geis­ter­te.

Ma­da­me Fo­res­tier mur­mel­te mit ei­nem un­ver­ständ­li­chen und un­nah­ba­ren Ge­sichts­aus­druck:

»Es gibt kein grö­ße­res Glück als den ers­ten Hän­de­druck, wenn die eine Hand fragt: ›Liebst du mich?’, und die an­de­re dar­auf mit ei­nem lei­sen Druck er­wi­dert: ›Ja, ich lie­be dich!’«

Ma­da­me de Ma­rel­le hat­te eben wie­der ein neu­es Glas Cham­pa­gner aus­ge­trun­ken und setz­te es wie­der hin mit den Wor­ten:

»Ich bin we­ni­ger pla­to­nisch!«

Alle lach­ten und stimm­ten ihr mit er­reg­ten Bli­cken zu.

Fo­res­tier lehn­te sich auf dem Sofa zu­rück, stütz­te sich mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men auf die Kis­sen und sag­te ganz ernst­haft:

»Die­se Frei­mü­tig­keit ehrt Sie und be­weist, dass Sie eine of­fen­her­zi­ge, prak­ti­sche Frau sind. Aber dürf­te ich viel­leicht er­fah­ren, wel­cher An­sicht Ihr Herr Ge­mahl ist?«

Sie zuck­te be­däch­tig die Ach­seln, mit tiefer Ver­ach­tung, dann sag­te sie mit kla­rer Stim­me:

»Mein Mann hat über die­sen Punkt über­haupt kei­ne Mei­nung … er ent­hält sich …«

Dann glitt die Un­ter­hal­tung lang­sam von den all­ge­mei­nen Theo­ri­en über Lie­be auf jene schlüpf­ri­gen Ge­bie­te hin­ab, wo man an fei­nen An­spie­lun­gen aus dem Reich des Eros Ge­fal­len fin­det.

Es kam zu wit­zi­gen, ge­schick­ten Zwei­deu­tig­kei­ten, zu ei­nem Schlei­er­lüf­ten mit Wor­ten. Es über­stürz­ten sich ver­we­ge­ne Scher­ze und pi­kan­te An­deu­tun­gen, die uns al­les blitz­ar­tig klar und scharf vor Au­gen füh­ren, was wir nie­mals aus­zu­spre­chen wa­gen wür­den und uns plötz­lich in lei­den­schaft­li­cher Er­re­gung al­les ent­hül­len, was sonst scham­haft und ver­schwie­gen bei uns im In­nern ver­schlos­sen bleibt, und was der vor­neh­men Ge­sell­schaft eine Art ge­heim­nis­vol­ler Wol­lust ge­währt, eine Art un­keu­scher Berüh­rung der Ge­dan­ken durch die gleich­zei­tig auf­re­gen­de, sinn­li­che Be­schwö­rung al­ler ge­hei­men, scham­lo­sen Trie­be.

Man brach­te den Bra­ten: Reb­hüh­ner, mit Wach­teln gar­niert, jun­ge Erb­sen und dann eine Ter­ri­ne Gän­se­le­ber­pas­te­te, zu der es Salat gab, der wie grü­ner Schaum eine große Salat­schüs­sel in Form ei­nes La­voirs füll­te.

 

Sie kos­te­ten von al­lem, ohne dar­auf zu ach­ten, was sie ei­gent­lich aßen, so sehr wa­ren sie mit ih­ren Ge­dan­ken und der Un­ter­hal­tung be­schäf­tigt, als ob sie in ein Bad von Lie­be tauch­ten.

Die bei­den Da­men be­gan­nen bald auch An­ek­do­ten zu er­zäh­len. Ma­da­me de Ma­rel­le tat es mit ei­ner na­tür­li­chen Kühn­heit, die fast her­aus­for­dernd wirk­te, wäh­rend Ma­da­me Fo­res­tier mit ei­ner ge­wis­sen Ver­schämt­heit im Ton, in der Stim­me, im Lä­cheln und in ih­rem gan­zen We­sen eine rei­zen­de, al­ler­liebs­te Zu­rück­hal­tung be­wahr­te, was alle Keck­hei­ten, die ih­rem Mun­de ent­quol­len, schein­bar mil­der­te, in Wahr­heit aber un­ter­strich.

Fo­res­tier hat­te sich ganz und gar zwi­schen die So­fa­kis­sen ver­gra­ben; er lach­te, trank und aß un­un­ter­bro­chen und warf hin und wie­der eine so un­zwei­deu­ti­ge Be­mer­kung da­zwi­schen, dass die Frau­en der brüs­ken Form hal­ber et­was un­ge­hal­ten wa­ren und ei­ni­ge Se­kun­den lang ein ver­le­ge­nes Ge­sicht zeig­ten. Hat­te er eine zu der­be Zote vor­ge­bracht, dann setz­te er hin­zu:

»Ihr be­nehmt euch fein, mei­ne Kin­der, wenn es so wei­ter geht, wer­det ihr noch al­ler­hand Dumm­hei­ten an­stel­len.«

Nach dem Des­sert wur­de Kaf­fee ser­viert, und die Li­kö­re weck­ten in den er­reg­ten Ge­mü­tern eine noch schwe­re­re und hei­ße­re Un­ru­he.

Ma­da­me de Ma­rel­le war an­ge­hei­tert, wie sie es sich bei Be­ginn der Mahl­zeit vor­ge­nom­men hat­te, und das er­kann­te sie ohne wei­te­res an mit der lus­ti­gen, schwatz­haf­ten An­mut ei­ner Frau, die einen tat­säch­lich klei­nen Rausch über­treibt, um ihre Gäs­te zu amü­sie­ren.

Ma­da­me Fo­res­tier schwieg ver­mut­lich aus Vor­sicht, und auch Du­roy, der fühl­te, dass er in sei­nem an­ge­reg­ten Zu­stan­de leicht einen Miss­griff be­ge­hen konn­te, be­wahr­te eine ge­schick­te Zu­rück­hal­tung.

Jetzt wur­den Zi­ga­ret­ten her­um­ge­reicht und Fo­res­tier be­gann plötz­lich zu hus­ten. Es war ein schreck­li­cher An­fall, der ihm die Brust bei­na­he zu zer­rei­ßen schi­en. Mit krebs­ro­tem Ge­sicht, die Stir­ne mit Schweiß be­deckt, er­stick­te er fast in sei­ner vor­ge­hal­te­nen Ser­vi­et­te. Als der An­fall ei­ni­ger­ma­ßen vor­bei war, mur­mel­te er wü­tend:

»Es ist zu dumm, ich kann sol­che Fes­te nicht mit­ma­chen.«

Sei­ne gan­ze, gute Lau­ne ver­schwand vor der Angst, die ihm der Ge­dan­ke an sei­ne Krank­heit ein­flö­ßte:

»Ge­hen wir nach Hau­se«, sag­te er.

Ma­da­me de Ma­rel­le klin­gel­te nach dem Kell­ner und ver­lang­te die Rech­nung. Sie er­hielt sie so­gleich und ver­such­te, sie zu le­sen, aber die Zif­fern tanz­ten ihr vor den Au­gen und sie reich­te Du­roy das Pa­pier:

»Bit­te, be­zah­len Sie für mich, ich kann nicht mehr le­sen, ich bin zu be­rauscht.«

Und gleich­zei­tig warf sie ihm die Bör­se zu. — Die Rech­nung be­trug hun­dert­und­drei­ßig Fran­cs. Du­roy prüf­te sie, gab zwei Bank­no­ten, ließ sich her­aus­ge­ben und frag­te halb­laut: »Wie viel soll ich dem Kell­ner ge­ben?«

»Was Sie wol­len, ich weiß nicht.«

Er leg­te fünf Fran­cs auf den Tel­ler, gab der jun­gen Frau ihre Bör­se zu­rück und sag­te:

»Darf ich Sie nach Hau­se be­glei­ten?«

»Aber un­be­dingt. Ich bin über­haupt nicht mehr im­stan­de, mei­ne Woh­nung zu fin­den.«

Sie drück­ten Herrn und Frau Fo­res­tier die Hand, und gleich dar­auf saß Du­roy al­lein mit Ma­da­me de Ma­rel­le in ei­ner rol­len­den Drosch­ke.

Sie wa­ren jetzt dicht an­ein­an­der ge­drängt in die­sem schwar­zen Kas­ten ein­ge­schlos­sen, der dann und wann auf einen Au­gen­blick durch das Licht der Stra­ßen­la­ter­ne be­leuch­tet wur­de. Er fühl­te durch sei­nen Är­mel die Wär­me ih­rer Schul­ter, und er wuss­te ihr nichts zu sa­gen, ab­so­lut nichts, so sehr be­herrsch­te ihn der hei­ße Wunsch, sie in sei­ne Arme zu schlie­ßen. »Was wür­de sie denn tun, wenn ich es wag­te?« Und die Erin­ne­rung an alle an­züg­li­chen Be­mer­kun­gen wäh­rend des Es­sens er­reg­ten ihn, wäh­rend ihn die Angst vor ei­nem Skan­dal zu­rück­hielt. Sie sag­te kein Wort und saßt re­gungs­los in ih­rer Ecke. Er hät­te ge­dacht, sie schlie­fe, hät­te er nicht je­des Mal, wenn ein Licht­schein in das Ku­pee fiel, ihre Au­gen blit­zen se­hen. Was dach­te sie wohl? Er fühl­te zwar, dass er nicht spre­chen dür­fe, dass ein Wort, ein ein­zi­ges Wort, das das Schwei­gen un­ter­brä­che, all sei­ne Aus­sich­ten ver­nich­ten könn­te, doch ihm fehl­te der Mut, frech und bru­tal zu­zu­grei­fen.

Plötz­lich fühl­te er, wie ihr Fuß sich rühr­te. Es war eine har­te, ner­vö­se, un­ge­dul­di­ge Be­we­gung, viel­leicht eine Auf­for­de­rung. Bei die­ser fast un­merk­li­chen Be­we­gung über­lief ihn ein Schau­dern von Kopf bis zu Fuß. Mit ei­nem Ruck wand­te er sich um und warf sich über sie. Er such­te ih­ren Mund mit sei­nen Lip­pen und mit den Hän­den ihr nack­tes Fleisch.

Sie stieß einen Schrei aus, einen leich­ten Schrei; sie woll­te sich auf­rich­ten, ihn zu­rück­sto­ßen, dann aber gab sie nach, als fehl­te ihr die Kraft, sich zu weh­ren. Aber die Drosch­ke hielt schon nach kur­z­er Zeit vor dem Hau­se, wo sie wohn­te, und Du­roy fand vor Über­ra­schung kein lei­den­schaft­li­ches Wort, um ihr sei­ne dank­ba­re Lie­be zu ge­ste­hen.

In­des­sen er­hob sie sich nicht und rühr­te sich nicht; sie schi­en wie be­täubt von dem, was ge­sche­hen war. Da fürch­te­te er, der Kut­scher könn­te Ver­dacht schöp­fen und stieg zu­erst aus, um der jun­gen Dame die Hand zu rei­chen. Stol­pernd, und ohne ein Wort zu sa­gen, stieg sie end­lich aus der Drosch­ke. Er läu­te­te, und als die Tür auf­ging, frag­te er zit­ternd: »Wann darf ich Sie wie­der­se­hen?«

Sie flüs­ter­te so lei­se, dass er es kaum hör­te: »Kom­men Sie mor­gen zu mir früh­stücken.« Und sie ver­schwand im Schat­ten des Haus­flurs, nach­dem sie die schwe­re, laut dröh­nen­de Tür zu­ge­wor­fen hat­te.

Er gab dem Kut­scher fünf Fran­cs und ging dann rasch und sie­ges­ge­wiss, voll über­mü­ti­ger Freu­de, sei­nen Weg zu­rück. End­lich hat­te er eine Frau ge­fun­den, eine Frau aus der Ge­sell­schaft, aus der bes­ten Pa­ri­ser Ge­sell­schaft. Wie leicht war es ge­we­sen und wie un­ver­hofft. Er hat­te sich ein­ge­bil­det, dass, um ei­nes von die­sen er­sehn­ten Ge­schöp­fen zu ver­füh­ren und zu er­obern, end­lo­se Mühe, lan­ges War­ten und eine ge­schick­te Be­la­ge­rung durch Auf­merk­sam­kei­ten, Lie­bes­wor­te, Seuf­zer und Ge­schen­ke nö­tig sei­en. Und sie­he da, die ers­te, die ihm be­geg­ne­te, er­gab sich ihm mit ei­nem Schlag, beim ers­ten An­griff, so schnell, dass er noch ganz ver­blüfft war.

»Sie war be­rauscht,« dach­te er, »mor­gen wird die Ton­art an­ders sein. Ich fürch­te, es gibt Trä­nen.« Die­se Aus­sicht be­un­ru­hig­te ihn, dann aber sag­te er sich: »Umso schlim­mer; jetzt habe ich sie und las­se sie nicht wie­der los.«

Und in ei­ner wir­ren Vi­si­on, in der sich alle sei­ne Zu­kunfts­hoff­nun­gen auf Ruhm und Ehre, auf Reich­tum und Lie­be wi­der­spie­gel­ten, er­blick­te er plötz­lich, ähn­lich ei­nem Schwarm von Fi­gu­ran­tin­nen bei den Thea­te­rapo­theo­sen, eine lan­ge Rei­he ele­gan­ter, rei­cher, vor­neh­mer Frau­en, die auf den gol­de­nen Wol­ken sei­ner Träu­me eine nach der an­de­ren lä­chelnd an ihm vor­über­zo­gen.

Und auch sein Schlaf war reich von sol­chen Träu­men.

Am nächs­ten Tage war er et­was auf­ge­regt, als er die Trep­pe zur Woh­nung der Ma­da­me de Ma­rel­le hin­auf­stieg. Wie wür­de sie ihn emp­fan­gen? Wür­de sie über­haupt ge­stat­ten, ihn her­ein­zu­las­sen? Wo­mög­lich war sie für ihn über­haupt nicht zu Hau­se? Wenn sie schwatz­te… Nein, sie konn­te gar nichts wei­ter­er­zäh­len, ohne die gan­ze Wahr­heit durch­bli­cken zu las­sen. Er war also völ­lig Herr der Si­tua­ti­on.

Das klei­ne Dienst­mäd­chen öff­ne­te die Tür und hat­te einen Ge­sichts­aus­druck wie im­mer. Ihr war nichts an­zu­se­hen, denn fast hat­te er er­war­tet, dass das Dienst­mäd­chen auch ein ver­stör­tes Aus­se­hen zur Schau tra­gen wür­de.

»Geht es der gnä­di­gen Frau gut?« frag­te er.

»Ja­wohl, mein Herr,« ant­wor­te­te sie, »wie im­mer.«

Sie ließ ihn in den Sa­lon hin­ein. Er ging di­rekt auf den Ka­min zu, um den Zu­stand sei­ner Fri­sur und sei­nes An­zugs zu prü­fen. Er zog sich die Kra­wat­te vor dem Spie­gel zu­recht und sah in die­sem die jun­ge Frau, die an der Schwel­le ih­res Zim­mers stand und ihn an­schau­te.

Er tat so, als be­mer­ke er sie nicht, und so be­ob­ach­te­ten sie sich erst ein­an­der prü­fend eine Zeit lang durch den Spie­gel, ehe sie sich ge­gen­über­tra­ten. Nun dreh­te er sich um. Sie rühr­te sich nicht und schi­en zu war­ten.

Er eil­te auf sie zu und stam­mel­te:

»Wie ich Sie lie­be! Wie ich Sie lie­be!«

Sie öff­ne­te die Arme und sie küss­ten sich lan­ge.

Er dach­te: »Das war leich­ter, als ich ge­glaubt hat­te, die Sa­che klappt aus­ge­zeich­net!«

Und als ihre Lip­pen sich ge­trennt hat­ten, lä­chel­te er, ohne ein Wort zu sa­gen, und ver­such­te, in sei­ne Bli­cke den Aus­druck ei­ner un­end­li­chen Lie­be hin­ein­zu­le­gen. Sie lä­chel­te gleich­falls mit je­nem Lä­cheln, das die Frau­en ha­ben, wenn sie ihr Ver­lan­gen, ihre Zu­stim­mung, ih­ren Wil­len zur Hin­ga­be aus­drücken wol­len. Sie sag­te lei­se:

»Wir sind al­lein. Ich habe Lau­ri­ne zu ei­ner Freun­din zum Früh­stück ge­schickt.«

Er küss­te ihre Hand­ge­len­ke und seufz­te:

»Dan­ke. Ich lie­be Sie über al­les!«

Sie nahm ihn am Arm, als ob er ihr Gat­te wäre, und sie gin­gen zum Sofa, wo sie sich ne­ben­ein­an­der hin­setz­ten.

Er ver­such­te eine leich­te und an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung an­zu­fan­gen. Da er je­doch kei­ne Aus­drücke fand, stam­mel­te er:

»Also … Sie sind mir nicht böse?«

Sie leg­te ihm ihre Hand auf den Mund:

»Sei doch still.«

Und so sa­ßen sie schwei­gend, die Bli­cke in­ein­an­der ver­senkt, mit ver­schlun­ge­nen Hän­den, lie­be­be­dürf­tig und glü­hend vor Ver­lan­gen.

»Wie heiß habe ich Sie be­gehrt!« sag­te er.

»Sei doch still!« wie­der­hol­te sie.

Man hör­te das Mäd­chen im Ess­zim­mer hin­ter der Wand mit dem Ge­schirr klap­pern.

Er stand auf. »Ich kann nicht so dicht ne­ben Ih­nen blei­ben, sonst ver­lie­re ich den Kopf.«

Die Tür ging auf.

»Es ist an­ge­rich­tet, gnä­di­ge Frau!«

Du­roy bot der jun­gen Dame mit Wür­de den Arm. Sie sa­ßen sich bei Tisch ge­gen­über; sie sa­hen sich an und lä­chel­ten ein­an­der im­mer­fort zu, ganz mit­ein­an­der be­schäf­tigt und ganz um­fan­gen von dem sü­ßen Zau­ber auf­blü­hen­der Lei­den­schaft. Sie aßen, ohne zu mer­ken, was. Er fühl­te einen Fuß, einen klei­nen Fuß, der un­ter dem Tisch sich reg­te. Er nahm ihn zwi­schen die sei­nen, hielt ihn fest und drück­te ihn, so stark er konn­te. Das Mäd­chen kam und ging, brach­te die Spei­sen und trug sie wie­der ab, ohne dass sie ir­gen­det­was zu mer­ken schi­en.

Als die Mahl­zeit be­en­det war, kehr­ten sie in den Sa­lon zu­rück und setz­ten sich wie­der auf das Sofa, Sei­te an Sei­te. Er woll­te zärt­lich sein und sie um­ar­men; sie wies ihn sanft zu­rück.

»Neh­men Sie sich in acht, man könn­te her­ein­kom­men.«

Er frag­te: »Wann könn­te ich Sie ganz al­lein se­hen, um Ih­nen zu sa­gen, wie sehr ich Sie lie­be?«

Sie neig­te sich zu ihm hin und sag­te ihm ganz lei­se ins Ohr:

»Ich kom­me in den nächs­ten Ta­gen ein­mal zu Ih­nen.«

Er fühl­te, wie er rot wur­de.

»Zu mir? … Es ist … ja so … ich mei­ne nur… es ist sehr be­schei­den.«

Sie lä­chel­te. »Das tut nichts, ich will Sie be­su­chen und nicht Ihre Woh­nung.«

Nun dräng­te er sie, zu sa­gen, wann sie kom­men wür­de. Sie be­stimm­te einen der letz­ten Tage der nächs­ten Wo­che; er fleh­te sie an, frü­her zu kom­men, mit stam­meln­den Wor­ten und leuch­ten­den Au­gen, wäh­rend er ihre Hän­de strei­chel­te, drück­te und press­te. Sein Ge­sicht glüh­te fie­ber­haft, ver­zerrt von Ver­lan­gen, das ei­ner Mahl­zeit zu zwei­en zu fol­gen pflegt. Es mach­te ihr Spaß, sein glü­hen­des Bit­ten zu se­hen und zu hö­ren und sie ging einen Tag nach dem an­de­ren zu­rück. Aber er wie­der­hol­te im­mer­fort:

»Mor­gen … Sa­gen Sie … mor­gen.«

End­lich wil­lig­te sie ein. »Gut, also mor­gen, um fünf.«

Freu­dig und er­leich­tert seufz­te er auf und nun plau­der­ten sie wie­der ganz ru­hig; sie wa­ren so ver­traut mit­ein­an­der, als hät­ten sie sich be­reits seit zwan­zig Jah­ren ge­kannt.

Ein Klin­gel­zei­chen er­tön­te; mit ei­nem Ruck fuh­ren sie aus­ein­an­der.

 

»Es wird wohl Lau­ri­ne sein«, flüs­ter­te sie.

Das Kind er­schi­en, blieb einen Au­gen­blick er­staunt ste­hen und lief dann hän­de­klat­schend auf Du­roy zu. Als sie ihn sah, war sie au­ßer sich vor Freu­de und rief:

»Ah, mein Bel-Ami.«

Ma­da­me de Ma­rel­le be­gann zu la­chen:

»Halt, Bel-Ami. Lau­ri­ne hat Sie so ge­tauft. Das ist ein net­ter Ko­sena­me für Sie und ich wer­de Sie auch ›Bel-Ami‹ nen­nen.«

Er nahm das Mäd­chen auf die Knie und muss­te nun mit ihr alle die Spie­le spie­len, die er sie ge­lehrt hat­te.

Zwan­zig Mi­nu­ten vor drei brach er auf, um auf die Re­dak­ti­on zu ge­hen. Auf der Trep­pe flüs­ter­te er noch­mals durch die halb­of­fe­ne Tür:

»Mor­gen, um fünf.«

Die jun­ge Frau ant­wor­te­te lä­chelnd »Ja« und ver­schwand.

So­bald er sei­ne Ta­ges­ar­beit er­le­digt hat­te, über­leg­te er sich, wie er sein Zim­mer aus­schmücken soll­te, um sei­ne Ge­lieb­te zu emp­fan­gen, und wie er am bes­ten die Ärm­lich­keit des Rau­mes ver­ber­gen soll­te. Er kam auf den Ge­dan­ken, al­ler­lei klei­ne ja­pa­ni­sche Ge­gen­stän­de mit Steck­na­deln an den Wän­den zu be­fes­ti­gen und kauf­te sich für fünf Fran­cs eine gan­ze Samm­lung von klei­nen Fä­chern und Wand­schir­men, mit de­nen er die be­schmutz­ten Stel­len der Ta­pe­te ver­deck­te. Auf die Fens­ter­schei­ben kleb­te er durch­schei­nen­de Bil­der von Flüs­sen mit Käh­nen, von Vo­gel­schwär­men auf glü­hen­dem Him­mel, von bunt­ge­klei­de­ten Da­men oder von ei­ner Rei­he klei­ner, schwar­zer Ge­stal­ten, die auf ei­ner schnee­be­deck­ten Ebe­ne wan­der­ten.

Auf die­se Wei­se sah sein Zim­mer, das ge­ra­de groß ge­nug war, um dar­in zu schla­fen und zu sit­zen, sehr bald wie das In­ne­re ei­ner be­mal­ten Pa­pier­la­ter­ne aus. Er hielt die Wir­kung für hin­rei­chend und ver­brach­te den Abend da­mit, aus ko­lo­rier­ten Blät­tern, die er noch be­saß, ei­ni­ge Vö­gel aus­zu­schnei­den und an die De­cke zu kle­ben. Dann leg­te er sich schla­fen, ein­ge­wiegt durch das Pfei­fen der Ei­sen­bahn­zü­ge.

Am nächs­ten Tage kehr­te er früh­zei­tig heim und brach­te Ge­bäck und eine Fla­sche Ma­dei­ra mit, die er beim Ko­lo­ni­al­wa­ren­händ­ler ge­kauft hat­te. Dann muss­te er noch­mals hin­un­ter, um zwei Tel­ler und zwei Glä­ser zu be­sor­gen, wor­auf er al­les auf den Wasch­tisch stell­te, des­sen schmut­zi­ge Plat­te er durch eine Ser­vi­et­te ver­deck­te. Das Wasch­be­cken und den Was­ser­krug hat­te er dar­un­ter ver­steckt.

Und nun war­te­te er.

Um vier­tel nach fünf er­schi­en sie; die bun­ten Bil­der­chen ge­fie­len ihr sehr, und sie rief:

»Es ist nett bei Ih­nen, nur auf der Trep­pe trifft man zu viel Leu­te.«

Er nahm sie in sei­ne Arme und küss­te lei­den­schaft­lich ihre Haa­re durch den Schlei­er hin­durch zwi­schen Stirn und Hut.

An­dert­halb Stun­den spä­ter be­glei­te­te er sie zu ei­ner Drosch­ken­hal­te­stel­le in der Rue de Rome. Als sie im Wa­gen saß, sag­te er lei­se:

»Diens­tag um die­sel­be Zeit.«

Sie wie­der­hol­te:

»Um die­sel­be Zeit Diens­tag.«

Da es schon dun­kel­te, zog sie sei­nen Kopf noch ein­mal an sich und küss­te ihn auf den Mund.

Der Kut­scher hieb auf sein Pferd ein; sie rief:

»Leb’ wohl, Bel-Ami!«

Der Schim­mel be­gann lang­sam zu tra­ben und die Drosch­ke roll­te da­von.

Drei Wo­chen lang be­such­te Frau de Ma­rel­le je­den zwei­ten oder drit­ten Tag ih­ren Freund, manch­mal des Mor­gens, manch­mal des Abends.

Ei­nes Nach­mit­tags, als er sie er­war­te­te, hör­te er lau­ten Lärm auf der Trep­pe und eil­te nach der Tür. Ein Kind heul­te. Eine wü­ten­de Män­ner­stim­me schrie:

»Willst du Ha­lun­ke wohl das Maul hal­ten.«

Eine schril­le, kei­fen­de Wei­ber­stim­me ant­wor­te­te:

»Die dre­cki­ge Hure, die im­mer zum Jour­na­lis­ten hin­auf­läuft, hat mei­nen Ni­co­las um­ge­sto­ßen. So ein Ge­sin­del läuft hier frei her­um und gibt nicht mal auf die Kin­der auf der Trep­pe acht.«

Du­roy war ent­setzt und zog sich zu­rück, denn schon hör­te er das Rau­schen von Rö­cken und has­ti­ge Schrit­te die letz­te Trep­pe hin­auf­ei­len.

Es klopf­te gleich dar­auf an sei­ner Tür, die er wie­der ge­schlos­sen hat­te, und er öff­ne­te. Ma­da­me de Ma­rel­le stürz­te atem­los, ver­stört ins Zim­mer und stam­mel­te: »Hast du ge­hört?«

Er tat, als ob er von nichts wüss­te:

»Nein, was denn?«

»Wie sie mich be­lei­digt ha­ben?«

»Wer?«

»Die ab­scheu­li­chen Men­schen, die da un­ten woh­nen.«

»Aber nein, was gibt es denn? Sage es mir doch!«

Sie fing an zu schluch­zen und konn­te kein Wort her­vor­brin­gen. Er muss­te ihr den Hut ab­neh­men, ihr Kor­sett öff­nen, sie aufs Bett le­gen und ihre Schlä­fen mit ei­nem feuch­ten Tuch küh­len; sie er­stick­te fast. Dann, als ihre Er­re­gung sich et­was ge­legt hat­te, brach ihre gan­ze Wut und Ent­rüs­tung los. Er soll­te so­fort hin­un­ter­ge­hen, sich mit den Leu­ten schla­gen, sie um­brin­gen.

»Das sind doch Ar­bei­ter, rohe Men­schen«, wie­der­hol­te er im­mer wie­der. »Be­den­ke doch, man müss­te sie der Po­li­zei an­zei­gen, du könn­test er­kannt und fest­ge­nom­men wer­den, du wä­rest ver­lo­ren. Man gibt sich mit sol­chen Leu­ten nicht ab.«

Sie kam nun auf einen an­de­ren Ge­dan­ken.

»Was sol­len wir tun, ich kann nicht wie­der her­kom­men!«

»Ganz ein­fach,« er­wi­der­te er, »ich zie­he aus.«

Sie mur­mel­te:

»Ja, aber das dau­ert zu lan­ge.«

Dann fiel ihr plötz­lich et­was an­de­res ein und sie sag­te schnell und wie­der ganz hei­ter:

»Nein, höre mal, ich weiß et­was. Über­lass es mir, küm­me­re dich um nichts. Ich schi­cke dir mor­gen ein blau­es Brief­chen.« — (Blau­es Brief­chen nann­te sie die ge­schlos­se­nen Te­le­gram­me, wie sie in­ner­halb Pa­ris be­för­dert wur­den.) — Jetzt lä­chel­te sie, ent­zückt über ih­ren Ein­fall, den sie nicht of­fen­ba­ren woll­te und trieb tau­send ver­lieb­te Toll­hei­ten.

Trotz­dem war sie sehr auf­ge­regt, als sie die Trep­pe wie­der hin­un­ter­ging; sie stütz­te sich mit al­ler Kraft auf den Arm ih­res Ge­lieb­ten; ihre Bei­ne tru­gen sie kaum.

Die Trep­pe war leer, sie tra­fen nie­man­den.

Da er spät auf­stand, lag er noch im Bett, als ihm am nächs­ten Mor­gen um elf Uhr der Post­bo­te das ver­spro­che­ne »blaue Brief­chen« brach­te.

Du­roy öff­ne­te es und las:

»Ren­dez­vous noch heu­te um fünf Uhr in der Rue de Con­stan­ti­no­ple 127. Lass Dich in die von Frau Du­roy ge­mie­te­te Woh­nung füh­ren. Ei­nen Kuss von Clo.«

Punkt fünf Uhr trat er in die Pfört­ner­lo­ge ei­nes großen Cham­bre-gar­nie-Hau­ses ein und frag­te:

»Hat hier Ma­da­me Du­roy eine Woh­nung ge­mie­tet?«

»Ja, mein Herr.«

»Wol­len Sie mich bit­te dort­hin füh­ren?«

Der Mann war of­fen­bar an hei­kle Um­stän­de ge­wöhnt, wo man sich klug und vor­sich­tig ver­hal­ten muss­te. Er sah ihn prü­fend an, dann such­te er in der lan­gen Rei­he von Schlüs­seln und frag­te:

»Sie sind doch Herr Du­roy?«

»Ja­wohl, das bin ich.«

Und er öff­ne­te eine klei­ne Zwei­zim­mer­woh­nung im Erd­ge­schoss, ge­gen­über der Pfört­ner­lo­ge.

Der Sa­lon war mit hel­len und ziem­lich neu­en Ta­pe­ten be­klebt und ent­hielt ein Ma­ha­go­ni­so­fa, das mit grü­nem Plüsch, mit gel­ben Ara­bes­ken über­zo­gen war. Auf dem Bo­den lag ein klei­ner Tep­pich, der so dünn war, dass man das Holz dar­un­ter fühl­te. Das Schlaf­zim­mer war so win­zig, dass das Bett es zu drei­vier­tel aus­füll­te. Es war ein brei­tes Bett, wie man es in mö­blier­ten Zim­mern fin­det, und reich­te von ei­ner Wand bis zur an­de­ren. Schwe­re blaue Vor­hän­ge, eben­falls aus Plüsch, hin­gen dar­an her­un­ter. Dar­über lag eine rot­sei­de­ne Dau­nen­de­cke mit ver­däch­ti­gen Fle­cken.

Du­roy war un­ru­hig und un­zu­frie­den; er dach­te: »Das wird mich ein Hei­den­geld kos­ten, die­ses Quar­tier. Ich wer­de wie­der ir­gend­wo pum­pen müs­sen. Es ist zu dumm, was sie da al­les an­ge­stellt hat.«