Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Plötz­lich über­fiel ihn ein furcht­ba­rer Krampf, der sei­nen Kör­per von Kopf bis zu Fuß er­be­ben ließ. Er stam­mel­te:

»Der Kirch­hof … mich … mein Gott …«

Er sprach nichts mehr und blieb un­be­weg­lich, ver­stört und rö­chelnd lie­gen.

Die Zeit ver­ging; die Uhr ei­nes na­he­ge­le­ge­nen Klos­ters schlug zwölf. Du­roy ver­ließ das Zim­mer, um et­was zu es­sen. Nach ei­ner Stun­de war er wie­der da. Ma­da­me Fo­res­tier woll­te nichts zu sich neh­men. Der Kran­ke hat­te sich nicht ge­rührt. Er fuhr noch im­mer mit sei­nen ma­ge­ren Fin­gern über die Bett­de­cke, als ob er sein Ge­sicht be­rüh­ren woll­te.

Die jun­ge Frau saß in ei­nem Lehn­stuhl am Fuße des Bet­tes. Du­roy nahm sich einen an­de­ren und setz­te sich ne­ben sie; bei­de war­te­ten schwei­gend.

Der Arzt hat­te eine Kran­ken­wär­te­rin ge­schickt; sie saß am Fens­ter und schlum­mer­te.

Du­roy be­gann auch schläf­rig zu wer­den, als er plötz­lich das Ge­fühl hat­te, dass et­was ge­sche­hen müss­te. Er öff­ne­te die Au­gen ge­ra­de noch früh ge­nug, um zu se­hen, wie Fo­res­tier die sei­nen wie zwei er­lö­schen­de Lich­ter schloss, ein kur­z­es Schlu­cken be­weg­te die Keh­le des Ster­ben­den, und in den Mund­win­keln wur­den zwei Blut­fä­den sicht­bar, die dann lang­sam auf das Hemd her­ab­tropf­ten. Die Hän­de hör­ten mit ih­rer schreck­li­chen Be­we­gung auf. Er at­me­te nicht mehr.

Die Frau be­griff, was ge­sche­hen war; sie stieß einen Schrei aus und warf sich schluch­zend ne­ben dem Bett auf die Knie. Ge­or­ges mach­te vor Schreck und Ent­set­zen me­cha­nisch das Zei­chen des Kreu­zes. Die Wär­te­rin war er­wacht und trat ans Bett her­an.

»Es ist vor­bei«, sag­te sie.

Und Du­roy, der sei­ne Kalt­blü­tig­keit wie­der­ge­won­nen hat­te, mur­mel­te mit ei­nem Seuf­zer der Er­leich­te­rung:

»Das hat nicht so­lan­ge ge­dau­ert, wie ich dach­te.«

Als die ers­te Be­stür­zung vor­über war und die ers­ten Trä­nen ge­flos­sen wa­ren, be­schäf­tig­te man sich mit all den Schrit­ten, die bei ei­nem To­des­fall er­for­der­lich sind. Du­roy wur­de bis in die Nacht hin­ein in An­spruch ge­nom­men.

Als er heim­kehr­te, war er sehr hung­rig. Frau Fo­res­tier aß auch ein we­nig. Dann setz­ten sie sich bei­de in das Trau­er­ge­mach, um an der Lei­che zu wa­chen.

Zwei Ker­zen brann­ten auf dem Nacht­tisch ne­ben ei­ner Scha­le, in der ein Bü­schel Mi­mo­sen schwamm, denn den üb­li­chen Buchs­baum­zweig hat­te man nir­gends auf­trei­ben kön­nen.

Sie sa­ßen jetzt al­lein, der jun­ge Mann und die jun­ge Frau ne­ben ihm, der nicht mehr auf die­ser Welt war. Sie spra­chen kein Wort und be­trach­te­ten ihn nach­denk­lich.

Ge­or­ges be­son­ders, den die Fins­ter­nis um die Lei­che be­ängs­tig­te, konn­te den Blick nicht von ihr wen­den. Sei­ne Au­gen und sei­ne Ge­dan­ken wur­den an­ge­zo­gen und fas­zi­niert von die­sem fleisch­lo­sen Ge­sicht, das in dem zit­tern­den Licht­schein der Ker­zen noch hoh­ler er­schi­en. Das war sein Freund Charles Fo­res­tier, der ges­tern noch mit ihm ge­spro­chen hat­te! Wie un­be­greif­lich und grau­en­voll war doch das Ende ei­nes mensch­li­chen We­sens. Oh, jetzt dach­te er an die Wor­te Nor­bert de Va­ren­nes, den die Furcht vor dem Tode so quäl­te: »Nie kehrt ein Mensch wie­der. Mil­lio­nen und Mil­li­ar­den ähn­li­cher We­sen wer­den ge­bo­ren, die auch Au­gen, Nase, Mund und Schä­del mit ei­nem Ge­hirn be­sit­zen, aber nie kehrt der­sel­be Mensch zu­rück, der dort aus­ge­streckt im Bet­te liegt.

Ein paar Jah­re lang hat­te er ge­lebt, ge­ges­sen, ge­lacht, ge­liebt und ge­hofft, wie je­der an­de­re. Und nun war es mit ihm zu Ende, zu Ende für im­mer. Was ist ein Men­schen­le­ben? Ein paar Tage und wei­ter nichts. Man kommt auf die Welt, man wächst her­an, man wird glück­lich, man war­tet und dann stirbt man. Fahr wohl! Mann oder Weib, du kommst auf die­se Erde nie wie­der! Und doch trägt je­der in sich eine fie­ber­haf­te, un­er­füll­ba­re Sehn­sucht nach Ewig­keit; und je­der ist ein klei­nes Wel­tall im großen Wel­tall, und ver­sinkt doch so schnell in das ewi­ge Nichts, um zum Nähr­bo­den für neu auf­ge­hen­de Kei­me zu wer­den. Pflan­zen, Tie­re, Men­schen, Ster­ne und Wel­ten, al­les lebt auf, dann stirbt es, um sich in et­was Neu­es zu ver­wan­deln, und nie kehrt ein We­sen zu­rück; we­der ein Wurm, noch ein Mensch, noch ein Pla­net!

Ein dump­fes, un­end­li­ches Grau­en las­te­te ver­nich­tend auf der See­le Du­roys, der Schre­cken vor dem gren­zen­lo­sen, un­ver­meid­li­chen Nichts, das un­auf­hör­lich je­des kurz­le­bi­ge und schwa­che Le­be­we­sen zer­stört. Und er beug­te schon die Stirn vor die­ser ent­setz­li­chen dau­ern­den Dro­hung. Er dach­te an die Flie­gen, die ein paar Stun­den le­ben, an die Tie­re, die Tage, an die Men­schen, die ein paar Jah­re, und an die Wel­ten, die ein paar Jahr­hun­der­te le­ben. Wel­cher Un­ter­schied be­steht zwi­schen ih­nen? Ein paar Mor­gen­rö­ten mehr, wei­ter nichts!

Er wand­te die Au­gen ab, um die Lei­che nicht mehr se­hen zu müs­sen.

Ma­da­me Fo­res­tier saß mit ge­senk­tem Kopf da und schi­en eben­falls in schmerz­li­che Ge­dan­ken ver­sun­ken zu sein. Ihre blon­den Haa­re über dem trau­ri­gen Ge­sicht sa­hen so schön und reiz­voll aus, dass eine süße Emp­fin­dung, eine auf­blü­hen­de Hoff­nung das Herz des jun­gen Man­nes be­rühr­te. Wa­rum ver­zwei­feln, wenn man noch so vie­le Jah­re vor sich hat­te?

Er be­trach­te­te sie auf­merk­sam. Sie war von ih­ren Ge­dan­ken er­füllt und sah ihn nicht. Er sag­te sich: »Das ein­zig Gute und Schö­ne im Le­ben ist: die Lie­be! Ein ge­lieb­tes Weib in sei­nen Ar­men zu hal­ten — das ist das höchs­te Men­schen­glück auf die­ser Erde.«

Wel­ches Glück hat­te der Tote ge­habt, dass er eine so klu­ge und rei­zen­de Ka­me­ra­din ge­fun­den hat­te. Wie moch­ten sie sich wohl ken­nen­ge­lernt ha­ben? Wie war sie dazu ge­kom­men, einen so mit­tel­mä­ßi­gen und ar­men Bur­schen zu hei­ra­ten? Wie war es ihr ge­lun­gen, et­was aus ihm zu ma­chen?

Und er dach­te über alle Ge­heim­nis­se nach, die im Men­schen­le­ben ver­bor­gen sind. Er er­in­ner­te sich an alle Gerüch­te über den Gra­fen de Vau­drec, der sie an­geb­lich aus­ge­stat­tet und ver­hei­ra­tet hat­te. Was wür­de sie nun an­fan­gen? Wen wür­de sie hei­ra­ten? Ei­nen Ab­ge­ord­ne­ten, wie Ma­da­me de Ma­rel­le mein­te, oder einen jun­gen Mann mit Zu­kunft, einen neu­en ver­bes­ser­ten Fo­res­tier? Hat­te sie be­stimm­te Hoff­nun­gen, Plä­ne, Ab­sich­ten? Wie gern hät­te er das er­fah­ren! Aber warum zer­brach er sich den Kopf über ihre Zu­kunft? Er dach­te dar­über nach und es wur­de ihm klar, dass sei­ne Beun­ru­hi­gung aus je­nen dunklen, ver­bor­ge­nen Ge­dan­ken kam, die man vor sich selbst ge­heim­hält und dann ent­deckt, wenn man tief ins In­ners­te sei­ner See­le ein­dringt. Ja. warum soll­te er nicht ver­su­chen, sie zu er­obern? Wie stark und un­über­wind­lich wür­de er an ih­rer Sei­te sein? Wie si­cher und schnell wür­de er vor­wärts kom­men, und wie weit wür­de er es brin­gen? Und warum soll­te es nicht ge­lin­gen? Er wuss­te ganz ge­nau, dass er ihr ge­fiel, dass sie mehr für ihn emp­fand als bloß Sym­pa­thie, dass sie eine Nei­gung für ihn heg­te, wie sie zwi­schen zwei gleich­ge­ar­te­ten Na­tu­ren ent­steht und eben­so­sehr auf ei­nem ge­gen­sei­ti­gen Ge­fal­len wie auf ei­nem ge­hei­men Ein­ver­neh­men be­ruht. Sie kann­te ihn als klug, zäh und ent­schlos­sen, sie konn­te zu ihm Ver­trau­en ha­ben.

Hat­te sie ihn denn nicht in die­ser so schwe­ren Lage zu sich ge­ru­fen? Und warum ge­ra­de ihn? Lag dar­in nicht schon eine Art Wahl, eine Art Ge­ständ­nis? Vi­el­leicht so­gar Ent­schluss? Wenn sie ge­ra­de an ihn in dem Au­gen­blick dach­te, wo sie Wit­we wer­den soll­te, hat­te sie da nicht viel­leicht auch ge­dacht, dass er ihr ein neu­er Le­bens­ge­fähr­te und Bun­des­ge­nos­se sein soll­te?

Eine un­ge­dul­di­ge Neu­gier quäl­te ihn, er woll­te sie be­fra­gen, ihre Ab­sich­ten ken­nen­ler­nen. Über­mor­gen wür­de er ab­rei­sen, denn er konn­te nicht al­lein in ei­nem Hau­se mit die­ser Frau woh­nen. Er muss­te sich be­ei­len, er muss­te noch vor sei­ner Rück­kehr nach Pa­ris ihre Ab­sich­ten ge­schickt und fein­füh­lig er­grün­den, er durf­te sie nicht zu­rück­keh­ren las­sen, da­mit sie nicht auf Drän­gen ei­nes an­de­ren nach­gä­be und sich end­gül­tig bin­de.

Tie­fes Schwei­gen herrsch­te im Zim­mer. Man hör­te nur das me­tal­li­sche, re­gel­mä­ßi­ge Ti­cken der Uhr, die auf dem Ka­min stand.

»Sie müss­ten wohl sehr müde sein?« mur­mel­te er.

»Ja,« sag­te sie, »und vor al­lem tief trau­rig.«

Der Ton ih­rer Stim­me klang so selt­sam in die­sem düs­te­ren Raum, dass sie bei­de er­staunt wa­ren. Und sie blick­ten plötz­lich das Ant­litz des To­ten an, als hät­ten sie er­war­tet, dass er sich be­weg­te, sie an­re­de­te, wie er es noch vor we­ni­gen Stun­den tat.

Du­roy sprach wei­ter:

»Oh! Es ist ein schwe­rer Ver­lust für Sie und eine völ­li­ge Ver­än­de­rung in Ihrem Le­ben, eine wirk­li­che Um­wäl­zung Ihres gan­zen Da­seins.«

Sie stieß einen tie­fen Seuf­zer aus, ohne zu ant­wor­ten.

»Es ist trau­rig für eine jun­ge Frau, so al­lein im Le­ben zu ste­hen, wie Sie jetzt«, fuhr er fort.

Dann schwieg er wie­der. Sie sag­te nichts. Er stam­mel­te:

»Je­den­falls wis­sen Sie, wel­ches Ab­kom­men wir ge­trof­fen ha­ben. Sie kön­nen über mich ver­fü­gen, wie Sie wol­len. Ich ge­hö­re Ih­nen.«

Sie reich­te ihm die Hand und sah ihn mit so sanf­ten, trau­ri­gen Au­gen an, dass er bis ins In­ners­te sei­ner See­le er­grif­fen wur­de.

»Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te sie. »Sie sind über­aus gut. Wenn ich für Sie was tun dürf­te und könn­te, ich wür­de auch sa­gen: Ver­las­sen Sie sich auf mich.«

 

Er hat­te ihre Hand er­grif­fen und be­hielt sie in der sei­nen. Er press­te sie mit dem hei­ßen Ver­lan­gen, sie zu küs­sen. End­lich ent­schloss er sich dazu, nä­her­te sie lang­sam sei­nem Mun­de und drück­te die zar­te, et­was hei­ße, par­fü­mier­te und fie­be­ri­sche Hand an sei­ne Lip­pen. Als er dann fühl­te, dass die­ser zärt­li­che Freund­schafts­kuss et­was zu lan­ge dau­er­te, ließ er die klei­ne Hand wie­der fal­len. Sie sank lang­sam zu­rück auf das Knie der jun­gen Frau, die in erns­tem Ton ver­setz­te:

»Ja, ich wer­de mich sehr ein­sam füh­len, aber ich will ver­su­chen, tap­fer zu sein.«

Er wuss­te nicht recht, wie er es ihr be­greif­lich ma­chen soll­te, dass er sehr glück­lich sein wür­de, wenn sie sei­ne Frau wer­den woll­te. Ge­wiss konn­te er es ihr zu die­ser Stun­de an­ge­sichts die­ses To­ten nicht sa­gen, doch er hoff­te, eine je­ner viel­sa­gen­den, dop­pel­sin­ni­gen, an­stän­di­gen Re­dens­ar­ten zu fin­den, die al­les durch­bli­cken las­sen, ohne et­was di­rekt aus­zu­spre­chen.

Doch die Lei­che ge­nier­te ihn, die star­re, kal­te Lei­che, die vor ihm lag, und die sie zwi­schen sich fühl­ten.

Üb­ri­gens glaub­te er seit ei­ni­ger Zeit zu be­mer­ken, dass die Luft des ge­schlos­se­nen Zim­mers einen ver­däch­ti­gen Ge­ruch an­nahm, der aus je­ner stil­len, zu­sam­men­ge­sun­ke­nen Brust zu kom­men schi­en, der ers­te Hauch der Ver­we­sung, den die To­ten auf die Über­le­ben­den aus­strö­men, der schreck­li­che Duft, mit dem sie dann bald den en­gen Raum ih­res Sar­ges er­fül­len.

»Kön­nen wir nicht das Fens­ter et­was öff­nen?« frag­te Du­roy, »es scheint mir, dass die Luft schlecht ist.«

Sie ant­wor­te­te:

»Ge­wiss, mir ist es auch so vor­ge­kom­men;«

Er ging zum Fens­ter und öff­ne­te es. Ein Hauch der fri­schen, duf­ti­gen Nacht weh­te her­ein und ließ die bei­den Ker­zen ne­ben dem Bett fla­ckern. Drau­ßen brei­te­te wie am Tage vor­her der Mond sein ru­hig flu­ten­des Licht auf die wei­ßen Mau­ern der Vil­len und die brei­te, leuch­ten­de Flä­che des Mee­res. Du­roy at­me­te tief; er fühl­te sich jetzt von neu­en Hoff­nun­gen er­füllt und be­lebt vom Her­an­na­hen des Glücks.

Er dreh­te sich um:

»Kom­men Sie doch et­was fri­sche Luft schöp­fen,« sag­te er, »es ist herr­lich drau­ßen.«

Ru­hig kam sie an ihn her­an und lehn­te sich ne­ben ihn ans Fens­ter.

Und mit lei­ser Stim­me flüs­ter­te er:

»Hö­ren Sie mich an und ver­ste­hen Sie recht, was ich Ih­nen sage. Zür­nen Sie mir bit­te nicht, dass ich in die­sem Au­gen­blick von sol­chen Din­gen mit Ih­nen zu spre­chen wage, aber über­mor­gen schon muss ich Sie ver­las­sen, und wenn Sie nach Pa­ris zu­rück­kom­men, wird es viel­leicht zu spät sein. Se­hen Sie … ich bin ein ar­mer Teu­fel, ich be­sit­ze kein Ver­mö­gen, und mei­ne Stel­lung muss ich mir noch er­kämp­fen, das wis­sen Sie. Doch ich habe Wil­lens­kraft, et­was Ver­stand — so glau­be ich we­nigs­tens — und ich bin auf dem rich­ti­gen Wege. Bei ei­nem Man­ne, der sich schon durch­ge­setzt hat, weiß man, wor­an man ist, bei ei­nem An­fän­ger weiß man nicht, wie weit man kommt. Das ist viel­leicht schlim­mer, viel­leicht bes­ser. Als ich ein­mal bei Ih­nen war, sag­te ich Ih­nen, dass. es mein höchs­ter Traum wäre, ein­mal eine Frau wie Sie zu hei­ra­ten. Heu­te sage ich Ih­nen das noch ein­mal. Ant­wor­ten Sie mir noch nicht, las­sen Sie mich aus­re­den. Ich rich­te an Sie kei­ne Fra­ge, der Ort und die Zeit wür­den schlecht dazu pas­sen. Mir liegt nur dar­an, dass Sie wis­sen, wie glück­lich Sie mich mit ei­nem ein­zi­gen Wort ma­chen kön­nen, dass ich ganz nach Ihrem Be­lie­ben Ihr brü­der­li­cher Freund und auch Ihr Gat­te sein wer­de, dass ich mit Leib und See­le Ih­nen ge­hö­re. Ich will nicht, dass Sie mir jetzt schon ant­wor­ten, und noch we­ni­ger, dass die­ser Ge­gen­stand hier er­ör­tert wird. Wenn wir uns in Pa­ris wie­der­se­hen wer­den, wer­den Sie mir Ihren Ent­schluss mit­tei­len. Bis da­hin kein Wort mehr. Ein­ver­stan­den?«

Er hat­te ge­spro­chen, ohne sie an­zu­bli­cken, als streue er sei­ne Wor­te in die Nacht hin­aus. Und sie schi­en ihn nicht ge­hört zu ha­ben, so un­be­weg­lich war sie ge­blie­ben, und sie starr­te mit ru­hi­gem Blick in die wei­te Mond­land­schaft hin­aus. So blie­ben sie lan­ge ne­ben­ein­an­der, Schul­ter an Schul­ter, schweig­sam und nach­denk­lich ste­hen.

Schließ­lich mur­mel­te sie:

»Es wird kühl.«

Und sie dreh­te sich um und trat an das Bett. Er folg­te ihr.

Wie er nä­her her­an­trat, merk­te er, dass der Kör­per Fo­res­tiers tat­säch­lich Lei­chen­ge­ruch aus­ström­te. Er rück­te sei­nen Ses­sel wei­ter ab, denn lan­ge hät­te er die­sen Ge­ruch nicht er­tra­gen kön­nen.

»Er muss gleich mor­gen früh in den Sarg ge­legt wer­den«, sag­te er.

»Ja, es ist schon ab­ge­macht,« er­wi­der­te sie, »der Tisch­ler kommt ge­gen acht Uhr.«

»Ar­mer Charles!« seufz­te Du­roy, und sie stieß auch einen Seuf­zer der schmerz­li­chen Er­ge­bung aus.

Sie blick­ten jetzt nicht so oft zu ihm hin­über, sie hat­ten sich an die Tat­sa­che ge­wöhnt, dass er nun tot sei, und be­gan­nen, sich in Ge­dan­ken schon mit sei­nem Ver­schwin­den ab­zu­fin­den, mit dem, was sie eben noch so schmerz­lich er­grif­fen und ent­setzt hat­te, weil sie auch nur sterb­li­che Men­schen wa­ren.

Sie spra­chen jetzt nicht mehr und fuh­ren fort, auf an­stän­di­ge Wei­se an der Lei­che zu wa­chen, und ver­such­ten, nicht ein­zu­schla­fen. Aber ge­gen Mit­ter­nacht schlief Du­roy doch ein. Als er auf­wach­te, sah er, dass Ma­da­me Fo­res­tier gleich­falls schlum­mer­te. Er setz­te sich dann mög­lichst be­quem zu­recht, schloss die Au­gen wie­der und brumm­te:

»O Gott, im Bett ist es doch be­que­mer.«

Ein plötz­li­ches Geräusch ließ ihn auf­fah­ren. Die Wär­te­rin trat ein; es war hel­ler Tag. Die jun­ge Frau, die in ih­rem Lehn­stuhl ge­gen­über saß, schi­en ge­nau so über­rascht zu sein wie er. Sie war et­was bleich, aber noch im­mer frisch, hübsch und rei­zend, trotz der sit­zend ver­brach­ten Nacht.

Du­roy warf einen Blick auf den To­ten und rief jetzt zit­ternd:

»Oh! Sein Bart!«

Der Bart war al­ler­dings in sei­nem ent­stell­ten Ge­sicht in we­ni­gen Stun­den umso viel ge­wach­sen, wie sonst nicht an meh­re­ren Ta­gen. Starr und ver­blüfft stan­den sie an­ge­sichts die­ses Le­bens nach dem Tode, wie vor ei­nem grau­en­haf­ten Wun­der, als dro­he ih­nen hier eine über­na­tür­li­che Macht mit der Au­fer­ste­hung vom Tode, ei­ner na­tur­wid­ri­gen und ent­setz­li­chen Er­schei­nung, die den Ver­stand ver­wirrt und un­be­greif­lich bleibt. Sie gin­gen alle bei­de bis elf zur Ruhe. Dann wur­de Charles in den Sarg ge­legt und so­fort fühl­ten sie sich er­leich­tert und be­ru­higt.

Wäh­rend sie sich beim Früh­stück ge­gen­über­sa­ßen, hat­ten sie bei­de Lust, von trös­ten­den, fro­he­ren Din­gen zu re­den und ins Le­ben zu­rück­zu­keh­ren, denn den To­des­fall hat­ten sie nun hin­ter sich.

Durch die weit­ge­öff­ne­ten Fens­ter drang die mil­de, war­me Früh­lings­luft her­ein und trug den Duft der Nel­ken mit sich, die vor der Tür blüh­ten.

Ma­da­me Fo­res­tier schlug Du­roy einen klei­nen Spa­zier­gang durch den Gar­ten vor, und sie wan­der­ten lang­sam um die klei­nen Ra­sen­plät­ze her­um und at­me­ten ent­zückt die mil­de Luft ein, die nach Tan­nen­bäu­men und Eu­ka­lyp­tus duf­te­te.

Plötz­lich sprach sie, ohne ihn an­zu­se­hen, ge­nau so wie er es in der Nacht ge­tan hat­te. Sie brach­te die Wor­te lang­sam mit ernst­haf­ter, tiefer Stim­me her­aus:

»Hö­ren Sie mich an, lie­ber Freund. Ich habe es mir reif­lich über­legt … jetzt schon … was Sie mir vor­ge­schla­gen ha­ben, und ich will Sie nicht ab­rei­sen las­sen, ohne Ih­nen we­nigs­tens ein Wort der Er­wi­de­rung mit auf den Weg zu ge­ben. Ich sage Ih­nen üb­ri­gens we­der ja noch nein. Wir wer­den war­ten und se­hen; wir wer­den uns bes­ser ken­nen­ler­nen. Den­ken Sie über al­les rich­tig nach. Las­sen Sie sich nicht zu rasch hin­rei­ßen. Wenn ich jetzt schon über die­se Din­ge spre­che, be­vor der arme Charles noch be­gra­ben ist, so tue ich es, weil ich will, dass Sie sich über mich im Kla­ren sind, da­mit Sie sich nicht län­ger sol­chen Ge­dan­ken hin­ge­ben, wenn Sie nicht so … ge­ar­tet sind, dass Sie mich ver­ste­hen und mich so neh­men, wie ich bin. — Ver­ste­hen Sie mich wohl? Für mich ist die Ehe kei­ne Ket­te — son­dern ein Bünd­nis. Ich be­an­spru­che stets vol­le Frei­heit in mei­nen Hand­lun­gen, mei­nen Un­ter­neh­mun­gen, mei­nem Ein- und Aus­ge­hen, in al­lem. Ich ver­tra­ge we­der Kon­trol­le, noch Ei­fer­sucht, noch Aus­ein­an­der­set­zun­gen über mein Be­neh­men. Na­tür­lich wür­de ich mich ver­pflich­ten, den Na­men des Man­nes, den ich hei­ra­te, nie­mals bloß­zu­stel­len, ihn we­der ver­ächt­lich noch lä­cher­lich zu ma­chen. Da­für müss­te sich der Mann ver­pflich­ten, mich als sei­ne eben­bür­ti­ge Bun­des­ge­nos­sin zu be­han­deln, nicht aber als eine Un­ter­ge­be­ne und ge­hor­sa­me Gat­tin. Ich weiß, mei­ne An­sich­ten sind nicht die all­ge­mein gül­ti­gen, aber ich än­dere sie trotz­dem nicht. So. — Ich füge noch hin­zu: Ant­wor­ten Sie mir heu­te nicht, es wäre über­flüs­sig und un­pas­send. Wir wer­den uns wie­der­se­hen und wer­den uns spä­ter mal dar­über un­ter­hal­ten. — Nun ma­chen Sie noch einen Spa­zier­gang, ich muss zu ihm zu­rück. Auf Wie­der­se­hen heu­te Abend.«

Er küss­te ihr lan­ge die Hand und ging, ohne ein Wort zu sa­gen.

Abends tra­fen sie sich nur zur Mahl­zeit. Dann gin­gen sie auf ihre Zim­mer, denn sie wa­ren bei­de ganz zer­schla­gen vor Mü­dig­keit.

Charles Fo­res­tier wur­de am nächs­ten Mor­gen ohne je­den Prunk auf dem Fried­hof von Can­nes be­er­digt. Ge­or­ges Du­roy woll­te den Schnell­zug nach Pa­ris neh­men, der um halb zwei ab­fuhr. Ma­da­me Fo­res­tier hat­te ihn zur Bahn be­glei­tet. In Er­war­tung des Zu­ges gin­gen sie ru­hig auf dem Bahn­steig auf und ab und un­ter­hiel­ten sich von gleich­gül­ti­gen Din­gen.

Der Zug lief ein. Er war ganz kurz; ein rich­ti­ger Schnell­zug, der nur fünf Wa­gen hat­te.

Der Jour­na­list be­leg­te einen Platz und stieg dann noch ein­mal aus, um noch ein paar Au­gen­bli­cke mit ihr zu plau­dern. Er wur­de plötz­lich trau­rig; er be­dau­er­te schmerz­lich, sie ver­las­sen zu müs­sen, als ob er sie für im­mer ver­lie­ren könn­te.

Der Be­am­te rief: »Mar­seil­le, Lyon, Pa­ris ein­stei­gen.«

Du­roy stieg ins Ku­pee und lehn­te sich zur Tür hin­aus, um ihr noch ein paar Wor­te sa­gen zu kön­nen. Die Lo­ko­mo­ti­ve pfiff und der Zug setz­te sich lang­sam in Be­we­gung.

Der jun­ge Mann lehn­te sich zum Wa­gen­fens­ter hin­aus und sah die jun­ge Frau, die un­be­weg­lich auf dem Bahn­steig stand und ihm nach­blick­te. Und plötz­lich, als er sie fast aus sei­nen Au­gen ver­lo­ren hat­te, warf er ihr mit bei­den Hän­den eine Kuss­hand zu.

Sie gab ihm den Gruß zu­rück, zau­dernd und nur an­ge­deu­tet.