Buch lesen: «November»
Gustave Flaubert
November
Erzählung
Gustave Flaubert
November
Erzählung
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2021
Übersetzung: E. W. Fischer
EV: Wolff, Leipzig, 1916 (191 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962818-60-9
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Inhaltsverzeichnis
November
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Ihr
Jürgen Schulze
November
Pour niaiser et fantastique.
Montaigne
Ich liebe den Herbst; seine Traurigkeit stimmt gut zu Erinnerungen. Wenn die Bäume entlaubt sind, wenn der Abendhimmel noch in den tiefroten Farben glüht, die einen goldigen Schein über das Heu werfen, dann sieht man mit Entzücken alles verlöschen, was jüngst noch im Herzen brannte.
Eben komme ich von meinem Spaziergang über öde Wiesen zurück, an kalten Gräben vorbei, in denen die Weiden sich spiegeln. Ihre kahlen Zweige pfiffen im Winde; zuzeiten schwieg er: dann setzte er plötzlich wieder ein; und nun erschauerten die kleinen Blätter, die noch am Gesträuch hängen, das Gras neigte sich zitternd zur Erde, alles bekam ein bleicheres und kälteres Aussehen; am Horizont verlor sich die Sonnenscheibe im weißen Himmel und erfüllte ihn ringsumher mit einem Rest erlöschenden Lebens. Mich fror, und fast hatte ich Furcht.
Ich setzte mich in den Schutz eines kleinen Grashügels; der Wind hatte sich gelegt; als ich so auf der Erde saß, nichts dachte und in der Ferne den Rauch von Hütten aufsteigen sah, da stand – ich weiß nicht warum – mein ganzes Leben wie ein Phantom vor mir, und mit dem Duft des trockenen Heues, dem Geruch der toten Wälder kam mir der bittere Geschmack längst vergangener Tage zurück. Meine traurigen Jahre zogen an mir vorüber, als fegte sie der Winter in grässlichem Sturme dahin. Irgendeine schreckliche Macht jagte sie durch meine Erinnerung, wütender als der Wind, der die Blätter über die stillen Pfade tanzen ließ. Eine sonderbare Ironie schien sie zu streifen und für mein Auge umzuwenden, dann flogen alle zugleich davon und verschwanden an einem düsteren Himmel.
Sie ist traurig, die Jahreszeit, in der wir stehen: man glaubt, das Leben will mit der Sonne verscheiden. Ein Frösteln zieht ins Herz, wie über den Leib. Alle Laute ersterben. Der Horizont wird blass; alles will schlafen, vergehen … Eben sah ich die Kühe heimkehren, sie brüllten der untergehenden Sonne nach. Der kleine Junge, der sie mit einer Brombeerranke vor sich hertrieb, zitterte vor Kälte in seinem Drillich-Anzuge. Beim Abstieg vom Hügel glitten sie im Schmutz aus und zertraten ein paar Kartoffeln, die zwischen Unkraut stecken geblieben waren. Hinter den verschwimmenden Hügeln hervor sandte die Sonne letzten Abschied. Im Tal glühten die Lichter der Häuser auf, und der Mond, das Gestirn des Taues, das Gestirn der Tränen, entschleierte langsam zwischen Wolken sein bleiches Gesicht.
Lange habe ich mich lustvoll in mein vergangenes Leben versenkt. Mit Wonne habe ich mir gesagt, dass meine Jugend vorüber sei; denn es ist Wonne, zu fühlen, wie die Kälte ins Herz kriecht, und sagen zu können, während man es mit der Hand anfühlt wie einen noch rauchenden Herd: es brennt nicht mehr! Langsam habe ich mein ganzes Leben an mir vorüberziehen lassen: seine Gedanken und Leidenschaften, seine Tage stürmischer Wallungen und seine Tage der Trauer, sein hoffnungsvolles Frohlocken und seine qualvollen Schmerzen. Ich sah alles wieder, wie jemand, der die Katakomben besucht und langsam auf beiden Seiten immer neue Reihen von Toten erblickt. Wenn ich die Jahre zähle, so sehe ich wohl, dass ich noch nicht alt bin; aber ich habe zahllose Erinnerungen, deren Gewicht ich auf mir fühle, wie die Greise die Last all der Tage fühlen, die sie gelebt haben. Zuweilen scheint es mir, als sei ich seit Jahrhunderten da, und als schlösse mein Wesen die Überreste von Tausenden vergangener Existenzen ein. Woher kommt das? Habe ich geliebt? Habe ich gehasst? Habe ich etwas erstrebt? Ich zweifle daran. Ich lebte abseits von allem regen und tätigen Leben, still für mich, ohne Sinn für Ruhm, Vergnügen, Wissen und Geld.
Von allem, was ich hier erzählen werde, hat niemand etwas gewusst; diejenigen, die mich alle Tage sahen, ebensowenig wie andere. Sie waren für mich wie das Kissen, auf dem ich ruhe, und das nichts von meinen Träumen weiß. Und ist das Herz des Menschen nicht eine ungeheure Einsamkeit, in die niemand einzudringen vermag? Die Leidenschaften, die hindurchziehen, sind wie die Reisenden der Wüste Sahara; sie ersticken darin, und ihr Schrei dringt nicht darüber hinaus.
Schon in der Schule war ich traurig. Ich langweilte mich da; ich kochte vor Verlangen, hatte ein heißes Sehnen nach einem tollen, wildbewegten Dasein, ich genoss die Leidenschaften im Traum und hätte sie alle durchkosten mögen. Jenseits des zwanzigsten Jahres lag für mich eine ganze Welt von Licht und Duft. In der Ferne erschien mir das Leben in sieghaftem Glanz und Klingen. Wie im Märchen tat sich ein weiter Saal nach dem anderen auf. Diamanten funkelten im Licht goldener Kronleuchter. Unter einem Zauberwort drehten sich die verwunschenen Türen in ihren Angeln, und wenn man weiterging, tauchte der Blick in prachtvolle Fernen, vor deren blendendem Glänze sich die Augen lächelnd schließen.
Ich hatte ein unbestimmtes Verlangen nach etwas Strahlendem, das ich weder in Worten noch in Gedanken deutlich zu fassen vermochte, und doch fühlte ich ein starkes, unablässiges Sehnen danach. Ich habe immer das Glänzende geliebt. Als Knabe drängte ich mich unter die Menge an der Tür der Scharlatane, um die roten Tressen ihrer Diener und die Halfter ihrer Pferde zu sehen. Lange stand ich vor dem Zelt der Gaukler, um ihre Pumphosen und gestickten Kragen zu betrachten. Ach, und wie habe ich die Seiltänzerin geliebt, mit ihren langen Ohrgehängen, die um ihren Kopf baumelten, mit ihrer Kette aus dicken Steinen, die auf ihre Brust schlug. Mit welch unruhiger Gier schaute ich sie an, wenn sie bis an die zwischen Bäumen hängenden Laternen sprang, wenn ihr mit Goldflittern besetztes Kleid beim Sprunge klatschte und sich in der Luft bauschte. Das waren die ersten Frauen, die ich geliebt habe. Mein Sinn quälte sich mit dem Gedanken an diese merkwürdig geformten Schenkel, die so prall in ihren rosafarbenen Trikots saßen, an diese geschmeidigen Arme, von Spangen umschlossen, die beim Rückwärtsbeugen auf dem Rücken klingelten, wenn sie mit den Federn ihres Kopfputzes den Boden berührte. Das Weib, das ich mir schon vorzustellen suchte – (denn es gibt kein Lebensalter, wo man nicht daran denkt: als Kind betasten wir mit naiver Sinnlichkeit den Busen der großen Mägde, die uns küssen und die uns auf ihrem Arme halten; mit zehn Jahren träumt man von Liebe; mit fünfzehn kommt sie zu uns; mit sechzig ist sie noch nicht erloschen, und wenn die Toten unter der Erde etwas denken, so ist es: wie sie in der Tiefe das nächste Grab erreichen können, um das Leichentuch der Abgeschiedenen fortzuziehen und sich ihrem Schlummer zu gatten) – das Weib war also für mich ein lockendes Geheimnis, das mein armes Kinderhirn verwirrte. An dem, was ich empfand, wenn eine von ihnen mich anschaute, fühlte ich schon, etwas Verhängnisvolles in diesem erregenden Blick lag, der den menschlichen Willen schmelzen lässt, und ich war zugleich entzückt und erschrocken.
Wovon träumte ich während der langen Arbeitsstunden, wenn ich, den Arm auf mein Pult gestützt, den Docht der Lampe in der Flamme länger werden und jeden Tropfen Öl in das Näpfchen fallen sah, während die Federn meiner Nachbarn auf dem Papier knirschten, und man von Zeit zu Zeit hörte, wie ein Buch umgeblättert oder zugeklappt wurde? Ich beendigte hastig meine Aufgaben, um mich ungehindert diesen süßen Gedanken hingeben zu können. Ich freute mich darauf, wie auf etwas, das den Reiz eines wirklichen Vergnügens für mich hatte; ich richtete meine Gedanken so angestrengt darauf, wie ein Dichter, der schaffen und die Inspiration hervorrufen will. Ich versenkte mich so tief als möglich in meinen Gedanken, ich wendete ihn nach allen Seiten, ging bis auf seinen Grund, kehrte zum Ausgangspunkt zurück und fing von Neuem an. Bald war es ein tolles Dahinstürmen der Fantasie, ein wunderbarer Flug aus aller Wirklichkeit heraus. Ich erdichtete mir Abenteuer, ersann Geschichten, baute Paläste, wohnte darin wie ein Kaiser. Ich höhlte alle Diamantenminen aus und warf Eimer voll Steine auf den Weg, der vor mir lag.
Und wenn der Abend gekommen war, wenn wir alle in unseren sauberen Betten mit den weißen Vorhängen lagen, und wenn der Studienmeister im Schlafsaal auf- und abging, wie verkroch ich mich dann noch mehr in mich selbst, und mit welcher Wonne barg ich in meinem Innern den Vogel, der mit den Flügeln schlug und dessen Wärme ich fühlte! Ich brauchte immer lange Zeit zum Einschlafen, ich hörte die Stunden schlagen, und je länger sie sich dehnten, desto glücklicher war ich. Es schien mir, als ob sie mich singend in die Welt führten, als ob sie mir in jedem Augenblicke meines Lebens grüßend zuriefen: »Weiter! Weiter! Der Zukunft entgegen! Ade! Ade!« Und wenn das letzte Zittern verklungen war, wenn mein Ohr von ihrem Klange nicht mehr summte, sagte ich mir: »Bis morgen, dieselbe Stunde wird wiederkehren; aber morgen ist es ein Tag weniger; einen Tag näher werde ich dem Ziele sein, das leuchtend vor mir liegt; näher meiner Zukunft, dieser Sonne, deren Strahlen mich überfluten und die ich dann mit Händen greifen werde.« Und ich sagte mir, dass das Glück recht lange auf sich warten lasse, und fast weinend schlief ich ein.
Gewisse Worte setzten mich in Verwirrung, wie zum Beispiel »Weib« und »Geliebte«. Ich suchte die Erklärung des ersteren in Büchern, auf Stichen und Bildern. Ich hätte die Gewänder darauf herunterreißen mögen, um etwas zu entdecken. Als ich schließlich alles ahnte, war ich zuerst wonnevoll benommen, wie von einer höchsten Harmonie; doch bald wurde ich ruhig und lebte von da an mit mehr Lebensfreude. Ich war stolz darauf, ein Mann zu sein, ein Wesen, das bestimmt ist, ein Weib für sich zu besitzen. Das Wort »Leben« war mir bekannt. Es bedeutete fast: Eintreten und etwas davon kosten; mein Wunsch ging nicht weiter, und ich war befriedigt, zu wissen, was ich wusste. Eine Geliebte war für mich ein diabolisches Wesen; unter dem Zauber des bloßen Wortes geriet ich in langanhaltende Verzückungen. Für ihre Geliebten ruinierten sich die Könige, für sie eroberten sie Provinzen, für sie wurden indische Teppiche gewirkt, wurde Gold gehämmert, Marmor behauen, die Welt in Bewegung gesetzt. Eine Geliebte hat Sklaven, die ihr mit Wedeln die Mücken wehren, wenn sie auf seidengepolstertem Divan ruht. Elefanten, mit Geschenken beladen, erwarten sie beim Erwachen, Palankine tragen sie sanft an den Rand der Fontänen; sie sitzt auf Thronen in glanzerfüllter, duftgeschwängerter Luft, weit ab von der Menge, die sie verwünscht und anbetet.
Dieses Geheimnis des Weibes, das außerhalb der Ehe steht und gerade deshalb umso viel mehr Weib ist, reizte mich und nahm mich durch den doppelten Zauber der Liebe und des Reichtums gefangen. Ich liebte nichts so sehr als das Theater, ich liebte es bis zum Stimmengeschwirr in den Pausen, bis zu den Zugängen, die ich erregten Herzens durcheilte, um meinen Platz aufzusuchen. Hatte die Vorstellung schon begonnen, so stieg ich eilends die Treppen empor. Ich vernahm den Klang der Instrumente, Stimmen, Bravorufe. Und wenn ich eintrat, wenn ich mich setzte, lag ringsumher in der Luft der warme Hauch schöngekleideter Frauen, etwas, das nach Veilchenbuketts, weißen Handschuhen und gestickten Taschentüchern duftete. Gleich Kränzen von Blüten und Diamanten schienen die menschenüberfüllten Galerien dort oben zu schweben, um dem Gesang zu lauschen. Im Vordergrunde der Bühne stand nur die Sängerin, und ihre Brust, aus der die Töne hervorperlten, hob und senkte sich wogend. Der Rhythmus trieb ihre Stimme im Flug dahin und riss sie im melodischen Wirbel mit. Die Koloraturen wellten ihren angespannten Hals wie den eines Schwanes, unter der Last der Küsse der Luft. Sie rang die Arme, schrie, weinte, sandte zündende Blicke, rief jemand mit unsagbarer Liebe herbei, und wenn sie das Motiv wieder aufnahm, schien es mir, als reiße sie mit dem Klang ihrer Stimme mein Herz aus der Brust, um es sich in liebendem Erschauern zu vermählen. Man spendete ihr Beifall und warf ihr Blumen zu, und in meiner Begeisterung genoss ich in ihr den Weihrauch der Menge, die Liebe aller dieser Menschen und den Wunsch eines jeden von ihnen. Von ihr hätte ich geliebt werden mögen, geliebt mit verzehrender, furchtbarer Leidenschaft, der Leidenschaft einer Fürstin oder Schauspielerin, die uns stolz macht, uns sofort den Reichen und Mächtigen gleichstellt! Wie schön ist die Frau, der alle huldigen und die alle ersehnen, die der Menge den fieberhaften Wunsch für die Träume einer jeden Nacht eingibt; sie, die immer nur im Glanze der Kerzen erscheint, strahlend und singend, die Gedankenwelt eines Dichters erfüllend, als das Leben, das ihr zukommt! Und für ihren Geliebten muss sie noch eine andere Liebe haben, viel schöner als die, welche sie freigebig den hungrigen Herzen spendet, die sich an ihr laben, süßere Lieder, tiefere, leidenschaftlichere, lebendigere Töne! Ach, hätte ich in der Nähe ihrer Lippen sein können, denen sie so rein entströmten, hätte ich diese schimmernden Haare berühren dürfen, die unter Perlen glänzten! Doch die Rampe des Theaters war für mich die Schranke der Illusion. Das Reich der Liebe und Poesie lag jenseits; die Leidenschaften waren dort schöner und hatten einen tieferen Klang, Wälder und Paläste zerstoben wie Rauch, Sylphiden schwebten aus den Himmeln herab, alles sang, alles liebte.
An all das dachte ich, wenn ich abends allein saß und den Wind durch die Gänge pfeifen hörte, oder in den Pausen, während die anderen sich fingen oder Ball spielten, und ich an der Mauer entlang ging über die abgefallenen Lindenblätter; es freute mich, wenn meine Schritte sie raschelnd aufwühlten und vor sich hertrieben.
Bald fasste mich die Lust zu lieben. Ich wünschte die Liebe mit grenzenloser Begehrlichkeit herbei. Ich träumte von ihren Qualen, wartete jeden Augenblick auf einen tiefen Schmerz, der mich mit Wonne erfüllt hätte. Mehrere Male glaubte ich der Erfüllung nahe zu sein. In Gedanken nahm ich die erste beste Frau, die mir schön erschien, und sagte: »Die liebe ich!« Doch die Erinnerung, die ich hätte von ihr mitnehmen mögen, verblich und erlosch, anstatt sich zu vertiefen. Auch fühlte ich, dass ich mich zu Liebe zwang, dass ich mit meinem Herzen Komödie spielte, wodurch es sich nicht täuschen ließ. Und dies Fiasko machte mich lange Zeit traurig; fast trauerte ich um die Liebe, die ich nicht empfunden hatte, und dann träumte ich von einer anderen, die meine Seele erfüllen sollte.
Besonders am Morgen nach einem Ball oder einem Theaterabend, oder wenn ich aus zwei, drei Ferientagen zurückkam, erträumte ich mir eine Leidenschaft. Ich stellte mir die Frau meiner Wahl vor, so wie ich sie gesehen hatte: im weißen Kleid, in den Armen eines Kavaliers, der sie stützt und ihr zulächelt, im Walzer dahinschwebend, oder auf die samtbezogene Brüstung einer Loge gelehnt und ihr königliches Profil zeigend. Die Weisen der Kontertänze, der Glanz der Lichter verfolgten und blendeten mich noch eine Zeit lang; dann schmolz zuletzt alles in der Eintönigkeit einer schmerzlichen Träumerei zusammen. So habe ich tausend kleine Gefühle gehabt, die acht Tage oder einen Monat anhielten und denen ich die Dauer von Jahrhunderten hätte geben mögen. Ich weiß nicht, welches ihr Inhalt war, noch worin alle diese unbestimmten Wünsche zusammenflossen. Ich glaube, es war das Bedürfnis nach einem neuen Gefühl und eine Sehnsucht nach etwas Hohem, dessen Gipfel ich nicht sah.
Die Reife des Herzens geht der des Körpers voraus. Noch lag mir Empfinden näher als Genießen, mein Sinn stand mehr nach Liebe als nach Wollust. Heute vermag ich mir die Liebe des ersten Jünglingsalters nicht einmal mehr vorzustellen. Die Sinne spielen in ihr keine Rolle, und das Unendliche allein gibt ihr den Inhalt: als ein Übergang zwischen Kindheit und Jugend liegend, entschwindet sie so schnell, dass man sie vergisst.
Bei den Dichtern hatte ich so viel von Liebe gelesen und mir das Wort so oft wiederholt, um mich an seinem süßem Klang zu berauschen, dass ich bei jedem Stern, der in milder Nacht am blauen Himmel glänzte, bei jedem Wellenmurmeln am Ufer, bei jedem Sonnenstrahl im Tautropfen sagte: »Ich liebe, ach, ich liebe!« Und das machte mich glücklich und stolz. Ich war bereit zu den höchsten Opfern, und besonders, wenn eine Frau mich im Vorübergehen streifte oder mir ins Gesicht sah, hätte ich sie noch tausendmal mehr lieben, noch mehr für sie erdulden mögen und gewünscht, dass mein bisschen Herzklopfen mir die Brust sprengte.
Erinnere dich, Leser, der Lebenszeit, wo man unbestimmt lächelt, als ob die Luft voller Küsse wäre: das Herz ist ganz geschwellt von duftendem Hauch, das Blut pulst heiß in den Adern, es wallt wie schäumender Wein in einer Schale von Kristall. Beim Erwachen ist man glücklicher und reicher, als man am Abend vorher war, zitternder von Leben und Erregung. Süße Ströme steigen und fallen und durchtränken uns himmlisch mit berauschender Wärme. Sanft neigen die Bäume ihre Wipfel unter dem Winde, die Blätter erschauern aneinander, als wenn sie flüsterten, Wolken ziehen und geben den Himmel frei, von dem der Mond herablächelt und sein Spiegelbild in den Fluss wirft. Wenn man auf abendlichem Spaziergange den Duft des frischen Heues einatmet, den Kuckuck in den Wäldern hört und die Sternschnuppen fallen sieht, dann ist gewiss das Herz reiner, von Luft, Licht und Azur tiefer durchtränkt als der friedliche Horizont, wo Erde und Himmel sich in sanftem Kusse zu vermählen scheinen. Ach, wie das Haar der Frauen duftet! Wie zart die Haut ihrer Hände ist, wie ihre Blicke ins Herz dringen!
Doch schon war es nicht mehr der erste blendende Glanz der Kindheit, waren es nicht mehr die aufregenden Erinnerungen der vergangenen Nacht; ich trat im Gegenteil in das wirkliche Leben ein, wo ich meinen Platz hatte, in eine weite Harmonie, wo mein Herz einen Hymnus sang und in prächtiger Schwingung vibrierte. Ich genoss voll Wonne dieses entzückende Erblühen, und das Erwachen meiner Sinne hob meinen Stolz. Wie der erste Mensch der Schöpfung hob ich mich von langem Schlummer, und an meiner Seite sah ich ein mir ähnliches, doch abweichend gestaltetes Wesen. Das rief zwischen uns eine taumelerregende Anziehung hervor, und zugleich hatte ich für diese neue Gestalt ein neues Gefühl, das mich stolz machte, während die Sonne heller schien, die Bäume süßer als je dufteten und die Schatten wohliger und lockender waren.
Zu gleicher Zeit fühlte ich täglich die Entwicklung meines Geistes fortschreiten. Sie hielt mit der meines Herzens gleichen stand. Ich weiß nicht, ob meine Gedanken Gefühle waren, doch hatten sie alle die Glut einer Leidenschaft. Die innere Freude, die ich in der Tiefe meines Wesens spürte, strömte auf meine Mitmenschen über und hüllte sie für mich in den Glanz der Überfülle meines Glücks. Bald rührte ich an die Erkenntnis höchster Wonnen, und wie ein Mann an der Tür seiner Geliebten, verweilte ich absichtlich lange, voller Sehnsucht, um eine zuversichtlich winkende Hoffnung zu genießen und mir zu sagen: »Gleich werde ich sie in meinen Armen halten, sie wird mein sein, ganz mein, es ist kein Traum!«
Sonderbarer Widerspruch! Ich floh die Gesellschaft der Frauen, und ich empfand ein zauberhaftes Vergnügen in ihrer Nähe. Ich tat, als ob ich mir nichts aus ihnen machte, während ich in allen lebte und das Wesen einer jeden in mich hätte aufnehmen mögen, um mich mit ihrer Schönheit zu vereinigen. Schon ihre Lippen luden mich zu anderen Küssen als denen einer Mutter. In Gedanken hüllte ich mich in ihr Haar, lag zwischen ihren Brüsten, um in göttlichem Ersticken zu vergehen. Ich hätte das Halsband sein mögen, das ihren Hals umschlang, die Agraffe,1 die nach ihrer Schulter züngelte, das Gewand, das ihren Körper verhüllte. Auf den Kleidern sah ich nichts mehr, darunter aber lag eine Unendlichkeit von Liebe – ich verlor mich in Gedanken daran.
Diese Leidenschaften, die ich mir ersehnte, studierte ich in Büchern. Das Leben bewegte sich für mich um zwei, drei Gedanken, um zwei, drei Worte, um die sich alles übrige drehte, wie Planeten um ihren Fixstern. So hatte ich meine Welt mit einer Anzahl goldener Sonnen bevölkert. In meinem Kopfe drängten sich die Liebesgeschichten neben die schönen Revolutionen, die schönen Leidenschaften stellten sich den großen Verbrechen gegenüber. Ich träumte zugleich von den sternenhellen Nächten der heißen Länder und von dem Feuerschein brennender Städte, von den Lianen der Urwälder und dem Pomp vergangener Kaiserreiche, von Gräbern und von Wiegen. Gemurmel der Wogen im Binsengestrüpp, Girren von Turteltauben im Schlage, Myrtenwälder und Duft der Aloe, Klirren von Schwertern auf Rüstungen, stampfende Rosse, leuchtendes Gold, glitzerndes Leben, Todesröcheln Verzweifelter, – alles sah ich mit denselben weitaufgerissenen Augen an, wie einen Ameisenhaufen, der sich zu meinen Füßen regte. Doch von diesem äußerlich reichbewegten Leben, das von so mannigfaltigen Stimmen widerhallte, drang ein ungeheuerer Schmerz empor als seine Synthese und seine Ironie.
An Winterabenden blieb ich vor den erleuchteten Häusern stehen, in denen getanzt wurde, und hinter roten Vorhängen sah ich Schatten vorüberschweben. Ich hörte die Musik des Luxus: Gläser klirrten auf Servierbrettern, Silberzeug klapperte in den Schüsseln, und ich sagte mir, dass es nur von mir abhing, an diesem Feste teilzunehmen, zu dem man sich drängte, an diesem Bankett, wo alle schmausten. Ein ungeselliger Stolz hielt mich fern davon; denn ich fand, dass meine Einsamkeit mich gut kleidete und dass mein Herz reicher war, wenn es alles, was die Freude der Menschen ausmacht, mied. Ich setzte meinen Weg durch die verlassenen Straßen fort, wo die Laternen sich traurig beim Knirschen ihrer Rollen, schaukelten.
Ich erlebte träumend die Schmerzen der Dichter, ich weinte mit ihnen ihre schönsten Tränen. Sie kamen mir vom Grunde meines Herzens; ich war ergriffen, zerrissen. Zuweilen schien es mir, als mache mich die Begeisterung, die sie mir mitteilten, zu ihresgleichen, und als hebe sie mich an ihre Seite. Stellen, die andere kaltließen, berauschten mich und versetzten mich in seherische Raserei. Es war ein wonniges Wüten im Geist. Ich rezitierte sie laut am Meeresufer, oder ich ging gesenkten Hauptes über die Wiesen und sprach sie mit der verliebtesten und zartesten Stimme vor mich hin.
Unglücklich der Mensch, der sich nie einen tragischen Zorn gewünscht hat, der keine Liebeslieder auswendig weiß, um sie im Mondenlicht herzusagen! Wundervoll ist solch ein Leben in ewiger Schönheit, wenn man den Faltenwurf der Könige annimmt, Leidenschaft in ihrer höchsten Steigerung empfindet und die unsterblichen Gestalten des Genius liebt.
Von nun an lebte ich nur noch in schrankenlosen Idealen. Frei und nach Herzenslust umherschwärmend wie die Biene, sammelte ich überall zu meiner Nahrung und meinem Leben. Im Raunen der Wälder und der Fluten klangen mir Stimmen, für die andere taub waren, und weit öffnete ich mein Ohr, um die Offenbarungen ihrer Harmonie zu vernehmen. Wolken und Sonne wurden mir zu gewaltigen Bildern, die keine Sprache malen kann, und ebenso bemerkte ich plötzlich in den menschlichen Handlungen Beziehungen und Gegensätze, deren lichtvolle Klarheit mich blendete. Zuweilen schienen Kunst und Poesie ihre grenzenlosen Weiten zu öffnen und einander mit ihrem Glänze zu bestrahlen. Ich baute Paläste aus rotfunkelndem Kupfer, ich stieg ewig auf einer Treppe von daunenweichen Wolken in einen Himmel voll Glanz.
Der Adler ist ein stolzer Vogel, der auf den höchsten Felsengipfeln wohnt; in den Tälern, tief unter sich, sieht er die Wolken wogen; sie führen die Schwalben mit. Er sieht den Regen auf die Tannen fallen, die Marmelsteine im Gießbach rollen; er sieht den Hirten, der seinen Ziegen pfeift, und die Gemsen, die über Abgründe springen. Mag der Regen fließen, der Sturm Bäume knicken, mögen Bergströme schluchzend herabbrausen, mag der Wasserfall rauchen und spritzen, der Donner toben und Berggipfel losreißen: ruhig schwebt er darüber und regt sorglos die Flügel; das Tosen der Berge behagt ihm, er stößt Freudenschreie aus, kämpft mit den dahinjagenden Wolken und steigt höher in den ungeheuren Himmelsraum.
Auch mich belustigte das Toben der Unwetter und das undeutliche Summen der Menschen, das bis zu mir empordrang; ich lebte in Höhen, wo mein Sinn sich mit reiner Luft tränkte, wo ich Laute des Triumphes ausstieß, um die Unlust meiner Einsamkeit zu bannen.
Schnell kam mir ein unüberwindlicher Widerwille gegen alles Irdische. Eines Morgens fühlte ich mich alt und voll Erfahrungen über tausend unerprobte Dinge. Ich war gleichgültig gegen die verlockendsten und voll Missachtung für die schönsten. Für alles, was der anderen Lust ausmachte, hatte ich nur Mitleid, und ich sah nichts, was auch nur der Mühe eines Wunsches lohnte. Vielleicht war meine Eitelkeit der Grund, dass ich über die gewöhnliche Eitelkeit erhaben war, und meine Indifferenz war nur das Übermaß einer grenzenlosen Begierde. Ich glich jenen neuen Bauten, auf denen sich schon Moos bildet, ehe sie fertig sind. Die lauten Vergnügungen meiner Kameraden langweilten mich, ich zuckte die Achseln, wenn ich ihre sentimentalen Albernheiten sah. Einige hoben ein Jahr lang einen alten weißen Handschuh oder eine vertrocknete Kamelie auf, um ihre Küsse und Seufzer daran zu hängen. Andere schrieben an Modistinnen oder trafen sich mit Köchinnen. Die einen erschienen mir dumm, die anderen grotesk. Und dann langweilte mich die gute Gesellschaft ebensosehr wie die schlechte. Den Frommen gegenüber gab ich mich zynisch und den Freigeistern mystisch, sodass mich niemand liebte.
Zu jener Zeit war ich noch unschuldig und fand Freude daran, die Prostituierten zu betrachten. Ich ging durch die Straßen, die sie bewohnen, ich schwärmte um die Orte, an denen sie promenieren. Zuweilen redete ich sie an, um mich selbst in Versuchung zu bringen, folgte ihnen, berührte sie, trat in ihren Dunstkreis. Da ich frech war, glaubte ich kalt zu sein. Ich fühlte im Herzen eine Leere, doch diese Leere war ein Abgrund.
Ich liebte es, mich im Strudel des Straßenlebens zu verlieren. Zuweilen verfiel ich auf dumme Zerstreuungen, wie etwa jeden Vorübergehenden starr anzublicken, um auf seinem Gesicht Laster oder hervorstechende Leidenschaften zu lesen. Alle die Köpfe glitten eilig an mir vorüber: die einen lächelten oder pfiffen im Weitergehen, während der Wind ihr Haar zauste; andere waren blass, andere wieder rot, noch andere erdfahl; sie zogen schnell an mir vorüber, sie glitten einer nach dem anderen vorbei, wie Aushängeschilder, an denen man im Wagen vorüberfährt. Oder ich betrachtete auch nur die Füße, die in allen Richtungen dahineilten, und ich versuchte, jedem Fuße einen Körper, dem Körper einen Gedanken, allen Bewegungen ein Ziel zu geben. Und ich fragte mich, wohin alle diese Schritte steuerten, und warum alle diese Leute gingen. Ich sah die Equipagen in die hallenden Säulengänge einbiegen und den schweren Wagentritt mit Krachen aufgehen. Die Menge drängte sich in die Eingänge der Theater. Ich sah Lichter durch den Nebel glänzen, und darüber stand der schwarze, sternenlose Himmel. An einer Straßenecke spielte ein Orgeldreher, Kinder in Lumpen sangen, ein Obsthändler schob seinen Karren, den eine rote Laterne beleuchtete. Man lärmte in den Cafés, die Spiegel glänzten im Scheine der Gasflammen, die Messer klangen auf den Marmortischen, am Eingange reckten sich die Armen, vor Kälte zitternd, um die Reichen tafeln zu sehen. Ich mischte mich unter sie, und mit denselben Blicken betrachtete ich die Glücklichen des Lebens. Ich beneidete sie um ihre banale Lust; denn es gibt Tage, wo man so traurig ist, dass man sich noch trauriger machen möchte. Dann ist die Verzweiflung wie ein bequemer Weg, den man mit Wonne wählt. Das Herz ist von Tränen geschwollen, und man regt sich selbst zum Weinen an. Oft habe ich mir gewünscht, elend zu sein und Lumpen zu tragen, von Hunger gepeinigt zu werden, eine Wunde bluten zu fühlen, zu hassen und auf Rache zu sinnen.
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