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Buch lesen: «Soll und Haben», Seite 11

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Zweites Buch

1

An einem Sonntagmorgen las Anton emsig in dem Letzten Mohikaner von Cooper, während vor dem Fenster die ersten Schneeflocken ihren Kriegstanz anfingen und sich vergeblich bemühten, in das Asyl der gelben Katze zu dringen. Da trat Fink eilig in das Zimmer und rief schon an der Tür: »Anton, zeige mir deine Garderobe.« Er öffnete den Kleiderschrank, untersuchte den Leibrock und die übrigen Stücke mit großem Ernst, schüttelte den Kopf und schloß seine Musterung mit den Worten: »Ich werde dir meinen Schneider heraufschicken, laß dir ein neues Gewand anmessen.«

»Ich habe kein Geld«, antwortete Anton lachend.

»Unsinn«, versetzte Fink, »der Schneider gibt dir Kredit, soviel du willst.«

»Ich möchte aber nichts auf Kredit nehmen«, erwiderte Anton und setzte sich behaglich auf dem Sofa zurecht, um gegen seinen mächtigen Ratgeber zugunsten guter Wirtschaft zu plädieren.

»Diesmal mußt du eine Ausnahme machen«, entschied Fink, »es ist Zeit, daß du mehr unter Menschen kommst. Du sollst in die Gesellschaft treten, ich werde dich einführen.«

Anton stand errötend wieder auf und rief eifrig: »Das geht nicht, Fink, ich bin hier ganz unbekannt und habe noch keine Stellung, welche mir die Sicherheit gibt, in großer Gesellschaft aufzutreten.«

»Eben deshalb, weil du keine gesellschaftliche Courage hast, sollst du unter Menschen«, sagte Fink strafend. »Diese jammervolle Schüchternheit mußt du los werden, so schnell als möglich; sie ist der dümmste Fehler, den ein gebildeter Mensch haben kann! Verstehst du zu walzen? Hast du eine Ahnung davon, was eine Tour in der Quadrille ist?«

»Ich habe vor einigen Jahren in Ostrau Tanzstunde genommen«, versetzte Anton.

»Einerlei, du sollst noch einmal Tanzstunde nehmen. Frau von Baldereck hat mir gestern vertraut, daß einige Familien für ihre flüggen Märzhühnchen einen Tanzsalon einrichten wollen, damit diese in Sicherheit vor Raubvögeln die Flügel bewegen lernen. Die Tanzstunde soll in dem Hause der gnädigen Frau sein, welche ihr eigenes Küchlein darin für den Markt abrichten will. Das ist etwas für dich, ich werde dich dort einführen.«

Antons Seele wurde durch diese Zumutung stark alarmiert, er setzte sich erschrocken wieder auf dem Sofa zurecht und sagte mit aller Ruhe, über die er in diesem Augenblick verfügen konnte: »Fink, das ist einer von deinen tollen Einfällen, es ist unmöglich, daß ich darauf eingehe; Frau von Baldereck gehört zu der hiesigen Aristokratie, und die Tanzgesellschaft bei ihr wird ohne Zweifel aus demselben Kreise sein.«

»Ohne Zweifel«, nickte Fink, »reines blaues Blut, die Urgroßmütter sämtlicher Damen haben ohne Ausnahme im deutschen Urwald die Ehre gehabt, der Fürstin Thusnelda die Nachtmütze nachzutragen.«

»Siehst du«, sagte unser Held, »wie kannst du den Einfall haben, mich in diese Gesellschaft zu bringen; du würdest mir nur das bittere Gefühl bereiten, zurückgewiesen zu werden oder, was noch schlimmer wäre, eine übermütige Behandlung zu erfahren.«

»Soll man da nicht die Geduld verlieren?« rief Fink entrüstet. »Gerade du und deinesgleichen haben mehr Recht, den Kopf hoch zu tragen, als der größte Teil der Sozietät, welche dort zusammenkommen wird. Und gerade ihr seid es, die durch ungeschicktes Benehmen, bald durch Schüchternheit, bald durch Kriecherei, die Prätentionen der Landjunkerfamilien erhalten. Wie kannst du dich selbst für schlechter halten als irgend jemand anderen? Ich hätte nicht gedacht, daß eine solche Niedrigkeit auch in deiner Seele Raum findet.«

»Du irrst«, erwiderte Anton erzürnt, »ich halte mich nicht für geringer, als ich bin, aber es wäre töricht und anmaßend, wenn ich mich in die Gesellschaft anderer eindrängen wollte, welche mich aus irgendeinem Grunde nicht gerne sehen. Gerade mein Selbstgefühl verbietet mir, mit solchen zu verkehren, welche einen Mann deshalb geringer achten, weil er in einem Kontor arbeitet.«

»Ich sage dir aber, deine Person wird den guten Leuten nicht unangenehm sein, ich stehe dir dafür«, sagte Fink überredend. »Du kennst die Gesellschaft nicht und denkst dir alles viel zu schwer. Es ist Mangel an Herren, ich gelte etwas bei der Frau vom Hause – nebenbei gesagt, ich bin nicht stolz darauf –, sie hat mich gebeten, einige junge Männer meiner Bekanntschaft bei ihr einzuführen; ich führe dich ein, die Sache ist ganz in der Ordnung. Sieh das Geschäft doch etwas näher an. Was ist diese Tanzstunde? Es ist eine Art Aktienverein zur Verbesserung der Waden aller Teilnehmer, du bezahlst deinen Anteil am Stundengeld wie jeder andere, und ob du eine junge Komtesse oder ein Bürgermädchen in der Masurka herumschwenkst, Taille ist Taille, die Bälger tanzen alle gern.«

»Es geht doch nicht«, antwortete Anton kopfschüttelnd, »ich habe das Gefühl, daß es unpassend wäre, und möchte diesem gehorchen.«

»Ich will dir etwas vorschlagen«, sagte Fink ungeduldig, »du sollst in diesen Tagen mit mir einen Besuch bei Frau von Baldereck machen. Ich werde dich als Anton Wohlfart aus dem Kontor der Firma ›T. O. Schröter‹ vorstellen; du sollst kein Wort von der Tanzstunde erwähnen; du wirst abwarten, wie die gute Dame dich aufnimmt. Wenn diese Tanzmutter etwas anderes ist als eitel Liebenswürdigkeit, wenn sie dir auch nur im geringsten anmaßend ist und nicht selbst von der Tanzstunde anfängt, so sollst du vollständige Freiheit haben, bei deiner Weigerung zu beharren. Dagegen kannst du nichts Stichhaltiges einwenden.«

Anton zauderte und überlegte. Die Sache schien ihm keineswegs so einfach, wie sie Fink darstellte, aber er war nicht mehr der Mann, kaltblütig zu prüfen und zu wählen. Seit Jahren verbarg er einen Wunsch im Grunde seiner Seele, die Sehnsucht nach dem freien, stattlichen, prunkvollen Leben der Vornehmen. Sooft er die Tanzmusik im Vorderhause hörte, sooft er von dem Treiben der aristokratischen Kreise las, sehr oft, wenn er mit sich allein war, wurde in ihm eine holde Erinnerung lebendig, das hohe Schloß mit Türmen im Blumenpark und das adlige Kind, das ihn über den Schwanenteich gefahren. Jetzt wieder stieg das Bild in ihm auf, in dem goldenen Licht, das seine Poesie in jahrelanger Arbeit dazugetan. Er sprang auf und willigte in den Vorschlag des erfahrenen Freundes.

Eine Stunde darauf kam der Schneider, von Fink geführt, und Fink bestimmte selbst das Detail der neuen Ausstattung mit einer Sachkenntnis, welche dem Schneider nicht weniger als Anton imponierte.

Am Nachmittag leckte die Novembersonne den Schnee von den Steinen der Straße. Da steckte Fink einige merkwürdig aussehende Papiere in seine Brusttasche, schlenderte als müßiger Wanderer durch die lebhaftesten Straßen der Stadt und sah sich mit scharfem Blick um, wie ein Polizeibeamter, der Beute sucht. Endlich lenkte er mit zufriedenem Gesicht auf das Trottoir der entgegengesetzten Straßenseite und stieß dort auf zwei elegante Herren, welche, wie er, einsam durch das plebejische Treiben der Sonntagsspaziergänger zogen. Es war der Leutnant von Zernitz und Herr von Tönnchen, beide von großem Unternehmungsgeist und untadelhaften Allüren.

»Teufel, Fink!«

»Guten Tag, ihr Herren!«

»Was treiben Sie so träumerisch auf der Straße?« f ragte Herr von Tönnchen.

»Ich suche Menschen«, erwiderte Fink melancholisch, »ein paar treue Gesellen, welche verdorben genug sind, an diesem langweiligen Sonntage bei Tageslicht eine Flasche Portwein zu trinken und mir vorher in einem kleinen Geschäft als Zeugen zu dienen.«

»Als Zeugen?« fragte Herr von Zernitz. »Wollen Sie sich hinter der Kirche duellieren?«

»Nein, schöner Kavalier«, entgegnete Fink, »Sie wissen, ich habe diese Unart verschworen, seit der kleine Lanzau meiner Pistole den Hahn abgeschossen hat. Gerade jetzt bin ich sehr friedfertig, ein geplagter Geschäftsmann, würdiger Sohn der Handlung Fink und Becker. Ich suche Zeugen für eine notarielle Urkunde, welche eiligst ausgestellt werden muß. Ich finde wohl einen Notar, aber die gewöhnlichen Gerichtszeugen sind heut am Sonntag auf den Kegelschub gelaufen. Es wäre menschlich von Ihnen, wenn Sie mir diesen unglücklichen Nachmittag durchbringen hülfen, eine Viertelstunde beim Notar, den Rest beim Italiener.«

Mit Vergnügen waren die Herren bereit. Fink führte sie zu einem bekannten Notar und bat diesen, vor beiden Zeugen eine Abtretungsurkunde auszustellen, da die Zession sofort erfolgen müsse und die Sache von größter Bedeutung sei. Er überreichte ein ehrwürdiges, in englischer Sprache geschriebenes Dokument, worin der Generaladvokat irgendeiner County im Staate New York urkundlich offenbarte, daß Herr Fritz von Fink Eigentümer des Territoriums Fowlingfloor, sowohl des Grund und Bodens als der darauf befindlichen Gebäude, Bäume, Gewässer und aller daran haftenden Nutzungen, sei. Darauf erklärte er vor dem Notar, daß er alle nach dieser Urkunde ihm zustehenden Eigentumsrechte an Herrn Anton Wohlfart, zur Zeit im Geschäft von T. O. Schröter, zediere, Zahlung dafür sei vollständig geleistet. Endlich bat er den Notar inständig, das Dokument schleunigst auszustellen und über die ganze Sache Stillschweigen zu bewahren. Der Herr versprach das, und die beiden Zeugen unterschrieben die Verhandlung. Beim Hinausgehen bat er diese ebenfalls mit mehr Ernst, als er sonst zu verwenden pflegte, diesen Akt als tiefes Geheimnis zu bewahren und vor allem gegen Herrn Anton Wohlfart selbst ein unverbrüchliches Schweigen zu beobachten. Beide gelobten das mit einiger Neugierde, und Herr von Zernitz konnte nicht umhin, zu bemerken: »Ich will nicht hoffen, Fink, daß Sie hier Ihr Testament gemacht haben, in diesem Falle wäre ich Ihnen dankbar gewesen, wenn Sie mir Ihre Büchse vermacht hätten.«

»Wenn Sie die Büchse von dem lebendigen Fink annehmen wollen«, erwiderte Fink, »so werden Sie ihn sehr glücklich machen.«

»Teufel!« rief der gutmütige Leutnant fast erschrocken. »So war es nicht gemeint. Ich weiß doch nicht, ob ich das mit gutem Gewissen annehmen darf.«

»Tun Sie es immerhin«, sagte Fink freundlich, »ich habe das Rohr satt, es wird bei Ihnen in guten Händen sein.«

»Es ist ein kostbares Geschenk«, warf der Leutnant mit Gewissensbissen ein.

»Es ist ein altes Rohr«, sagte Fink, »und morgen müssen Sie es ohne Widerrede annehmen, denn heut werden Sie mich nicht los, Sie sollen mit mir zu Feroni. Was aber die geheimnisvolle Abtretung der Güter betrifft, so handle ich hier nicht ganz freiwillig. Es ist eine Art politisches Geheimnis dabei, das ich auch Ihnen nicht mitteilen kann, schon deshalb nicht, weil mir die Sache selbst noch nicht klar ist.«

»Ist denn das Gut groß, welches Sie abgetreten haben?« fragte Herr von Tönnchen.

»Ein Gut?« fragte Fink und sah nach dem Himmel. »Es ist gar kein Gut. Es ist eine Bodenfläche, Berg und Tal, Wasser und Wald, ein freilich kleiner Teil von Amerika. Und ob dieser Besitz des Herrn Wohlfart groß ist? Was nennen Sie groß? Was heißt groß auf dieser Erde? In Amerika mißt man die Größe des Landbesitzes nach einem andern Maß als in diesem Winkel von Deutschland. Ich für meinen Teil werde schwerlich je wieder eine solche Besitzung mein Eigentum nennen.«

»Wer ist denn aber dieser Herr Wohlfart?« fragte auf der anderen Seite der Leutnant.

»Sie sollen nächstens seine Bekanntschaft machen«, antwortete Fink. »Er ist ein netter Junge aus der Provinz, über dem ein merkwürdiges Schicksal schwebt, von dem er selbst zur Zeit noch gar nichts weiß und nichts wissen darf. Doch genug von den Geschäften. Ich habe für diesen Winter etwas mit Ihnen vor. Sie sind zwei alte Knaben, aber Sie müssen doch noch einmal Tanzstunde nehmen.«

Bei diesen Worten traten sie in die Weinstube des Italieners, wurden von Feroni mit tiefen Bücklingen empfangen und vertieften sich schnell in Untersuchungen über die Reize der schweren Weine von Portugal.

Frau von Baldereck war eine Hauptstütze der allerbesten Gesellschaft, welche durch die Familien des Landadels, einige höhere Beamte und Offiziere gebildet wurde. Es war schwer zu sagen, welche Vorzüge der Dame eine solche achtunggebietende Stellung verschafft hatten, sie war weder sehr vornehm noch sehr reich, noch sehr elegant, noch sehr geistreich, noch sehr medisant, aber sie besaß von allen diesen Eigenschaften etwas. Sie hatte in ihrem Privatleben stets soviel als irgend möglich auf Grundsätze gehalten und hatte das Selbstgefühl gehabt, sich den Anspruchsvollen niemals aufzudrängen. Wegen dieser konstanten Mäßigung war sie von der öffentlichen Meinung erhöht worden. Sie besaß eine sehr ausgebreitete Bekanntschaft, war vertraut mit allen Heiraten und Verwandtschaften aller Familien der Provinz, stand in allen distinguierten Häusern auf der ersten Seite der Einzuladenden und machte als Witwe selbst ein mäßiges Haus, welchem der Hahnfederbusch eines Jägers und zwei fette Rappen zu anständigem Schmuck gereichten. Frau von Baldereck war zu alledem eine regelrechte Dame, welche Personen und Ereignisse genau nach den Vorurteilen der Gesellschaft, in welcher sie lebte, zu beurteilen wußte; deshalb wurde ihr Urteil überall mit großer Achtung angehört. Daß sie außerdem nicht ohne Gutmütigkeit war, rechnete ihr die Gesellschaft, für welche sie lebte, wahrscheinlich nicht so hoch an als der alte Engel des Gerichts, welcher im Himmel über die Taten der Menschen Buch führt und welcher, nebenbei bemerkt, nach der Usance seines heiligen Geschäfts oben auf die Seiten des Buches statt des irdischen Kredit und Debet die Wörter Schaf und Bock zu schreiben pflegt und alle Kreditposten auf die rechte Seite, die Böcke aber auf die linke setzt. – Frau von Baldereck hatte eine junge Tochter, welche ihr sehr ähnlich zu werden versprach, und bewohnte einen ersten Stock mit großen Zimmern, worin seit einer Reihe von Jahren häufig Proben von Aufzügen, dramatischen Vorstellungen und lebenden Bildern abgehalten wurden.

Die einflußreiche Dame war gerade in vertraulicher Beratung mit einer Schneiderin, sie überlegte, wie tief der Ausschnitt der Kleider eingerichtet werden dürfe, um die tadellose Büste ihrer Tochter im besten Lichte zu zeigen und doch wieder in der Tanzstunde keinen Anstoß zu erregen, als Fink, ihr Liebling, gemeldet wurde. Eilig schob sie die Tochter, die Schneiderin und die Kleider beiseite und erschien in dem Besuchszimmer mit der Gemütlichkeit einer Hausfrau, welche für sich selbst nicht mehr übermäßige Ansprüche macht.

Nach den einleitenden Bemerkungen über die Ereignisse der letzten Abendgesellschaft und die langen Hängelocken der Komtesse Pontak sagte Fink, indem er angelegentlich einen Fußschemel malträtierte, auf welchem ein schlafender Pinscher, von der Tochter des Hauses gestickt, unter den Fußbewegungen des Gastes stöhnte: »Ich habe Ihren Auftrag ausgerichtet, Lady Patroneß, und bringe Ihnen vorläufig drei Herren.«

»Und wer sind diese?« fragte die Dame vom Hause erwartungsvoll, vergaß die Leiden des gestickten Pinschers und rückte näher an ihren Verbündeten.

»Zuerst Leutnant von Zernitz«, sagte Fink.

»Eine gute Akquisition«, rief die gnädige Frau erfreut, denn der Leutnant war, was man einen geistreichen Offizier nennt, er machte niedliche Verse in Familienalbums und zu verlorenen Vielliebchen, war unübertrefflich im Arrangement von mimischen Darstellungen und stand in dem Ruf, irgendeinmal in ein Taschenbuch eine Novelle geschrieben zu haben. »Herr von Zernitz ist ein liebenswürdiger Gesellschafter.«

»Ja«, sagte Fink, »aber Portwein kann er nicht vertragen. Der zweite ist Herr von Tönnchen.«

»Eine alte Familie«, bemerkte die Frau vom Hause. »Ist er nicht etwas wild?« fügte sie schüchtern hinzu.

»Behüte«, sagte Fink, »die Familie hat immer viel Grundsatz gehabt; er ist gar nicht wild, nur zuweilen hat er die Eigenschaft, andere wild zu machen.«

»Und der dritte?« fragte die Dame.

»Der dritte«, sagte Fink, »ist ein Herr Wohlfart.«

»Wohlfart?« fragte die gnädige Frau befremdet und sah ihren Besuch unruhig an. »Die Familie kenne ich nicht.«

»Das ist sehr möglich«, erwiderte Fink kaltblütig, »es gibt zu viele Leute mit und ohne Namen, als daß man sich um alle kümmern könnte. Herr Wohlfart ist vor einigen Jahren aus der Provinz hierhergekommen, um vorläufig die Geheimnisse des Handels durch eigene Anschauung kennenzulernen; er arbeitet im Geschäft des Kaufmanns Schröter, gerade wie ich.«

»Aber lieber Fink!« schaltete die Dame ein.

Fink ließ sich nicht stören, er legte sich in den Armstuhl zurück und blickte nach dem Grau der Arabesken an der Decke. »Herr Wohlfart ist ein merkwürdiger und interessanter Gesell. Es hat mit ihm eine eigene Bewandtnis. Er selbst ist der bescheidenste und bravste Mann, der mir je vorgekommen, er ist hier aus einer Ecke der Provinz, aus Ostrau, der Sohn eines verstorbenen Beamten. Aber es schwebt ein Geheimnis über ihm, von dem er selbst noch nichts weiß.«

»Aber Herr von Fink«, versuchte die Dame wieder einzufallen.

Fink sah eifrig nach den Schnörkeln der Decke und fuhr fort: »Er ist bereits in diesem Augenblick Eigentümer eines Landgebiets in Amerika, die Besitzurkunde ist durch meine Hände gegangen, und im Vertrauen, er selbst hat keine Ahnung von diesem Besitz, und die Sache soll ihm vorläufig ein tiefes Geheimnis bleiben. Wie ich glaube, hat er alle Aussicht, in Zukunft mehr als Millionen zu besitzen. – Haben Sie den verstorbenen Großfürsten, hier nebenbei, gekannt?« Fink wies mit der Hand bedeutsam nach irgendeiner Himmelsgegend.

»Nein«, sagte die gnädige Frau neugierig.

»Es gibt Leute«, fuhr Fink fort, »welche behaupten, daß Anton ihm sprechend ähnlich sieht. Was ich Ihnen sage, ist übrigens mein Geheimnis, mein Freund selbst lebt in vollständiger Unkenntnis aller dieser Beziehungen, durch welche möglicherweise seine Zukunft bestimmt werden kann. Bekannt ist nur der Umstand, daß der verstorbene Kaiser bei seiner letzten Reise durch die Provinz in Ostrau angehalten und sich längere Zeit mit dem Geistlichen des Ortes leise und angelegentlich unterhalten hat.«

Diese letzte Mitteilung war in der Hauptsache richtig, denn Anton hatte dies vor einiger Zeit dem Jockei erzählt, wie man eine Erinnerung aus der Kinderzeit zu erwähnen pflegt. Er hatte sogar noch hinzugesetzt, daß der Geistliche seiner Heimat in dem letzten großen Krieg Feldprediger gewesen war und daß der Kaiser ihn gefragt: »Sie haben gedient?« und eine Weile darauf: »Bei welchem Korps?«

Fink hatte nicht für nötig gefunden, das kleine Ereignis so ausführlich darzustellen. Frau von Baldereck aber war durch diese perfiden Andeutungen in eine gewisse neugierige Stimmung gebracht, sie erklärte sich bereit, Herrn Wohlfart in ihrem Hause zu empfangen. »Und jetzt noch eine Bitte«, sagte Fink sich erhebend. »Was ich Ihnen über meinen Freund mitgeteilt habe, gütige Fee« – die Fee wog über sieben Stein –, »das lassen Sie ein Geheimnis zwischen uns beiden sein. Ihrem Zartgefühl durfte ich anvertrauen, was ich in jedem fremden Mund als eine Indiskretion gegen mich und Herrn Wohlfart ahnden müßte.« Er sprach den Namen so ironisch aus, daß die Dame zu der Ansicht kam, der geheimnisvolle, in einem Kontor verpuppte Herr werde nächstens als Prinz der Alëuten und Kurilen oder in irgendeiner andern unerhörten Würde auftreten.

»Wie aber soll ich«, fragte sie beim Abschied, »den Herrn bei unserer Bekanntschaft einführen?«

»Nur als meinen besten Freund; ich bürge in jeder Hinsicht für ihn und habe die Überzeugung, daß unser Kreis sich selbst den größten Gefallen tut, wenn er den Herrn mit Zuvorkommenheit aufnimmt.«

Als Fink auf der Straße war, murmelte er respektwidrig: »Diese alte Person fuhr wie eine Ente nach dem Köder und tauchte bis zum Steiß in meine Lügen unter. Als ehrlicher Leute Kind wäre der arme Junge von ihnen über die Achsel angesehen worden. Jetzt glauben sie zu wissen, daß irgendein fremder Potentat, vor dem zu kriechen sie für eine Ehre halten, an dem Jungen Anteil nimmt. Jetzt werden sie ihn mit einer Artigkeit behandeln, die meinen Kleinen bezaubern wird. Ich hätte nie gedacht, daß das alte Sandloch am Strande von Long-Island und die verfallene Vogelhütte darin mir je in meinem Leben zu einem solchen Spaß verhelfen würden.«

Der Same, welchen Fink ausgestreut hatte, war auf empfänglichen Boden gefallen. Frau von Baldereck hatte als kluge Frau bei der Tanzstunde auch ihre kleinen Privatinteressen im Auge. Sie war doch einmal vor allem Mutter und hatte es in der Tat auf niemand Geringeren als Herrn von Fink selbst abgesehen. Ihre Tochter war fünfzehn Jahre alt, und Fink besaß alle Eigenschaften, welche ihr an dem künftigen Gemahl ihrer Tochter wünschenswert erscheinen mußten; er war eine in jeder Hinsicht ungewöhnliche Partie, und sie war deshalb überzeugt, daß er ihre Tochter glücklich machen würde. Aus langer Erfahrung wußte sie, daß solche Privattanzstunden ein vortreffliches Mittel sind, erfahrenen, etwas blasierten Herren sehr junge Damen im besten Lichte zu zeigen; die Hauptschwierigkeit dabei ist nur, diese Art Herren überhaupt zur Teilnahme an solchen Vergnügungen heranzuziehen. Sie hatte eine durchaus nicht unnatürliche Angst, daß Fink für die Tanzstunde kein Herz haben würde. Zu ihrer Überraschung hatte er sich mit ziemlicher Wärme bereit erklärt, einen ganzen Winter lang in ihrem Hause zu walzen, ja er hatte sogar zur Bedingung gemacht, daß Fräulein Eugenie ihn zum bevorzugten Tänzer im voraus annehmen solle. Und deshalb hatte die triumphierende Mutter sich gerade so sorgfältig mit dem Schnitt der Tanzkleider beschäftigt, als Fink seinen Schützling Anton bei ihr empfahl. Vielleicht hätte sie auch ohne seine ungewöhnliche Empfehlung ein Opfer gebracht und das Geschöpf des Kontors in ihrer Tanzstunde zu verantworten gesucht, indes waren ihr die Andeutungen des Schelms doch sehr willkommen. Zuverlässig hegte sie selbst einige Zweifel über die abenteuerlichen Verhältnisse, denn Finks Weise war so, daß man ihm niemals recht trauen konnte; aber ihre Mutterliebe trieb sie, auch auf das Dunkle und Ungenügende Gewicht zu legen. Sie eilte in die befreundeten Familien, den Gewinn an Herren mitzuteilen und Herrn Wohlfart durch einige geheimnisvolle Andeutungen auszuschmücken. Als das wenige, was sie sagen konnte, auf einmal von anderer Seite durch ebenso geheimnisvolle Andeutungen zweier Herren von Charakter Bestätigung erhielt, wurde sie selbst in dem Glauben fest, daß hier ein ungewöhnlicher Fall vorliege. Nach wenig Tagen ging ein Summen durch die gute Gesellschaft, daß in der Tanzstunde ein bürgerlicher Herr von ungeheurem Vermögen auftreten werde, für den der Kaiser von Rußland in Amerika unermeßliche Besitzungen gekauft habe.

Einige Tage darauf wurde Anton durch Fink in das Haus der gnädigen Frau geführt, im neuen Frack, in regelrechten Glacéhandschuhen, ein Opferlamm finsterer Mächte, welche im Begriff waren, den Frieden seines Inneren zu zerstören. Sie lauerten in dem Hause der gnädigen Frau und schnürten dem eintretenden Anton schon im Haustor die Brust zusammen. Sie saßen auf der viereckigen Laterne, welche am Gewölbe des Hausflurs baumelte, sie hingen mit ausgebreiteten Händen an dem Holzgeländer der Treppe und steckten durch die großen Bogenlöcher des Geländers ihre Geisterzungen mit höhnischem Lachen gegen ihn aus. Fink sah mit unwilligem Blick, wie sein Opfer den rötlichen Schimmer der Beklommenheit erhielt, er raunte ihm noch zu: »Unterstehe dich nicht, vor diesem Volk rot zu werden!«, warf dem Diener herablassend seinen Überrock zu und führte den Freund unter die Augen der gnädigen Frau. Diese war wirklich, wie Fink prophezeit hatte, eitel Zuvorkommenheit. Mit Neugierde und einem gewissen menschlichen Anteil sah sie auf den hübschen schüchternen Jungen, der mit seinem treuherzigen Gesicht vor ihr stand und vollständig geneigt schien, ihre Macht auf sich wirken zu lassen.

Anton sagte ihr mit einer tiefen Verbeugung: »Nur die Versicherung meines Freundes, daß Sie, gnädige Frau, mir nicht zürnen werden, hat mir den Mut gegeben, Ihnen persönlich meine Ehrfurcht zu bezeigen.« Und die Dame lächelte holdselig, oder, wie der Unhold Fink diese Tatsache auffaßte, sie grinste und entgegnete: »Herr von Fink hat mir die Hoffnung gemacht, daß Sie diesen Winter ein regelmäßiger Gast bei unsern kleinen Tanzübungen sein werden.«

Darauf konnte sich Anton nicht enthalten zu erröten, sehr glücklich auszusehen und zu versichern: »Ich würde mit Vergnügen teilnehmen, wenn ich die Meinung haben könnte, in der fremden Gesellschaft nicht lästig zu werden.«

Nachdem dies mit Eifer verneint worden war, trat Fräulein Eugenie herein, Anton wurde auch dieser vorgestellt, erhielt einen so schnippischen Knicks, als fünfzehnjährige Damen fremden Herren zu machen pflegen, und stieg nach einer Viertelstunde, ganz entzückt über die Anmut der Familie, mit seinem Mentor Fink die Treppe herab. Der unschuldige Junge hing sich vergnügt an den Arm des Freundes und versicherte diesem auf der Straße ernsthaft: »Ich habe mir nicht vorgestellt, daß es so leicht ist, mit eleganten Leuten zu verkehren.«

Fink brummte etwas in sich hinein, was ebensogut eine Bestätigung dieser Ansicht als das Gegenteil ausdrücken konnte, und sagte: »Im ganzen bin ich mit dir zufrieden. Du hast trotz deines neuen Fracks dagesessen wie ein nackter kleiner Engel in einem durchsichtigen Batistkleide. Indessen das nackte Wesen steht dir nicht ganz schlecht. Nur das verfluchte Erröten wirst du dir diesen Winter abgewöhnen müssen, bei einer schwarzen Krawatte ist es bekanntlich allenfalls noch zu ertragen, aber über einer weißen Halsbinde sieht es abscheulich aus. Du siehst dann aus wie ein apoplektischer Amor.«

Frau von Baldereck dagegen fand von ihrem Standpunkt die Anspruchslosigkeit des geheimnisvollen Jünglings wahrhaft rührend, und als ihre Tochter mit Bestimmtheit aussprach: »Fink ist ein ganz anderer Mann und gefällt mir viel besser«, da schüttelte sie den Kopf und sagte lächelnd: »Das verstehst du nicht, mein Kind, es ist ein Adel und eine natürliche Grazie in den Bewegungen des Fremden, ein gewisser Scharm, der ganz bezaubernd ist.«

Der große Tag, an welchem die Tanzstunde feierlich eröffnet werden sollte, war gekommen. Hastig kleidete sich Anton nach dem Schluß des Kontors an und trat in Finks Zimmer, diesen abzuholen. Der Mentor untersuchte mit prüfendem Blick den Anzug des Novizen. »Zeige dein Taschentuch«, sagte er. »Bunte Seide? Schäm dich. Hier ist eines von den meinen. Gieß dir etwas Parfüm darauf. Wo sind deine Handschuhe?«

Mit solchen Lehren führte er den Freund vor das erleuchtete Haus der Baronin.

Als Anton die Treppe des Hinterhauses hinabschritt, öffnete sich die Tür von Jordans Zimmer, und Herr Specht steckte seinen Kopf am Ende eines langen Halses über die Treppe und sandte dem Kollegen seinen neugierigsten Blick nach.

»Er geht«, rief er in die Stube zurück, »es ist unerhört. So etwas hat sich noch nicht ereignet, solange die Welt steht. Es sind lauter Adlige dort. Das wird eine schöne Geschichte werden.«

»Zuletzt, warum soll er nicht gehen, wenn sie ihn einladen?« sprach der gutmütige Herr Jordan, um den stummen Vorwürfen der Kollegen zu begegnen. Keiner wußte etwas dagegen zu sagen, nur Herr Pix rief ärgerlich vom Sofa: »Mir aber gefällt’s nicht, daß er eine solche Einladung annimmt. Er gehört in das Kontor und zu uns. Etwas Gutes wird er unter den Schwadronierern nicht lernen. Fensterglas ins Auge kneifen und Süßholz raspeln, und das wird noch nicht das Schlechteste sein.«

»Es soll merkwürdig bei diesen Tanzgesellschaften zugehen«, rief Specht. »Äußerst frivol, Liebesgeschichten und Duelle jeden Tag. Aber Wohlfart hat immer einen Tick auf solche Dinge gehabt. Nächstens wird er an einem Morgen mit seinen Pistolen unterm Arm ausgehen, und wie er zurückkommen wird, das will ich gar nicht sagen. Auf seinen Füßen nicht, das ist sicher.«

»Unsinn«, erwiderte Pix ärgerlich, »es gibt dort nicht mehr Händel als bei andern Leuten.«

»Und französisch muß er sprechen«, fuhr Specht unaufhaltsam fort.

»Warum nicht russisch?« rief Herr Pix.

Hier gerieten Herr Pix und Herr Specht in einen Streit über die Sprache, durch welche man sich im Salon der Frau von Baldereck verständlich mache. Aber alle Kollegen waren darin einig, daß dieser Besuch der Tanzstunde für Wohlfart ein äußerst gewagter und verhängnisvoller Schritt sei, der unaussprechliches Unheil bereite und die gesamte menschliche Ordnung störe.

»Er ist gegangen«, rief die Tante, von einer Konferenz mit dem Bedienten zurückkehrend.

»Das ist wieder ein Streich seines Freundes Fink«, sagte der Prinzipal.

Sabine sah auf ihre Arbeit nieder. »Mich freut’s«, sagte sie endlich, »daß Fink seinen Einfluß dazu benutzt, dem Freunde ein Vergnügen zu machen. Er selbst tanzt nicht gern, und ihm persönlich ist dies Kränzchen gewiß eher ein Opfer als eine Freude.« Der Bruder sah die Schwester prüfend an, sie nickte ihm leise zu. »Und wie gönne ich’s Wohlfart, daß er unter Menschen kommt! Er ist am meisten von allen Herren zu Haus. Fast jeden Abend, wenn ich zu Bett gehe, sehe ich bei ihm die Lampe brennen. Die andern haben Verwandte oder gute Freunde von früher her, er ist ganz allein, er hat nichts, als was dieses Haus einschließt. Es ist hart, das ganze Jahr so zu leben.«

»Er hat sich bis jetzt brav gehalten«, sagte der Prinzipal, »wollen sehen, ob das Dauer hat.«

»Aber wie war es möglich, daß er in diese Gesellschaft…« rief die Tante. »Bedenkt doch, diese Frau von Baldereck…«

Sabine tippte mit dem Fingerhut auf die Tischplatte. »Fink hat’s ihnen befohlen«, sagte sie, »und das war hübsch von ihm. Und zum Dank dafür soll er morgen trotz dem ernsten Gesicht meines Chefs sein Lieblingsgericht erhalten.«

»Also Schinken mit Burgundersoße«, rief die Tante. »Aber ich bitte dich, wie wird sich Wohlfart unter diesen Uniformen ausnehmen? Und wie wird er mit diesen Lebemännern fertig werden? Er kann’s ihnen nicht gleichtun. Dazu gehört doch wenigstens Geld.«

»Dafür laß ihn sorgen«, erwiderte Sabine fröhlich. »Um den grämen wir uns nicht.«

»Er ist gegangen«, sagte Karl am Abend zu seinem Vater. »Kleine lackierte Glanzstiefel, ich habe sie geholt. Herr von Fink verbot ihm, Schuhe anzuziehen. Und ein neuer Hut, alles vom Kopf bis zu den Füßen neu. So also sieht man aus, wenn man bei vornehmen Leuten tanzen will.«

»Du möchtest wohl auch tanzen gehen?« fragte der Vater.