Die Familie Lüderitz

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Die Familie Lüderitz
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Inhaltsverzeichnis

Genealogie

Autoren

Prolog

DIE SUCHE BEGINNT: CARL LÜDERITZ UND SEINE GESCHWISTER

1 Wissenschaftler und Armenarzt: Dr. Carl Ferdinand Lüderitz

2 Malerin mit Mut und Talent: Elisabeth Poppe-Lüderitz

3 Glückloser Konsul von Casablanca: Hermann Lüderitz

4 Vom Kaiserlichen Buchhalter zum armen Rentner: Albert Lüderitz

ABTAUCHEN IN DIE VERGANGENHEIT: CARLS URGROSSELTERN UND GROSSELTERN

5 Der Prediger: Johann Carl Lüderitz

6 Die Witwe des Predigers und ihre Töchter

7 Die Söhne des Predigers: Gotthilf Ernst und Carl Friedrich Ferdinand

8 Über Hugenotten und Möchtegern-Hugenotten: die Familien Ahé und Doussin

9 Die nächste Generation: Theobald Lüderitz

10 Die Zwillinge und das Tagebuch des Carl Adolph Lüderitz

HARZREISEN: DIE DEUTSCHE SEELE BEIM WANDERN

11 Berühmte „Vorläufer“: Goethe, Chamisso, Heine, Fontane

12 Das Reisetagebuch des Carl Adolph Lüderitz

13 Das Reisetagebuch des Carl Ferdinand Lüderitz

LÜDERITZ, BEYMEL UND NEIDER: DREI FAMILIENGESCHICHTEN TREFFEN AUFEINANDER

14 Familienbande: die Schwestern Lucie und Ottilie Neider

15 Die große Unbekannte: Ida Kreutzfeld – Haushälterin oder „Dame des Hauses“

16 Vom Memelland bis nach Berlin: die Beymels

17 Die vergessene Sängerin: Anna Goetz geb. Beymel

DIE SPURENSUCHE GEHT WEITER: LÜDERITZ-GESCHICHTEN BIS IN DIE GEGENWART

18 Die Ehefrauen des Georg Lüderitz: Margarete, Elisabeth und Maria

19 Bekannt und verkannt: Adele Lüderitz und Lise Ramspeck

20 Überleben in Nazi-Deutschland: Bernhard Lüderitz

21 Wandlerin zwischen den Welten: Sigrid-Maria Lüderitz

Epilog

Literatur- und Quellenangaben

Danksagung

Über Hayit Medien

Genealogie der Familie Lüderitz


Genealogie der Familie Lüderitz
Hayit Sachbuch

Gendergerechte Formulierung Aus Gründen einer einfacheren Sprache und einer besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch auf die Nennung verschiedener Geschlechter verzichtet. Wir distanzieren uns aber ausdrücklich von geschlechtsspezifischen Diskriminierungen, auch im sprachlichen Umgang, und möchten deshalb darauf hinweisen, dass die überwiegende Verwendung der männlichen Form explizit als geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

Impressum

AutorenProf. Dr. Paul Enck Prof. Dr. Gunther Mai Prof. Dr. Michael Schemann

Herausgeber Ertay Hayit, M.A.

Lektorin Ute Hayit

Gesamtproduktion Mundo Marketing GmbH, Köln

1. Auflage, Köln 2021

© copyright 2021, Mundo Marketing GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten All rights reserved

Printausgabe: ISBN 978-3-87322-296-0

E-Book PDF: ISBN 978-3-87322-297-7

E-Book ePub: ISBN 978-3-87322-298-4

E-Book mobi: ISBN 978-3-87322-299-1

Hayit Medien, eine Unit der Mundo Marketing GmbH

Tel.: 02 21 / 999 846 40, kontakt@hayit.de, www.hayit.de

Autoren


Paul Enck Forschungsleiter in der Klinik für Innere Medizin VI des Universitätsklinikums Tübingen bis 2020. Mehr als 500 wissenschaftliche Publikationen im Bereich Medizin und Psychologie (350 in PUBMED) seit 1982, zumeist englischsprachig, in den letzten fünf Jahren etwa 100 populärwissenschaftliche und journalistische Beiträge zu verschiedenen aktuellen medizinisch-psychologischen Themen (Placebo-Forschung, Darm-Hirn-Interaktion, Zwillingsforschung), zumeist in Englisch, ungezählte Auftritte in Medien (TV, Radio, Internet in Deutschland und im englischsprachigen Ausland), zuletzt Veröffentlichung eines populärwissenschaftlichen Buches (Darm an Hirn, Herder/Freiburg 2017, auch als Hörbuch, ab Juni 2019 als Taschenbuch).


Gunther Mai Emeritierter Professor für Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Erfurt, Autor von knapp 100 Aufsatzpublikationen, 10 Monographien, Herausgabe und Mitherausgabe von 10 Büchern seit 1976. Für seine Aufsätze zum Konzept der „Agrarischen Transition“, das er in die wissenschaftliche Diskussion einführte, wurde er ausgezeichnet mit dem Preis der Fritz-Thyssenstiftung für sozialwissenschaftliche Aufsätze 2007, 2. Platz. Sein Buch über die Weimarer Republik wurde 2011 ins Italienische übersetzt.


Michael Schemann Ordinarius für Humanbiologie an der Technischen Universität München. Mehr als 200 zumeist englischsprachige Publikationen (in PUBMED) zu verschiedenen Themen im Bereich Neurophysiologie des Magen-Darm-Traktes. Viele Auftritte in Medien, zuletzt gemeinsam mit Paul Enck und Thomas Frieling Veröffentlichung eines Fachbuches (Neurogastroenterologie, DeGruyter 2017) sowie eines populärwissenschaftlichen Buches (Darm an Hirn, Herder/Freiburg 2017, auch als Hörbuch, ab Juni 2019 als Taschenbuch) mit einer verkauften Auflage von über 10.000 Exemplaren.

Prolog: Eine Biografie sucht sich ihre Autoren

Die folgende Geschichte haben wir uns nicht ausgesucht. Sie hat sich uns ausgesucht und das kam so: Einer von uns (Michael Schemann) suchte für einen Vortrag ein Foto von Dr. Carl Lüderitz und dem englischen Wissenschaftler James Ritchie. Er rief am 4. August 2018 einen der anderen Autoren (Paul Enck) an, der allzu salopp meinte, das könne nicht so schwierig sein. Nach Stunden der Recherche nach Ritchie im Internet kam eine frustrierte Mail zurück: kein Ergebnis! Und der andere, Carl Lüderitz aus Jena? Kein Eintrag in Wikipedia und bis auf einige wenige Publikationen keinerlei Informationen zu seiner Herkunft, seinem Werdegang, seiner Arbeit und seinem Leben.

Nur in einem Punkt gab es die Gewissheit, dass Dr. Carl Ferdinand Lüderitz der Erstbeschreiber der Peristaltik, einem lebenswichtigen Vorgang, der den Transport der Nahrung durch den Darm ermöglicht (1): Nerven in der Darmwand steuern, dass der Darminhalt vorwärtsbewegt wird und nicht steckenbleibt – solange der Darm gesund ist.

Was als Suche nach einem Foto begann, steigerte sich schnell – nachdem wir den Wohnort Berlin gefunden hatten – zu einer Recherche über die Herkunftsfamilie und deren Nachkommen. Im Zusammenhang mit dem Aufspüren eines Bruders von Carl – Hermann Lüderitz, um die Jahrhundertwende Konsul des Deutschen Reiches in Marokko –, fanden wir den dringend benötigten Historiker (Gunther Mai), der uns vor dilettantischen historischen Einordnungen und allzu vielen Spekulationen bewahren sollte.

Seitdem rekonstruieren wir drei mit wechselnder Intensität, aber auf hohem Niveau die Familiengeschichte der „Lüdis“ von 1700 bis in die Gegenwart. Dabei haben wir mehr als hundert Personen identifiziert, die in der einen oder anderen Weise mit Carl Lüderitz verbandelt sind, namentlich genannt in der Genealogie. Tausend und mehr Dokumente und Urkunden haben wir gesammelt und 10.000 Akten – digital oder analog – durchsucht.

 

Viele, aber nicht alle Personen tauchen in dieser Sammlung von Geschichten, die nicht immer in chronologischer Reihenfolge erzählt sind, auf. Manche beschränken sich auf eine Generation, viele sind generationenübergreifend. Alle sind so dicht wie möglich an der Realität, soweit sich diese aus Akten rekonstruieren lässt. Wo Fiktion ins Spiel kommt, ist diese gekennzeichnet.

Erst wenn man die Vergangenheit mit der Gegenwart in Beziehung bringen kann, entstehen Geschichten, davor ist es (nur) Geschichte. Leben bekommt Geschichte erst, wenn die Genealogie mit Dingen angefüllt ist, die die Zeit überlebt haben, wie Briefe, Tagebücher oder Fotos. Davor ist es nur ein Haufen Papier. („Hört, hört!“, lässt der Historiker verlauten, „und wer sorgt dafür, dass sie die Zeit überleben? Wir, die Historiker und Archivare.“). Und damit sie die Zeit überleben und Geschichten erzählen können, müssen sie hinterlassen werden; jemand muss sie sammeln und des Aufbewahrens für würdig befinden, und sei es nur in einem Schuhkarton oder auf dem Dachboden. Solche Beispiele werden in einigen Kapiteln beschrieben wie z.B. die Erinnerungen von Carls Vater Carl Adolph, die Bilder seiner Schwester Elisabeth oder sein eigenes Harz-Reisetagebuch.

Ein Foto von Carl Lüderitz haben wir immer noch nicht, dafür aber ein gemaltes Portrait. Eine Freundin meinte, dass wir, hätten wir schneller ein Foto gefunden, vermutlich nicht so weit und tief und lange gegraben hätten. Es ist so: Wir haben uns die Geschichte nicht ausgesucht, sie hat uns gesucht und gefunden.

Titelbild: Von Elisabeth Poppe-Lüderitz, der Schwester von Carl Lüderitz 1888 gemalte Familienszene mit der Malerin (stehend), Mutter Lucie geb. Neider, daneben ihr ältester Sohn Albert, links sitzend der jüngste Sohn Hermann und rechts Dr. Carl Lüderitz

DIE SUCHE BEGINNT: CARL LÜDERITZ UND SEINE GESCHWISTER
1 Wissenschaftler und Armenarzt: Dr. Carl Ferdinand Lüderitz

Wenn man es genau betrachtet, war Dr. Carl Ferdinand Lüderitz der erste richtige Akademiker in einer Kaufmannsfamilie – auch wenn sein Urgroßvater und ein Großonkel Theologie studiert hatten. Dies ist insofern bedeutsam, als es zeigt, dass seine Eltern den Wunsch gehabt haben müssen, ihren Kindern etwas Besseres zu bieten. Das traf zumindest auf die drei Söhne zu, wobei der ältere, Albert, in die Fußstapfen der Vorväter trat und Bankkaufmann wurde. Dabei brachte er es bis in die Reichsbank und zum Kaiserlichen Bankrat. Für die Tochter war ein anderer Weg vorgesehen, aber auch der lässt dieses Motiv erkennen.

Bild 1-1: Stadtplan von Berlin aus dem Jahr 1811 mit dem Eckhaus Markgrafenstraße 74 / Zimmerstraße 31 (roter Pfeil), dem Wohnhaus der Lüderitz-Familie 1820 – 1875 (Quelle: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-opus-104308
Kindheit, Schule, Studium

Carl wurde am 14. Februar 1854 in Berlin geboren und am 17. März in der Jerusalemkirche getauft. Eine seiner Taufpatinnen war Alma Lüderitz geb. Tarnovius aus Stettin, verheiratet mit Theobald Carl Albert, einem Bruder von Carls Vater. Als zweite Patin fungierte ein Fräulein Therese Doussin (im Taufeintrag Toussaint) zu Schönweide. Ihr begegnen wir später noch einmal, da sie einen Bruder der Mutter Lucie heiratet (–> Kapitel 14).

Seit 1820 lebte die Familie Lüderitz im eigenen Haus im Zentrum Berlins, heute Berlin-Mitte: Friedrichstadt, Markgrafenstraße 74 / Ecke Zimmerstraße 31. Zur Schule war es ein Fußweg von 400 m, zum französischen Dom weniger als 1000 m, bis zum Berliner Stadtschloss nur 2000 m – man wohnte im Herzen der Stadt. Das hatte seinen Grund: Die Familie zählte zur französischen (Hugenotten-)Gemeinde. Die Hugenotten hatten in diesem Teil der Stadt ihr kulturelles und ökonomisches Zentrum, hatten Siedlungs-, Bau- und Gewerbefreiheit und Privilegien und ein Recht auf kulturelle Identität gewährt bekommen. Das Haus war 1776 errichtet worden und gehörte damit zur barocken Erstbebauung in diesem Teil der Stadt. Es wurde 1881 abgerissen und durch ein größeres Haus mit mehr Etagen ersetzt, aber zu dieser Zeit wohnte die Familie Lüderitz schon an einem anderen Ort.

Carl und später sein jüngerer Bruder Hermann besuchten das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium „um die Ecke“. Dieses war 1811 aus der Königlichen Realschule entstanden und eine Gründung des Pietisten Johann Julius Hecker aus dem Jahr 1747. Die Schule wurde zum führenden humanistischen Gymnasium in Preußen. Die Liste heute noch bekannter Schüler, wie z. B. Reichskanzler Otto von Bismarck, und Lehrer, wie z. B. „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, war lang. Das Gymnasium zählte 1500 Schüler, als Carl 1866 einer von ihnen wurde.

Über Carls Schulleistungen weiß man wenig, lediglich seine gesammelten Deutschaufsätze mit Noten zwischen sehr gut und mittelmäßig sind uns bekannt. An diesen kann es nicht gelegen haben, dass er im Sommer 1869 ein Semester wiederholen musste. Das war in der Obersekunda, also zwei Jahre vor dem Abitur, das er im Februar 1872 ablegte. Der Oberprimaner Carl erhielt im November 1871 einen Schulpreis für eine „feierliche Rede“ zum Reformationsfest, wie die Schulchronik vermerkt. Einer späteren (1910) eigenen Aussage zufolge (2) hätte er gern ein künstlerisch-musisches Fach studiert. Aus der gleichen Quelle wissen wir, dass er leidlich Klavier spielte und durchaus ein Händchen für das Zeichnen hatte, wenngleich nicht das Talent seiner Schwester Elisabeth. Aber sein Vetter Hermann Noth­nagel, sein großes akademisches Vorbild, hatte ihn letztendlich davon überzeugt, Medizin zu studieren.

Am 6. April 1872 schrieb sich Carl an der 1809 gegründeten Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin ein. Zwei Jahre später wechselte er nach Jena, wohin sein Vetter Hermann auf den Lehrstuhl für Physiologie berufen worden war. Zwischen den ersten zwei Semestern in Berlin und der Fortsetzung des Studiums in Jena unternahm Carl eine Reise durch den Harz (–> Kapitel 13).

Seine Familie muss ihn finanziell unterstützt haben, da für Studium, Promotion und Habilitation laut Statut der Universität Jena von 1883 Gebühren zu entrichten waren. Das Studium der Medizin in Jena kostete bei Erstimmatrikulation 21 Mark und 15 Mark für Veteranen (ehemalige Soldaten der Einigungskriege). Das Geld wurde verwendet für: Universitätshaupthalle, Philosophische Fakultät, Bibliothek, Kollegienkirche, Landkrankenhaus, Kollegienhauskasse. Darüber hinaus mussten einige Lehrveranstaltungen als Honorar für den Professor bezahlt werden. Auch die Promotion mit einer klinischen Arbeit über die progressive Muskelatro­phie (3) zum Doktor der Medizin und Chirurgie am 25. April 1876 kostete mehrere hundert Mark (von der Kaufkraft her etwa 1600 Euro nach heutigem Wert). Die anschließende Habilitation war ebenfalls mit nicht näher bezeichneten Kosten verbunden.

Folgende Lehrveranstaltungen mussten an der Universität Jena im Fach Medizin belegt werden: Enzyklopädie und Methodologie, Naturgeschichte und Botanik, Chemie und Pharmazie, Anatomie, Physiologie und Anthropologie, Psychologie, Geschichte der Medizin.

Vorlesungen über die medizinischen Wissenschaften waren: Allgemeine und besondere Pathologie, Semiotik, Arzneimittellehre, Formulare, allgemeine und besondere Therapie, Chirurgie, Verbandslehre, Ophthalmologie, Entbindungskunst, Klinik, Tierarzneikunde, Staatsarzneikunde.

Carl richtete am 17. Mai 1880 an die Medizinische Fakultät in Jena das Gesuch, sich als Privatdozent für das Fach Innere Medizin habilitieren zu dürfen. Der Anatom Wilhelm Müller (1832 – 1909) erstellte das positive Gutachten zur Habilitationsschrift. Die öffentliche Verteidigung erfolgte zur Zufriedenheit der Fakultät am 11. Juni 1880. Mit Schreiben des Großherzoglich Sächsischen Staatsministeriums wurde am 29. Juni 1880 die Genehmigung der Habilitation an der Medizinischen Fakultät für das Fach Innere Medizin erteilt. Vom Wintersemester 1880/81 bis einschließlich Wintersemester 1881/82 hielt Carl als Privatdozent Lehrveranstaltungen ab. Im Jahre 1882 verließ Carl Jena und ging zurück nach Berlin, als auch Nothnagel Jena den Rücken kehrte, um einen Ruf in Wien anzunehmen.

Militärdienst und ärztliche Ausbildung

Bevor wir Carl nach Berlin folgen, ein paar Anmerkungen zum Militärdienst und zur klinischen ärztlichen Ausbildung, wie sie 1882 und sicherlich nicht nur in Jena üblich waren.

Im Jahr 1877 betrug die Wehrpflicht in der Regel drei Jahre. Als Einjährig-Freiwilliger war seine Pflichtzeit auf ein Jahr begrenzt. Carl meldete sich nach dem Staatsexamen zum Militärdienst. In seinem kurzen Lebenslauf am Ende der Habilitation (4) erwähnte er, dass er „ein Jahr hindurch seinen militairischen Pflichten Genüge geleistet“ habe. Die Einjährig-Freiwillige Militärzeit setzte ausreichende Geldmittel voraus, da Unterkunft und Ausstattung selbst finanziert werden mussten. Darüber hinaus musste der Anwärter die Mittlere Reife (Sekundarreife) an einem Gymnasium oder einer Mittelschule erworben haben. Aus diesem Grund wurde das Examen der Mittleren Reife lange Zeit als „das Einjährige“ bezeichnet.

Als Freiwilliger konnte man sich die Waffengattung aussuchen. Da Carl erst nach seiner Militärzeit im April 1878 die Stelle des Assistenzarztes an der Landesanstalt Jena antrat, muss ihn die Familie weiterhin unterstützt haben.

Carl wurde Assistenzarzt (cand. med. Hilfsarzt) an der Medizinischen Klinik unter Direktor Hermann Nothnagel (1841 – 1905) in Jena (SS 1878 bis WS 1881/82) und wohnte in der Bachgasse 417 – 418. Dies war gleichzeitig die Adresse der Grossherzoglichen Landes Heil-, Irren- und Pflegeanstalten und somit vermutlich seine Dienstwohnung. Nothnagel war dort der Lehrstuhlinhaber für Physiologie und Direktor der Medizinischen Klinik.

„In den Jahren 1788-91 wurden die zu Beginn der 80er Jahre auf dem Gelände in der Bachstraße [zu Carls Zeiten: Bachgasse] ... gegründeten Privatkliniken in eine aus Staatsmitteln finanzierte Einrichtung, das Medicinisch-Chirurgisch-Klinische Institut, umgewandelt. 1803 errichtete die Stadt Jena ein Krankenhaus ... in das jeder Landesangehörige gegen Erstattung der Verpflegungskosten aufgenommen werden konnte ... Hatten die Jenaer Medizinstudenten um 1800 die Kranken überwiegend noch in ihren Wohnungen zu besuchen und zu behandeln, setzte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die stationäre Betreuung mehr und mehr durch. Die Bettenzahl ... stieg allein zwischen 1880 und 1900 von 279 auf 539“ (5).

Gegen Ende seiner Ausbildung übernahm Carl im September 1876 die Praxisvertretung von Albert Nothnagel. Der Vater von Hermann Nothnagel war Dorfarzt (Wundarzt) in Alt-Lietzegöricke, einem kleinen Ort auf der östlichen Oderseite (Stare Łysogórki, heute Polen). Hermann Nothnagel schrieb am 1. Oktober 1876 in einem Brief an seinen Freund Dr. Schröder: „... und dann hatte sich mein alter Papa zum ersten Male seit 38 Jahren aus seiner Praxis auf 8 Tage losgemacht, und zwar ohne Sorgen, weil Karl Lüderitz ihn vertrat (ja, so weit ist der schon!)“ (2).

Zwischen Wissenschaft und Armenmedizin

Wissenschaftler haben eine spezifische Sicht auf diese Welt, also eine eher wissenschaftlich-verengte Perspektive. Carls Wissenschaft war das Erste, was wir wahrgenommen haben, als wir seine Fährte aufnahmen und anfingen, nach ihm zu suchen. Neben der gelegentlich zitierten Arbeit (1) gab es weitere Arbeiten zum Thema Darmmotorik, aber auch Arbeiten zur Mikrobiologie (Bakterien) und zur Kreislaufphysiologie. Jedoch wurden diese zehn Jahre und später nach seinem Umzug nach Berlin publiziert, also nach 1889. Das heißt, jedenfalls nach heutigem Standard, dass die Daten erst in der Zeit in Berlin erhoben wurden, und das wiederum, dass sie aus einem experimentell ausgestatteten Forschungslabor stammen müssen und nicht aus dem Hinterzimmer einer Arztpraxis. In der Tat trugen einige dieser Arbeiten den Vermerk „Aus dem physiologischen Institut zu Berlin“ und „Aus dem hygienischen Institut der Universität Berlin“, allerdings – anders als heutige Praxis – mit Carl Lüderitz als einzigem Autor. Bei einigen Arbeiten war auch „Dr. Carl Lüderitz, praktischer Arzt in Berlin“ vermerkt.

 

Bild 1-2: Foto vom Eingangsbereich der Jenaer Landeskrankenanstalten vor 1910 mit Blick auf die Medizinische Klinik (Quelle: unbekannter Fotograf; zur Verfügung gestellt von Frank Döbert, Jena)

Naheliegend war es, zunächst die Institute und deren Archive zu kontaktieren, so auch das Archiv der heutigen Humboldt-Universität. Immerhin handelt es sich um das Hygiene-Institut des Robert Koch (1843 – 1910), der 1885 nach Berlin berufen worden war, und um den Lehrstuhl des Physiologen Johannes Gad (1842 – 1926). Beide waren akademische Größen jener Zeit, deren Namen noch heute Klang haben. Insbesondere das Robert-Koch-Institut, das aus dem 1891 gegründeten und nicht zur Universität gehörigen Königlich Preußischen Institut für Infektionskrankheiten entstanden war und von Robert Koch geleitet wurde, hat alle Aktivitäten rund um das Institut penibel dokumentiert. Zum Abschied von der Universität wurde Robert Koch 1891 ein Album mit Fotos aller Mitarbeiter des Instituts überreicht. Carl Lüderitz war nicht darunter (6). In den Annalen des Gad-Instituts fand sich ebenfalls kein Hinweis auf einen Mitarbeiter Carl Lüderitz, auch wenn Lüderitz ihm in einer Arbeit für die Unterstützung dankte und Gad in einer eigenen Arbeit Lüderitz zitierte. Auch das Archiv der Universität und das Institut für Geschichte der Medizin an der Universität kannten ihn nicht.

Also packten wir das Problem von der anderen Seite an und suchten in Berlin den praktischen Arzt Dr. Carl Lüderitz im Jahr 1882. Hierbei lernten wir – zumindest die Nicht-Historiker – zum ersten Mal den Nutzen der historischen Adressbücher kennen, zumal sie, wie in Berlin, seit 1819 Jahr für Jahr herausgegeben wurden und inzwischen alle digital zur Verfügung stehen.

Carl war ab 1882 schnell und mit fast jährlich wechselnden Adressen im Süden der Stadt gefunden, bis er 1890 am Mariannenplatz 8 im Stadtteil Luisenstadt (heute: Kreuzberg) eine dauerhafte Bleibe für seine Praxis fand. Hier blieb er bis 1907 als „Lüderitz, C., Dr. med., prakt. Arzt etc., SO Mariannenplatz 8, 8 - 9, 4 - 5“. Letztere Angaben, so der Eintrag im Adressbuch von Berlin, bezogen sich auf die täglichen Sprechzeiten.