Die Familie Lüderitz

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Tabelle: Umzüge der Familie Lüderitz und einzelner Mitglieder Lucie Lüderitz (LL), Albert Lüderitz (AL), Carl Lüderitz (CL), Elisabeth Lüderitz (EL), Hermann Lüderitz (HL) *= Eigentum, sonst: Miete **1882: Trebbiner Str. 14, 1883: Ritterstr. 10, 1884: Reinickendorfer Str. 18c, 1886: Waldemarstr. 22, ab 1887 und bis 1906: Mariannenplatz 8

Ganz offensichtlich hat die wechselnde Familiengröße Lucie Lüderitz veranlasst, die Wohnung jeweils anzupassen, vermutlich um möglichst viel Geld aus dem Hausverkauf für die Ausbildung ihrer Kinder zurückzulegen. Aber das ist wahrscheinlich nur die halbe Wahrheit: In einem Zeitraum von nur 25 Jahren – 1875 bis 1900 – verdoppelte sich die Einwohnerzahl von Berlin von 966.000 auf 1.888.000 vor allem durch Zuzug und Zuwanderung. Dieser Prozess setzte nach 1871 ein, als Berlin Hauptstadt des neuen Deutschen Reiches wurde. Und das veränderte die Lage auf dem Wohnungsmarkt erheblich.

Ab 1892 sind alle Lüderitz-Kinder versorgt und haben Beruf und / oder eigene Familien. Es bleibt ein wenig rätselhaft, warum Lucie Lüderitz in den letzten acht Jahren ihres Lebens noch fünfmal umgezogen ist.

Umzug mit Martha und den Kindern

Albert trat 1887, mit 37 Jahren, in die Reichsbank ein und wurde Kaiserlicher Bankbuchhalter, 1898 Reichsbankbuchhalter, 1901 Oberbuchhalter und 1912 Kaiserlicher Rechnungsrat. Mit 65 Jahren ging er 1915 in Rente.

Er heiratete am 10. Oktober 1892 in Berlin Martha Wilhelmine Clara Lützow (* 19. Februar 1869), Tochter des Schuldirektors und späteren Besitzers einer Privatschule Friedrich Julius August Lützow und der Clara Pauline Albertine Lorenz. Martha Lützow war die Schwester von Karl Lützow, dem Pfarrer in Schmöckwitz und Eichwalde (7,8).

Bild 4-1: Die Kinder von Martha und Albert Lüderitz: Bernhard (li), Georg (re) und beide mit Charlotte, aufgenommen Weihnachten 1902

In den folgenden Jahren bekam das Paar drei Kinder: Charlotte, geboren am 24. Juli 1893, Bernhard, geboren am 27. März 1896, und Georg, geboren am 12. November 1897. Jetzt wiederholte sich, was wir schon bei Lucie Lüderitz und ihren Kindern nach ihrem Hausverkauf 1875 beobachten konnten: Albert zog nach seiner Hochzeit nach Berlin-Friedenau und wohnte bis 1893 in der Sponholzer Straße 42, zog dann in die Hauffstraße 13 (bis 1896), in die Lauterstraße 11 (bis 1899), in die Moselstraße 13 (bis 1902), in die Menzelstraße (bis 1904) und schließlich in die Cranachstraße 51 (ab 1905), wo er im eigenen Haus bis 1918 lebte. Das waren sechs Umzüge in 13 Jahren, eine vergleichbare Umzugsfrequenz wie bei seiner Mutter.

Dabei kann es im Fall von Albert und Martha nicht unbedingt am Geld gelegen haben. Er hatte mit Sicherheit ein festes Gehalt als Staatsbeamter im mittleren Dienst, und sie kam „aus gutem Hause“, wenngleich aus einer großen Familie (8). Die Kinder waren 1905 beim Umzug in die Cranachstraße noch nicht so alt, als dass eine Ausbildung schon viel gekostet hätte: Charlotte war zwölf, Bernhard neun und Georg erst sieben Jahre alt.

Tabelle: Umzüge von Albert und Martha Lüderitz. Carl Lüderitz (CL), Albert Lüderitz (AL), Charlotte Lüderitz (ChL), Bernhard Lüderitz (BL), Georg Lüderitz (GL), Adele Lüderitz (AdL); *Carl verkauft 1906, AL verkauft 1918, **= Eigentum, sonst: Miete

Es muss andere Gründe für die häufigen Umzüge gegeben haben. Einer könnte sein, dass die Familie mit dem Umzug nach Friedenau bereits früher (nach 1892) versucht hatte, dort dauerhaft Fuß zu fassen. Friedenau war als bürgerliche Villenkolonie großstadtmüder Beamter geplant worden (9), wurde aber bereits kurz nach seiner Gründung 1871 vom Ansturm der vielen Neubürger überrascht.

Der schnelle Ausbau, den auch andere Randbezirke von Groß-Berlin erlebten, mag die Preise für Wohnungen und Häuser nach oben getrieben haben. Möglicherweise war der 1905 erfolgte Häuserkauf viel früher (vor der Jahrhundertwende) geplant gewesen, musste aber wegen Kostenexplosion einerseits und Finanzierungsproblemen andererseits verschoben werden. Auch in Friedenau war der Wohnungsbau Spekulationsgeschäft (3).

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Kurz vor der Jahrhundertwende (1895) lebten in Berlin mehr als 40 % der Bevölkerung in gemieteten Wohnungen mit nur einem beheizbaren Zimmer, das in der Regel gleichzeitig als Küche, Wohn- und Schlafstube diente und mit Gemeinschaftstoilette im Treppenhaus oder im Hof. Um die Miete bezahlen zu können, wurden oft noch „Schlafburschen“ aufgenommen, von denen es in Berlin 1905 etwa 100.000 gab. Etwa 65.000 fast ausschließlich weibliche Dienstboten stellten ebenfalls mehr als 3 % der Bevölkerung, ebenso die häufig studentischen, überwiegend männlichen Zimmermieter, die oft bei Beamten- oder Offizierswitwen ein Zimmer gemietet hatten. Das Statistische Amt Berlins berechnete, dass 1905 in Berlin über 550.000 Einwohner mindestens zu viert in einem Zimmer wohnen mussten. (3,4)

Das Mietverhältnis war zwar rechtlich geregelt (5), erlaubte aber kurzfristige einseitige Kündigungen von Seiten der Vermieter. Mietverträge blieben auch nach Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1900 frei aushandelbar, wurden überwiegend nach den Vorgaben der Hausbesitzerverbände abgeschlossen und liefen meist über ein oder zwei Quartale mit wöchentlicher oder monatlicher Kündigungsfrist. „Vor allem zu den Quartalsterminen 1. April und 1. Oktober kam es jeweils zu Kündigungs- und daher auch zu Umzugswellen ... An diesen Umzügen ... waren in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg jährlich über 30 % der Bevölkerung beteiligt und 45,7 % der Wohnungen hatten eine Bezugsdauer von maximal zwei Jahren (1905).“ (3)

„An den üblichen ,Ziehtagen´, zum 1. April und 1. Oktober, herrscht stets ein reger Umzugsverkehr. Beladen mit ihren wenigen Habseligkeiten, ziehen die Berliner von einer trostlosen Wohnung in eine noch trostlosere – womöglich in einen Keller oder einen soeben fertiggestellten, noch feuchten Neubau. ‚Trockenwohner‘ nennt man jene Mieter die eine frischverputzte Wohnung gerade so lange beziehen, bis sie ausgetrocknet genug ist und zahlungskräftigeren Mietern angeboten werden kann, während die Trockenbewohner oftmals krank werden von der Feuchtigkeit. Viele fallen ganz durch die weiten Maschen des sozialen Netzes. Obdachlosen, die von einem der überfüllten Asyle abgewiesen werden, bleibt nur, bei ‚Mutter Grün‘ zu nächtigen. An einem einzigen Tag, dem 30. Januar 1895, nimmt eine ‚Wärmehalle‘, Tagesasyl für Obdachlose, 4000 Personen auf“ (6).

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Zu den nach Friedenau ziehenden vielen Auswärtigen zählte auch die Familie Beymel, die um 1905 dort auftauchte (–> Kapitel 16). Die Beymel-Kinder und die Lüderitz-Kinder haben sich daher vermutlich in der Schule kennengelernt – ein Lüderitz wird viele Jahre später eine Beymel heiraten.

Albert und Martha fanden 1905 in der Cranachstraße eine längerfristige Bleibe, zumindest bis zu Alberts Pensionierung im Jahr 1915. Sie zogen 1918 nach Potsdam in die Augustastraße 39, nachdem sie das Wohnhaus in Friedenau verkauft hatten. Zu diesem Zeitpunkt mag es wiederum Sinn gemacht haben, das Geld aus dem Hausverkauf nicht in eine neue Immobilie zu investieren, sondern es für die Ausbildung der Kinder auf die Seite zu legen. Charlotte war jetzt 14 Jahre, Bernhard elf Jahre und Georg zehn Jahre alt. Wenn dies die Hoffnung der Eltern war, hat sie sich, wie sich herausstellen sollte, jedoch nicht erfüllt. Und auch Albert waren nur noch wenige Jahre beschert: Er starb laut Aufzeichnungen seines Sohnes Georg an Heiligabend des Jahres 1928 im Alter von 78 Jahren im St. Josef Krankenhaus in Potsdam an Darmkrebs. Er wurde am gleichen Tag auf dem französischen Friedhof in der Liesenstraße in Berlin beigesetzt.

Bild 4-2: Albert und Martha Lüderitz geb. Lützow (Foto von 1910)
Zufall oder Ursache und Wirkung?

Zwei wichtige Ereignisse in der Familie Albert Lüderitz fanden im Jahr 1917 statt.

Ereignis eins Die Familie verkaufte ihr Haus in Berlin-Friedenau (Cranachstraße 51) und zog 1918 nach Potsdam in eine gemietete Wohnung (Augustastraße 39), nachdem Albert 1915 in Rente gegangen war. Dies hatten wir früh recherchiert und interpretiert als Plan, mit dem Verkaufserlös die Ausbildung der Kinder zu finanzieren.

Ereignis zwei Der ältere Sohn Bernhard war durch einen Unfall, bei dem er sich die Wirbelsäule gleich mehrfach angebrochen hatte, für den Rest seines Lebens körperlich beeinträchtigt. Auch dies wussten wir bereits, aber wir wussten nicht, wann dieser Unfall geschehen war. Erst ein Nachruf in einer lokalen Zeitung im Jahr seines Todes (1953) gab das Unglücksjahr preis: Es war 1917 und Bernhard war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt.

 

Naheliegend also, die beiden Ereignisse in einen Kontext zu stellen. Fand der Umzug statt, weil Bernhard diesen Unfall hatte und weil eine neue Wohnung notwendig war? Die Familie wohnte in der Beletage, musste also Treppen steigen, während die Häuser in der Augustastraße in Potsdam ebenerdige Parterrewohnungen aufwiesen. Oder wurde verkauft, weil das Geld, das in der Friedenauer Immobilie steckte, für Bernhards Behandlung und Rehabilitation notwendig war? Er bekam zwar eine Rente, aber deren Höhe konnten wir nicht ermitteln: Die berufsgenossenschaftliche Versicherung gibt dazu keine Auskünfte, und vermutlich sind die Unterlagen längst vernichtet.

Oder passierte der Unfall, nachdem Bernhard eine Ausbildung in Potsdam begonnen hatte? In einigen Dokumenten jener Zeit wird er als Landwirt bezeichnet, aber weder Berlin noch Potsdam sind landwirtschaftlich geprägt. Plante die Familie deshalb, dorthin zu ziehen, und wurde die Immobilie erst daraufhin verkauft? Oder plante Albert den Verkauf aus besagten finanziellen Gründen vor dem Unfall, und der Unfall hat dann die finanziellen Pläne über den Haufen geworfen?

Ein Blick in die Grundbuchakte (nur für die Jahre 1900 bis 1920, damit der Datenschutz für die heutigen Besitzer gewahrt bleibt, genehmigt durch das Amtsgericht des Bezirksamtes Schöneberg) klärte Folgendes: Der Verkauf des Hauses an den Bäckermeister A. Köhler fand am 30. September 1918 statt („Auflassung“ war am 28. September 1918), der Umzug also vermutlich um diese Zeit. Im März 1919 wohnte Albert bereits in Potsdam. Nichts deutet in der Akte darauf hin, dass der Verkauf von langer Hand geplant war. Nach den bekannten biografischen Informationen verbrachte Bernhard nach dem Unfall zwei Jahre in einem Gipsbett, also auch noch im Jahr 1918. Das macht es einigermaßen plausibel, dass der Umzug aus finanziellen und praktischen Gründen erfolgte.

Wäre dies ein Roman, würden wir Autoren daraus eine Geschichte kon­struieren, die sich auf Plausibilität, Spannung, Dramatik und Fortgang der Geschichte hin ausrichtete. Als Wissenschaftler reicht uns das nicht: Mit den wenigen Daten, die wir bis zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung hatten, war eine finale Antwort auf diese Fragen einfach nicht zu geben. Wir suchten weiter.

Ein trauriges Ende

Martha Lüderitz verließ Potsdam unmittelbar nach Alberts Tod, ihr Verbleib zwischen 1929 und 1936 ist bislang unklar. 1937 wohnte sie jedoch bei ihrer Tochter Charlotte in Berlin-Lichtenrade (Landsberger Straße 55). Sie verstarb im selben Jahr an einer Lungenentzündung. Kurz vor ihrem Tod kam Sohn Bernhard aus Bad Berka nach Berlin, um ein halbes Jahr später wieder nach Bad Berka zu gehen und sich um seine Tochter aus der Ehe mit Adele Ramelow, die kurz zuvor (1935) verstorben war, zu kümmern. Aber das ist eine andere Geschichte (–> Kapitel 19).

Albert und Martha hatten 1926 ein Testament verfasst, in dem sich die Eheleute gegenseitig als Alleinerben eingesetzt hatten. Nach dem Tod des zweiten Elternteils waren die Kinder Erben in gesetzlicher Erbfolge. Ob sie etwas geerbt haben, ist jedoch fraglich. Wenn das Geld aus dem Hausverkauf in Wertpapieren angelegt gewesen war, ist es vermutlich im Super-Inflationsjahr 1923 (10) verloren gegangen.

Bei der Testamentseröffnung am 8. Januar 1929 gab Martha den Wert des Eigentums (Hausrat) mit 500 Mark an. Das ist mehr als tragisch, sicherlich auch für Albert, dessen Beruf der Umgang mit Geld gewesen war. Auch wenn Albert als Rechnungsrat eine entsprechende Pension bezogen hat, die ein stabiles Grundeinkommen selbst während und erst recht nach der Inflation gewährleistete: Die Familie war zu Beginn der von den Nazis versprochenen „neuen Zeit“ arm und driftete auseinander.

Diese ersten vier Geschichten aus der Lüderitz-Familie haben – im Hinblick auf den Ausgangspunkt unserer Recherche, die Suche nach dem Arzt Dr. Carl Lüderitz – viel Neues ergeben. Und wir haben erkannt, wieviel Freude es machen kann, gemeinsam auf die historische Suche zu gehen. So haben wir ohne langes Überlegen einfach weitergemacht und uns gefragt, woher die Familie Lüderitz eigentlich stammt. Auch wollten wir nicht zuletzt klären, ob sie etwas zu tun hat mit Adolf (von) Lüderitz (1834 – 1886), dem Kolonialisten aus Deutsch-Südwest, oder mit Gustav Lüderitz (1803 – 1884), dem berühmten Kupferstecher an der Berliner Akademie der Künste. Mit anderen Worten: Wir tauchten weiter ab in die Vergangenheit.

ABTAUCHEN IN DIE VERGANGENHEIT: CARLS URGROSSELTERN UND GROSSELTERN
5 Der Prediger: Johann Carl Lüderitz

Unsere Geschichten der Familie Lüderitz fangen chronologisch mit der Geburt des Urgroßvaters von Carl Lüderitz, Johann Carl Lüderitz, im Jahr 1739 an. Wir hätten sie früher oder später beginnen lassen können, doch es gab gewichtige Gründe für diesen Beginn: Genealogische Forschung wird, je weiter man in die Vergangenheit gerät, zunehmend schwieriger, weil Akten und Dokumente seltener sind, schwerer zu finden und auch schwerer zu lesen. Anders als adelige Familien, die ihre Familiengeschichte schon immer sorgfältig dokumentiert haben, um z. B. Erbansprüche zu sichern, hat das „gemeine Volk“ diesbezüglich weniger Tradition oder Traditionsbedürfnis. Dazu kommen Überlieferungen, die leicht durch Kriege, Feuersbrünste, Krankheiten wie Pest und Cholera und andere Ereignisse verloren gehen. Allein der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) hat fast 20 % der Bevölkerung im Bereich des späteren Deutschen Reiches das Leben gekostet und in manchen Städten Brandenburgs, z. B. in Perleberg (1) und Magdeburg (2), mehr als der Hälfte.

Ein anderer Grund für unsere Entscheidung war, dass Johann Carl Lüderitz, den wir hier „Prediger“ nennen, der erste dieser Linie der Familie Lüderitz war, der nach Berlin kam, um dort zu heiraten. Das schien uns passend, war und ist doch die Dokumentation solcher genealogisch wichtigen Ereignisse in Berlin ungleich besser und verlässlicher als in der Provinz. Unsere Familie Lüderitz kam aus Halle an der Saale, und da sollen unsere Geschichten auch beginnen.

Bild 5-1: Kirchenbuch-Eintrag zur Geburt/Taufe von Johann Carl Lüderitz (Quelle: Kirchenarchiv der ehemaligen Provinz Preußen, Halle (Saale), Taufregister St. Laurentius 1739-1754, S. 4: 9. April 1739)
Halle an der Saale 1739

Johann Carl Lüderitz wurde am 9. April 1739 in Halle (Saale) als Sohn des Kaufmanns und Lederhändlers Johann Gottfried Lüderitz und der Anna Elisabeth Schindler geboren. Der Vater war der einzige überlebende Sohn von Andreas Lüderitz, Bürger und Schuhmacher, der am 10. Juni 1731 im Alter von fast 57 Jahren an Durchfall gestorben war. Andreas war 27 Jahre verheiratet gewesen mit Maria Dorothea, die am 28. Dezember 1750 im Alter von knapp 67 Jahren starb. Aus dieser Ehe waren fünf Söhne und zwei Töchter hervorgegangen, von denen beim Tod der Mutter neben Johann Gottfried nur noch eine Tochter lebte.

Johann Gottfried, geboren im November 1709, starb am 31. Januar 1791 im hohen Alter von 81 Jahren. Er war Schuhmacher-Innungsverwandter – also kein vollberechtigtes Mitglied der Innung – und Lederhändler. Aus dessen Ehe mit Anna Elisabeth gingen mindestens acht Kinder hervor, von denen vier sehr früh starben, darunter zwei Söhne, die auf die Vornamen des Vaters getauft worden waren. Als eines der letzten dieser Kinder aus erster Ehe wurde am 22. September 1759 Johann Gotthilf geboren, der das Geschäft des Vaters übernahm und ebenfalls im hohen Alter von 82 Jahren am 22. April 1842 starb; seine Frau, geboren am 24. Oktober 1764, starb am 1. November 1835. Der Vater heiratete ein zweites Mal und bekam drei weitere Töchter.

Johann Carl war der älteste überlebende Sohn aus der ersten Ehe des Vaters (das Schicksal seines zwei Jahre jüngeren Bruders Johann Heinrich ist unbekannt), bei dem aber offenbar bereits frühzeitig feststand, dass er nicht das väterliche Geschäft übernehmen würde. Ehe er sein Studium im Mai 1758 begann, hatte er ein Gymnasium besucht, die Lateinschule in Halle, vermutlich die der Francke’schen Stiftungen.

Am 1. Mai 1758 nahm Johann Carl das Studium an der Universität Halle auf, wo er sich am 23. Februar mit latinisiertem Vornamen – Joh. Carol. (Johannes Carolus) – für das Studium der Theologie eingeschrieben hatte. Nach Ausweis der Matrikel zahlte er nur die Hälfte der Studiengebühr von einem Taler und vier Groschen. Gemäß den Regelungen in den Matrikeln von 1730 / 31 wurde eine solche Befreiung sowohl den Söhnen von Professoren und einflussreichen Personen ehrenhalber gewährt als auch den armen Schülern, die von den Francke‘schen Stiftungen zur Universität kamen. Da Johann Carl 1759 bis 1762 als „Informator der deutschen und lateinischen Schule“ in Einrichtungen der Francke’schen Stiftungen tätig war (1759 – 1760 an der Knabenschule, 1761 an der Lateinschule, 1762 am Pädagogium), kann man mit einigem Recht vermuten, dass er dort selbst zur Schule gegangen war. Seine Beurteilung durch die Stiftung lautete: „Furcht Gottes ist zu erwarten, hat einige studia, Vortrag und regimen muß noch erlangt werden, Sitten sind angenehm.“

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Die Francke´schen Stiftungen wurden durch den Theologen und Pädagogen August Hermann Francke (1663 – 1727) gegründet. Dieser war seit 1691 Pfarrer an der St.-Georgen-Kirche in Glaucha, gleichzeitig Professor der griechischen und orientalischen Sprache an der Universität Halle. Mithilfe einer Spende gründete Francke Ostern 1695 eine Armenschule; unterrichtet wurden die mittellosen Kinder von einem Studenten der Universität. Da zunehmend auch Angehörige wohlhabender Kreise ihre Kinder zu Francke schicken wollten, gründete er 1695 das Pädagogium als Erziehungs- und Bildungsanstalt für Kinder aus dem Adel und dem reichen Bürgertum. 1697 wurde die Lateinische Schule für Knaben aus bürgerlichen Familien, die akademische Ambitionen hatten, errichtet. Der Unterricht wurde von Studenten gestaltet, die dafür freie Wohnung, freies Holz und 16 Groschen Lohn erhielten. Um den mittellosen Kindern ein angemessenes Umfeld zu bieten, gründete Francke zusätzlich ein Waisenhaus. Als 1701 das Hauptgebäude seiner Stiftung eröffnet wurde, waren Idee und Struktur innerhalb weniger Jahre verwirklicht worden.

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Das Theologiestudium galt vielfach als geeignetes Mittel, um den sozialen Aufstieg ins Bildungsbürgertum zu schaffen: ob als Pfarrer, als Lehrer oder als Hauslehrer. Die soziale Rekrutierung der evangelischen Pfarrer erfolgte aus deutlich niedrigeren sozialen Schichten als in anderen akademischen Berufen. In Halle, dem Zentrum der Theologenausbildung in Preußen, stammten von 1768 bis 1771 mehr als 40 % der Studenten aus Pfarrersfamilien, 11 % aus anderen akademischen Familien, 16 % aus Lehrer- und Beamtenfamilien, 7 % aus dem handeltreibenden und produzierenden Bürgertum; 17 % waren Söhne selbstständiger Handwerker, 7 % von Bauern, 1 % von Arbeitern und Tagelöhnern (3).

Man konnte ohne Abitur Theologie studieren; als 1788 das Abiturientenexamen eingeführt wurde, galt das nur fakultativ. Auch ein Nichtbestehen schloss nicht vom Studium aus, sondern nur von den Stipendien. Selbst das Universitätsexamen als Voraussetzung für die Einstellung als Pfarrer wurde in Preußen erst nach 1800 verbindlich festgeschrieben.

Zu der Zeit, als Johann Carl sein Studium beendete, gab es infolge des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763) in Preußen eine größere Nachfrage nach Pfarrern. Aus den hohen Einstellungsraten ergab sich ein Überangebot an Theologen, das in einer Art konjunktureller Welle bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder auftrat. Doch Johann Carl ging, wie die Francke´schen Stiftungen notierten, „bald“ (ca. 1762) nach Aachen „in Condition“, d. h. in Stellung, vermutlich als Hauslehrer. Der Zeitgenosse Carl Müller schrieb 1783 (4), dass die meisten solcher Hauserzieher, Hofmeister oder Instruktoren Theologen seien: „… und aus der Erfahrung weiß man, daß sie die ärmsten Studierenden, und aus den niedrigsten Classen des Volkes entsprossen sind“. Ihre Armut zwinge sie – in einigen Ländern auch die Konsistorialordnungen – „nach der Akademie, in sogenannte Conditionen zu gehen, und es scheint auch für ein solches Lehramt in der Tat am schicklichsten zu seyn, – eine Vorübung zu dem künftig zu erwartenden geistlichen Lehramte abzugeben“. Sie kommen von unten, kommen mit rauen Sitten auf die Universität und gehen von dieser „in Condition“, wo sie den Kindern der Vornehmen Sitten lehren sollen, die sie selbst nicht beherrschen. Sie sind „höchstens junge, unerfahrne, und eingeschränkte Leute“ und diejenigen Studenten, die nicht so sind, haben das im Elternhaus gelernt und haben auch keine „Condition“ nötig. Dennoch: Als Hauslehrer mochten sie sich pädagogische Erfahrungen mit Kindern ebenso aneignen wie bürgerlich-protestantische Lebensformen. Aber zugleich galt der Hauslehrer als armselige Existenz, als „gebildeter Sklave“, der von seinen Dienstherren für alle Dienste herangezogen wurde.

 
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