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Gunter Preuß

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Ausgewählte Kurzprosa

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Brunnenkinder (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

Eine Reise zurück (Verbotene Türen, 1985)

Charlys Paradies (Verbotene Türen, 1985)

Liebgott (Aus der eigenen Haut, 2000)

Das Radio (Verbotene Türen, 1985)

Begegnung mit Hamlet (Verbotene Türen, 1985)

Der Tausch (Verbotene Türen, 1985)

Im Kino (Verbotene Türen, 1985)

Der Zauberstein (Aus der eigenen Haut, 2000)

Der Frosch (Tschomolungma, 1981)

Manja (Eine Handvoll Sehnsucht, 1999)

Margitta (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

An einem Tag (Die Grasnelke, 1973)

Die Grasnelke (Die Grasnelke, 1973)

Spiegelscherben (Spiegelscherben, 1986)

Die Blonde (Spiegelscherben, 1986)

Mittwochs in der Stadt (Die Grasnelke, 1973)

Zwischen Abend und Morgen (Die großen bunten Wiesen, 1976)

Aufstehen und Gehen (Verbotene Türen, 1985)

Tanzstunden (Verbotene Türen, 1985)

Der Güterboden (Verbotene Türen, 1985)

Im Haus des Todes (Verbotene Türen, 1985)

Der Klang (Im Bauch der Stadt, 2000)

Joker (Zwei im Spinnennetz, 2006))

Das Weib (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

Marina (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

Die Geliebte (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

Inmitten der Nacht (Der 884. Montag, 1999)

Sechserpasch (Briefe an die Geliebte, 1989)

Der Hang (Spiegelscherben, 1986)

Abschied (Spiegelscherben, 1986)

Impressum neobooks

Brunnenkinder (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

Impressum


©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2020

www.herasverlag.de

Layout Buchdeckel Rainer Schulz



Bernhard rannte aus dem Gehöft der Großeltern und den Hügel hinunter, bis die Apfelbäume ihn vor der Großmutter versteckten. Er aß den Käse von der dicken Scheibe Brot, die er aus der Küche stibitzt hatte, dann kaute er Stück um Stück die krustige Rinde. Das Brotinnere befeuchtete er mit Speichel und knetete es, brach dann die Masse auseinander, rollte sie zu Kügelchen, die er sich in den Mund schob und auf der Zunge zergehen ließ.

Mittlerweile hatte er das Dorfinnere erreicht. Vorm »Ross«, der bis auf das Dach mit wildem Efeu umrankten Dorfkneipe, lehnten Fahrräder, deren Felgen mit Stricken oder Hartgummireifen umspannt waren. Im Schatten einer Pappel saßen Jessner-Franz, Karla und noch ein paar Jungen und Mädchen, die von der Feldarbeit ausruhten und mit Löffeln ihre Kochgeschirre auskratzten.

Bernhard blieb bei ihnen stehen. Er löste mit den Fingerspitzen Krumen aus seinem Knetbrot und steckte sie genüsslich in den Mund.

Das Kochgeschirrgeklapper wurde leiser und verstummte. Die Kinder sahen auf das Stück Brot in Bernhards Händen. Jessner-Franz, ein lang aufgeschossener Junge mit kahl geschorenem Kopf und geröteten Händen und Füßen, einer von den Zugewanderten »aus Hinterpommern«, wie Großvater verächtlich sagte, schluckte mehrmals, hustete und spie vor Bernhards Füße. Im vergangenen Winter war er mit seiner Mutter und seiner zweijährigen Schwester ins Dorf gekommen. Er hatte auf den Tod gelegen, aber die uralte Jelanka hatte ihm das Fieber weggehext und ihm einen alten Uniformmantel geschenkt.

Jessner-Franz zog aus einer der Manteltaschen einen kleinen Spiegel, ließ die Sonne aufs Glas scheinen und lenkte den blitzenden Lichtstrahl auf Bernhards Augen. Die Jungen und Mädchen rutschten sitzend auf dem staubigen Boden heran. Sie bildeten einen Kreis um Bernhard und Jessner-Franz.

Bernhard versuchte, durch Drehen des Kopfes dem blendenden Lichtstrahl auszuweichen. Er hatte sich schon mit Jessner-Franz und anderen Jungen geprügelt, weil sie ihm die Faust entgegenstreckten und ihn »Städter« und »Weißkäse« riefen und die Großeltern als »Leuteschinder« und »Halsabschneider« beschimpften und in Richtung des Mainbachschen Hügels spuckten.

Heute wollte Bernhard einer Prügelei nicht aus dem Weg gehen. Nicht hauptsächlich den Schmerz fürchtete er, es war der Hass, der ihm aus den Augen seiner Gegner entgegenschlug.

Die böseste Prügelei hatte er mit Jessner-Franz gehabt, der vor Schmerz aufgeschrien hatte, wenn Bernhard ihn im Gesicht traf, und in rasende Wut geriet. Bernhard hatte nur fliehen können, wofür er sich nicht einmal geschämt hatte.

Bernhard sah verstohlen zu Karla, der er immer wieder einmal im Dorf oder auf den Feldern begegnet war. Sie lehnte an dem verrosteten Eisengitter vor der Schenke. Das Mädchen war wie die anderen barfuß. Ihre Füße waren braun gebrannt und von der Feldarbeit zerkratzt. Das Frauenkleid, das sie trug, hatte sie mit Bindfaden bis zu den Knien hochgerafft. Ihr Gesicht war rund und glatt wie ein Pfirsich. Sie hatte schwere hellbraune Zöpfe, in denen Lichtpunkte hin und her hüpften. Bernhard versuchte vergeblich, einen Blick von ihr zu erhaschen. Doch sie sah wie gebannt zur halb offenstehenden Schenkentür.

Ihm fehlte mit einmal der Mut zu einer Prügelei. Er überlegte, wie er den Kreis der Dorfkinder verlassen könnte, ohne als Feigling zu gelten.

Aus der Kneipe waren Stimmen zu hören, das Aufschlagen von Fäusten und Biergläsern auf Tischplatten. Jemand schrie: »Schnaps will – will ich! Noch, noch ’nen Schnaps, du – du Spiri – Spirituspanscher!«

Karla senkte den Kopf, löste hastig ihre Zöpfe auf und zog sich die helle Flut von Haaren über die Ohren.

Jessner-Franz stand langsam auf, er überragte Bernhard fast um Kopfeslänge. Verlangend stierte er auf den kleinen Brotklumpen in Bernhards Hand und ließ das gespiegelte Licht darauf fallen.

»Teile!«, forderte er.

Bernhard sagte widerwillig, aber bestimmt: »Der Sieger gewinnt Brot und Spiegel.«

Jessner-Franz blickte auf seine zerschundenen Hände, knackte mit den Fingern, drehte die Handgelenke hin und her. Er sagte dumpf: »Okay.«

Der Kreis der Jungen und Mädchen schloss sich enger um die beiden Widersacher. Hoch über ihnen, in den dichten Blättern der Pappel zeterten Sperlinge.

Bernhard steckte den Rest des Brotes in die Hosentasche und ballte die Hände. Er bemühte sich, langsam zu atmen, überlegte, wo er mit seinen Fäusten den Feind treffen musste, um ihn womöglich gleich kampfunfähig zu machen.

Ein untersetzter hakennasiger Mann trat aus der Kneipe. Er zog Pawlik mit sich, einen riesigen bartstoppeligen Invaliden, der Mühe hatte, mit seinem einen Bein und der Krücke die Balance zu halten.

Die beiden Männer mühten sich die Stufen zur Straße hinunter und blieben bei den Fahrrädern stehen, wobei der eine versuchte sich am anderen festzuhalten. Der Hakennasige sagte: »Pa – Pawlik, du – du bist doch mein Freund – ach, was sa – sage ich, mein Bruder bist du. Es ist so, als wärst du ich – geht das in deinen Schädel?«

Pawlik ließ den schweren Kopf vor seiner Brust pendeln. »Ich bin Invalide«, sagte er. »Sieh doch nur her, oder bist du denn blind?« Er starrte auf das mit Sicherheitsnadeln im Bereich des Oberschenkels fixierte leere Hosenbein.

 

Der Hakennasige sagte beschwörend: »Du bist – mein Freund, Pawlik – das bist du doch! Fünf Jahre hat meine Frau auf mich – gewartet hat sie. Fünf Jahre! Und nun ist mit mir – wie soll ich sagen – nischt mehr los. Das – das ist so und nicht anders.«

Der Hakennasige sprach weiter, seine Stimme wurde leiser. Bernhard hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Ein Granatsplitter, Pawlik ...« Der Hakennasige griff sich zwischen die Oberschenkel. »Mann, Pawlik – ich will sie nicht verlieren, sie ist doch meine Frau – versteh doch. Also würdest du – was soll ich sagen – würdest du mir, wo du doch mein Freund bist – würdest du uns aushelfen?«

Schritt für Schritt und leicht schwankend entfernten sich die beiden. Die Hände des Hakennasigen waren im Ärmel von Pawliks Joppe verkrampft.

»Was ist denn nun? Komm schon, Städter!« Jessner-Franz fuchtelte bedrohlich mit seinen knochigen roten Fäusten vor Bernhard herum.

Bernhard sah zu Karla, die den beiden Männern ein paar Schritte hinterhergelaufen war und nun vor einer Hausmauer kauerte und ihre schmutzigen Hände aufs Gesicht drückte. Er durchbrach den Kreis der überraschten Dorfkinder und rannte zu ihr. Die Jungen und Mädchen sprangen sogleich auf, pfiffen und klapperten mit den Kochgeschirren. Karla drückte den Kopf auf ihren Schoß, ihre Schultern zuckten. Bernhard schob verlegen die Hände in die Hosentaschen. Er fragte: »Der mit der Vogelnase – das ist doch dein Vater?«

Karla schob sich, den Rücken an der Hausmauer, langsam hoch und rieb mit dem Saum des Kleides die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie schluchzte auf und sagte: »Abends – da bringt er manchmal Männer mit nach Hause. Mich – schickt er ins Bett ... Ich kann aber nicht schlafen. Er – er läuft in der Küche auf und ab, oder er schärft auf dem Hof die Sense ... Und Mutter – sie lacht dann so laut, nein – sie schreit ...«

Karla drehte sich von ihm weg, blieb aber stehen.

Bernhard ging zu den Jungen und Mädchen zurück. Er sah Jessner in die Augen und wusste, dass er ihm wieder unterliegen würde.

»Tauschen wir«, sagte Bernhard. »Mein Brot gegen deinen Spiegel.«

Die Jungen und Mädchen riefen wild durcheinander. Jessner musterte Bernhard, dann sah er kurz auf seine wunden Hände und sagte: »Okay. Tauschen wir.«

Unter dem Geschrei der Kinder wechselten Brot und Spiegel den Besitzer. Bernhard lief zurück zu Karla, die ihn verunsichert, aber neugierig ansah. In einigem Abstand blieb er vor ihr stehen, streckte den Arm aus und reichte ihr wortlos den Spiegel.

Sie nahm ihn zögernd, sah hinein und zupfte mit flinken Fingern an ihren Haaren, spuckte sich auf den Handrücken und wischte damit über Stirn und Wangen.

Bernhard lachte leise auf. Eine sanfte warme Welle ging ihm durch Kopf und Brust. Er griff unwillkürlich nach ihren Händen, zuckte aber zurück, bevor er sie berührt hatte.

Aus einem Gehöft schoss mit aufheulendem Motor ein Jeep heraus. Drei amerikanische Soldaten saßen darin. Vor ihrer Brust hingen Maschinenpistolen. Ein vierter Soldat, dunkel wie die Nacht, saß lässig am Steuer des Wagens und rief ihnen lauthals lachend, die Kinder nachahmend zu: »Give me chocolate! Give me chewing gum!«

Der schwarze Ami lenkte den Jeep gewagt von einer Straßenseite zur anderen. Er hupte dabei anhaltend, dass ein schriller Ton alle anderen Geräusche übertönte. Staub wirbelte hoch auf. Die anderen Soldaten lehnten sich weit aus dem offenen Wagen heraus. Die Maschinenpistolen schlugen gegen das Blech des Autos. Ein Soldat warf in hohem Bogen eine Tafel Fliegerschokolade in die Straßenmitte. Der Jeep hielt an mit kreischenden Bremsen. Die Soldaten lehnten sich in den Sitzen zurück und warteten gespannt ab, welches der Dorfkinder wohl die Prügelei um die begehrte Schokolade gewinnen würde. Bernhard erreichte die Tafel Schokolade noch vor Jessner-Franz. Er presste sie an seine Brust und rannte wie um sein Leben durch die winkeligen Gassen des Dorfs und den Hügel hinauf zum Gehöft der Großeltern.

Eine Reise zurück (Verbotene Türen, 1985)

Bernhard war angespannt und ohne Hoffnungen in das Dorf der drei Hügel zurückgekommen. Der Bauernhof der Großeltern, die Kirche und der Friedhof überragten weiterhin die kleinen buckeligen Häuser, die sich zu beiden Seiten der kopfsteingepflasterten engen Straße aneinanderdrängten. Nichts hatte sich verändert, und doch erschien ihm alles fremd. Die Wirklichkeit zerstörte manchen Zauber der Erinnerung, und er machte die Entdeckung, dass zurückgeholte Vergangenheit schmerzliche Enttäuschung mit sich brachte. Das Gefühl der Fremdheit kam für ihn nicht vom Äußeren der Menschen und Dinge, sondern aus ihrem Inneren. Auf dem Friedhofshügel sang wie damals der Wind in den gewaltigen uralten Bäumen, aber seine Melodie war eine andere; das Wasser des Baches hatte noch die gleiche Kälte und Beredsamkeit, aber Bernhard verstand seine Worte nicht mehr; die Sonne erkannte er nicht mehr als die ihm Glück verheißende goldene Murmel, derentwegen er in die Wipfel der Bäume gestiegen war, sie war ein fremdes Gestirn, von dem Bruder Werner ihm gesagt hatte, dass seine mittlere Entfernung von der Erde einhundertneunundvierzig Komma sechs Millionen Kilometer betrüge. Die Menschen hier erschienen ihm wie verwandelt. Darüber erschrak er.

Es war Sommer, aber die Kinder waren nicht auf den Feldern. Auf dem Friedhofshügel belauerten zwei Jungen, hinter schief stehenden Grabsteinen versteckt, einander. Beim Umherirren fand er heraus, dass die älteren Jungen und Mädchen Mitglieder im neu gegründeten Ruderverein »Aufbau Jöseritz« waren. Sie ruderten auf dem Fluss oder arbeiteten in einem Schuppen mit Laubsäge, Sperrholz und Leinen an einem Bootskörper. Am Flussufer standen geflickte Zelte, in denen die Jungen und Mädchen übernachteten. Wer nicht bei den Ruderern war, trainierte auf dem Fußballplatz im Nachbardorf. Die Mädchen besuchten einen Zirkel für Volkstanz. Jeden Sonnabend gab es im ehemaligen Vereinszimmer vom Gasthof »Zum Ross« eine Filmvorführung oder Tanzveranstaltung. Die Jungen und Mädchen sprangen dann an den Fenstern hoch, um neugierige Blicke nach drinnen zu werfen. Die Kleinen spielten Verstecken und Haschen, bis sie von den Eltern oder Geschwistern nach Hause gerufen wurden.

Bernhard traf bei den Bootsleuten auf alte Bekannte. Sofort hatte er Jessner-Franz im Blick. Der Junge war noch länger geworden, die Narbe zwischen seinen Augen schien sich vertieft zu haben, seine Hände waren blaurot, das Haar war kurz geschnitten und sturzelte ihm in Büscheln in die Stirn. Der Stimme des ehemaligen Tagelöhnersohnes war anzuhören, dass er bei den Bootsleuten etwas galt. Er rannte von einem zum anderen, packte dort und da mit zu und hatte ständig was zu rufen und zu fluchen. Er hielt sich oft bei Karla auf, die gewachsen war und statt der Zöpfe die Haare kurz trug, aber sonst so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Bernhard bemerkte schnell, dass Jessner-Franz sie nie anschrie und oft ihren Blick suchte.

Da kam Jessner-Franz zu den Weidensträuchern gerannt, hinter denen Bernhard sich verbarg.

»He! Was hast du hier zu suchen?«, rief er. »Kannst du nicht lesen? Betreten verboten!«

Bernhard trat aus dem Schatten der Büsche.

»Was willst du? Ich kenne dich nicht. Du bist nicht von hier. Also hau ab, bevor ich dir Beine mache!«

Bernhard sah den Jungen nur böse an und rührte sich nicht vom Fleck. Die Jungen und Mädchen hatten ihre Arbeit unterbrochen und schauten herüber. Karla schrie kurz auf, ließ den Pinsel fallen, lief ein paar Schritte auf Bernhard zu und blieb dann stehen.

»Ist was?« Jessner-Franz sah fragend zu ihr. »Kennst du den?« Er drehte sich wieder Bernhard zu und sagte in alter Feindseligkeit: »Du bist der Mainbach, na klar. Der Bernhard Mainbach bist du.«

»Ich bin kein Mainbach«, entgegnete Bernhard diesem Jungen, der wohl immer sein Feind sein würde. Zu Karla gewandt sagte er bestimmt: »Ich bin Bernhard Teichmann.«

Die Jungen und Mädchen flüsterten miteinander, lachten und wanden sich wieder ihrer Arbeit zu.

»Aber ihr kennt mich doch«, rief Bernhard erschrocken. »Ihr müsst mich kennen! Als die Amis im Dorf waren, haben wir für Kaugummi und Schokolade gegeneinander geboxt! Und als die Russen kamen, haben wir uns ein Erdloch gegraben, weil es hieß, sie bringen die Kinder nach Sibirien! Später dann sind wir auf diesem Schinder, den sie Karascho nannten, geritten!«

Bernhard wartete, doch das Schweigen der anderen erschien ihm undurchdringlich. Er wandte sich ab, wartete noch ein paar Augenblicke und ging dann weg. Zurück am Ort seiner Kindheit war er ein Fremder unter Fremden. Warum nur war der Zug nicht weitergefahren, viel weiter, hin zu diesem Land am Ende der Welt, von dem die Märchen erzählten, das hinter siebenmal sieben Bergen und siebenmal sieben Flüssen lagen, wo die Menschen einander lieben und miteinander spielen konnten. Aber keiner kannte den Weg dorthin, vielleicht nur Charly, aber der Bruder hütete seine Kenntnis, als fürchtete er, ein anderer könnte dorthin gelangen und den Zauber zerstören.

Bernhard lief in die Wiesen zu den Mähern und arbeitete mit ihnen, um zu vergessen. Spätabends kehrte er müde und zerschlagen auf den Mainbachschen Hügel zurück, schlang das Essen hinunter, legte sich ins Bett, sprang wieder auf, lief durchs Haus, hörte das Knacken des Holzes, Großmutters Gebete, Großvaters röchelndes Schnarchen, Tante Marthes aufbegehrendes Stöhnen aus sommerschweren Träumen, Schwester Ritas lustvolles Kichern und Onkel Arnos schwer aufsetzende ruhelose Schritte.

Bernhard schlich aus dem Haus. Er kletterte über die Gehöftmauer und legte sich auf das üppige Gras des Hügels. Er sah in die treibenden Wolken, fand einen kleinen Stern, dem er sich anvertraute und der ihn in den Schlaf führte.

Bernhard lebte in diesen Sommerwochen auf dem Hügel in der Nähe des Todes, ohne dass er sich von ihm auch nur gestreift fühlte. Er erkannte seine Herrschaft über Haus und Hof. Bernhard versuchte, mit seiner älteren Schwester über das Gehöft der Großeltern und seine Bewohner zu sprechen. Rita hörte kaum hin und lachte herausfordernd, es war Abend, unten im Dorf spielte eine Kapelle zum Tanz. Sie wiegte sich geschmeidig, den Kopf in den Nacken geworfen und die Arme in die Hüften gestemmt, vor einem alten Wandspiegel. Ihr buntes Kleid umspielte ihren schlanken, aber lockend weiblichen Körper wie eine Welle. Ihr Gesicht und die nackten Arme und Beine waren leicht gebräunt und straff. Eine Flut blonden Haare umspielte ihre Schultern. Bernhard wünschte, sie würde aufhören zu lachen, es klang ihm wie das Gewieher der Stute, wenn sie durch die Stallmauern hindurch den Hengst spürte, der auf dem Hof mit den Hufen scharrt und am Zügel riss.

Bernhard wollte das Zimmer verlassen, aber er stand wie festgehalten. Er dachte daran, dass sich von Rita zu der Reise nicht hätte überreden lassen sollen. Überraschend zog sie ihn an sich, schloss ihn fest in ihre Arme, bedeckte seine Stirn mit Küssen und schluchzte heftig. Er hielt still, überwältigt und gedemütigt. Als sie ihn dann von sich stieß – sie standen sich taumelig gegenüber – fragte sie leise: »Hast du deine große Schwester ein wenig lieb, Bernd? Hast du mich lieb?«

Vor seinen Augen flimmerte es, seine Hände verkrampften sich, er brachte es nicht fertig wegzulaufen. Rita sagte beschwörend: »Du musst mich liebhaben, hörst du. Wir müssen uns liebhaben!«

Sie packte ihn derb an den Schultern, schüttelte ihn und schrie: »Hast du deine Schwester lieb? Sag es! Dass du mich liebhast!«

Bernhard brachte kein Wort heraus, er war nahe daran loszuheulen.

»Sieh mich an«, forderte Rita unnachgiebig. »Du siehst mich jetzt an und sagst, ob du deine Schwester liebhast.«

Bernhard versuchte den Kopf zu heben, aber es ging nicht. Er fühlte seinen Körper so hart und unbeweglich, dass er nie wieder zu einer Bewegung fähig sein würde. Er war also zu Stein geworden, noch nie hatte er sich so sicher gefühlt.

Da hörte Bernhard sich von weit her schließlich doch »Ja« sagen.

Rita ließ ihn los, lachte ausgelassen und rief: »Du dummer Junge, du! Warum musst du deine Schwester so erschrecken! Tu so was nie wieder, hörst du! Versprich es mir!«

»Ich tu´s nie wieder, Rita.«

Einen Augenblick später rannte Rita aus dem Haus. Bernhard stand noch immer steif in Ritas Zimmer. Durch das Fenster sah er die Schwester mit ausgebreiteten Armen den Hügel hinunterrennen.

Charlys Paradies (Verbotene Türen, 1985)

Bernhard spürte: Er musste etwas tun. Aber vorher wollte er sich darüber klar werden, was zu tun war. Er vermutete Ungeheures und wusste von nichts. Er befragte die Menschen; aber auch sie waren ahnungslos. So kam er zu Charly, einst ein Gott, jetzt ein Zauberer.

 

Charly hatte es in der Dachkammer zwischen verfallenen Häusern und Fabrikschornsteinen nicht lange ausgehalten. Er wohnte jetzt in einem Villenviertel im Süden der Stadt. Bernhard fuhr gern mit dem Rad dorthin. Die Villen lagen versteckt hinter Tannen und Obstbäumen. Der Himmel wirkte hier größer und blauer. Hunde schlugen an und ließen sich mit Worten beruhigen. Bienen flogen im Blütentaumel. Bernhard fühlte sich für Augenblicke befreit von den hohen Häusern der Stadt, die ihn wie riesige Schraubstöcke festhielten. Also hatte Charly für sich einen Weg aus der Enge gefunden.

Am Stadtrand, in einem prächtigen Haus, keine dreißig Meter von einem Kastanien- und Platanenwald entfernt, wohnte der Bruder. Am verrosteten Gartentor war ein blank geputztes Messingschild angeschraubt, auf dem in kunstvoll verschnörkelter Schrift eingraviert war: Henriette Rausch. Opernsängerin. Am Briefkasten hing schief, mehrmals abgerissen und wieder angeklebt, ein Papptäfelchen, auf dem mit farbigen Druckbuchstaben geschrieben stand: Charly Teichmann. Mensch.

Der Garten war riesig und verwildert. Rosen rankten sich an Stämmen krumm gewachsener Kiefern und schlanker Birken empor. Gräser und Unkraut standen fast mannshoch. Und überall wucherten Blumen. Mitten aus der farbenfrohen Fülle erhob sich die arg heruntergekommene Villa. Sie war fast gänzlich von wildem Efeu umschlossen. Das Terrassendach wurde von zwei Baumstämmen gestützt. Die Fenster und die Eingangstür standen weit offen. In einem der vielen Zimmer oder irgendwo im Garten musste der Bruder zu finden sein. Charly war in seinem Paradies Herr über Pflanze und Getier, über Licht und Schatten, Stille und Lärm.

Des Bruders Clownsgesicht grinste froh, wenn Bernhard ihn besuchen kam. Bei der Begrüßung hob er segnend die Arme über alles: Sieh nur, Kleiner, so lässt es sich doch leben!

»Mein Gott, setz dich!«, rief Charly. »Nimm mir um Himmels willen nicht die Ruhe. Hau dich ins Gras, mein Alter, steig auf die Bäume, ich glaube, die ersten Äpfel werden reif.«

»Rausch!«, brüllte Charly durch den Garten. »Wir haben Besuch! Hörst du nicht, mein kleiner Bruder ist gekommen, bemüh dich also hoch, Räuscherl«

»Lass sie doch«, wehrte Bernhard ab. Er sah den Bruder nicht gern mit dieser Frau zusammen.

Charlys Hände strichen unruhig über den Berg ungestüm beschriebener Seiten, der sich vor ihm im Gras türmte. Er sah gereizt zum Haus und schrie: »Nun bewege dich aber, Herzchen, wälz dich vom Kanapee, ich will euch etwas vorlesen, mein Gott noch mal, nun komm doch!«

Bernhard setzte sich Charly gegenüber ins Gras. Aus dem Haus war ein Grunzen zu hören, danach ein Ächzen, gleich darauf eine hohe feine Stimme: »Ich fliege schon, Charly, mein Herz. Gleich bin ich bei dir. Hast du etwas Neues geschrieben?«

»Ja, verdammt noch mal, ja!« Mit zittrigen Fingern zog Charly eine Seite aus dem Papierberg hervor, las lautlos mit sich schnell bewegenden Lippen.

»Bist du noch immer krankgeschrieben?«, fragte Bernhard.

»Was denkst du denn, Kleiner«, antwortete Charly eifrig. »Die Journaille muss so lange ohne Charly auskommen, bis der Roman fertig ist. Schluss mit den Aufbaugedichten und Planerfüllungsgeschichtchen, jetzt macht dein Bruder Kunst, verstehst du, jetzt will ich΄s wissen. Ich werde der Welt einen Roman hinlegen und sagen: Seht ihr, so ist das Leben, so und nicht anders, ihr kleinen Idioten, es ist ein Walzer, der getanzt werden will, Wein, den man trinken muss. He, Bruder, warum soll es mir nicht gelingen, mit einem gelungenen Lassowurf den Himmel auf die Erde zu holen, warum nicht, frage ich?«

Henriette Rausch kam mit kleinen schwankenden Schritten auf sie zu. Es sah aus, als würde sie jeden Augenblick stolpern, so aus dem Gleichgewicht erschien die ein Meter und achtzig hohe massige Frau. Sie trug einen Morgenmantel aus buntem Brokat, der ihre plumpen Beine bis zu den Knien und den Ansatz ihrer großen schweißigen Brüste sehen ließ. Über Henriette Rauschs rundem Gesicht türmten sich die nach Art einer Geisha gesteckten blauschwarzen Haare, die sichtlich gefärbt war. Ihr Blick war offen und freundlich, doch um den üppigen kirschrot geschminkten Mund fand sich ein arrogant-abweisender Zug. Trotz ihrer glatten Haut war sie gepudert, und auf Charlys ausdrücklichen Wunsch hatte sie Finger- und Zehennägel hellgrün lackiert. Sie duftete stets, dass Bernhard nie genug davon bekommen konnte, und wenn er für einen Moment die Augen schloss, kam ihm ein betörend schönes Mädchen vor Augen, dem er in Wirklichkeit noch nie begegnet war.

Bernhard wusste nicht viel über Henriette Rausch. Bolz, sein neuer Vater, behauptete, ihren Namen zu kennen, sie hätte in den Vorkriegsjahren die großen Sopranpartien an deutschen Opernhäusern gesungen. Nicht einmal Charly ahnte, wie alt sein Räuscherl war. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie wohl mit An- und Verkauf von Schmuck. Sie war eine Kennerin schöner Dinge und wusste Preise zu machen, die ihre Kunden und auch sie selbst zufriedenstellte. Dazu besaß sie einen winzigen Tabak- und Spirituosenladen, an dessen Tür meistens ein Schild hing: Komme gleich zurück.

Aus den Büchern und durch seine Fantasien bestätigt, wusste Bernhard von den magischen Kräften der Frauen, die Männer hilflos und blöd, zu Schwächlingen und Verrätern, ja, Mördern machen konnten. Aber er verzieh es Charly insgeheim nicht, dass er sich in übergewichtige ältere Frauen verliebte, als sei er blind, als gäbe es diese zarten feenhaften Geschöpfe nicht, denen Bernhard in seinen Träumen so oft begegnete. Charly aber unterwarf diese Mütter-Frauen und ließ von ihnen Gebete und Hilferufe an sich richten. Er machte Puppen, die größer als er selbst waren, aus ihnen; sie reagierten auf seine Handbewegung, und wenn er es verlangte, umarmten, speisten und tränkten sie ihn.

Henriette Rausch kniete vor Charly nieder, streichelte seinen Kopf, den er tief einatmend zwischen ihren Brüsten barg. »Da bist du ja endlich«, sagte Charly zufrieden und erregt. »Meine Schöne, mein Schweinchen, komm, lass dich anfassen, du!« Er griff mit beiden Händen derb an ihre Brüste, an ihre ausladenden Hüften, ihre prallen Schenkel. Henriette Rausch grunzte und quiekte, sie bekam einen Lachanfall, der ihr den Atem nahm.

»Genug!«, rief sie lachend. »Genug, Charly, du Wilder, du, genug!«

Bernhard war aufgesprungen und suchte die Gartentür. Mein Gott!, dachte er, voller Vorwurf gegen sich selbst: Ich ertrage das nicht mehr!

Charly holte ihn ein, riss ihn herum, und Bernhard sah in des Bruders Clownsgesicht, aus dem alle Farbe und Schläue verschwunden war.

»Komm zurück, Kleiner«, bat Charly. »Lauf bloß nicht weg, hörst du, tu das nicht. Ich habe sie ins Haus geschickt, mein Gott, ja, sie ist weg, wir sind allein, wir reden miteinander, über alles reden wir, darum bist du doch gekommen, Kleiner. Es kommt manchmal so über mich, weißt du, es ist die Verdammnis des Fleisches, die uns den Verstand nimmt.«

Bernhard ließ sich von Charly zurück in den Garten ziehen, bereit, zu vergessen und erneut zu glauben. Viel, so viel hatte er den Bruder zu fragen.

Charly setzte sich wieder ins Gras, sah unruhig zum Haus, wo an einem Fenster für einen Augenblick der nackte Oberkörper Henriette Rauschs zu sehen war. Eine mädchenhaft reine Stimme sang das Lied von den beiden Königskindern, die zusammen nicht kommen können.

»Singt sie nicht wunderbar?« Charly nickte, nahm sich die letzten Seiten seines Manuskripts und begann mit Predigerstimme vorzulesen, eines Künders frohe Botschaft. Dabei vergaß er alles um sich herum, er war im Gespräch mit sich selbst, erstaunt und beglückt über die gefundenen Worte.

Wenn Charly ihm vorlas, fühlte Bernhard sich wie von zwei unterschiedlichen Händen berührt. Die eine war grob und rüttelte ihn. Die andere war ohne Schwere und streichelte ihn; ihr gab er nach. Es war die Geschichte ihrer Familie, die der Bruder erzählte, sie hörte sich gut an, lebendig und spannend wie ein Abenteuer. Über manches musste Bernhard lachen, wo er, als er es erlebte, geweint hatte. Charlys Buch erschien ihm wie ein großes Märchen, es wiegte den Zuhörer in Sicherheit, man wusste, das Gute siegte über das Böse, das Schöne über das Hässliche. In Charlys Buch war Rita noch ein langzöpfiges verträumtes Mädchen. Bolz und der tote Vater war dieselbe Person. Die Großeltern waren ein altes gütiges Königspaar. Werner und Charly waren unzertrennliche Zwillingsbrüder. Maria, die Mutter, lebte ohne Angst, immer zu kleinen liebevollen Neckereien aufgelegt und jederzeit zum Verzeihen bereit. Und in Jinnis, der Jüngsten, Augen schaukelte der Schalk.

Charly hatte seine Lesung beendet. Er warf die Blätter ins Gras, saß mit gekreuzten Beinen und auf die knochige Brust geneigtem Kopf. Nach ein paar Sekunden fuhr er hoch, blickte Bernhard böse an und rief: »He, Kleiner, was sitzt du hier herum und kriegst den Mund nicht auf, was soll das heißen, was? Sag schon, was dir nicht gefallen hat, vernichte mich, ja, Himmel, worauf wartest du noch, nun rede schon, sag, dass dir’s nicht passt, was und wie ich’s sage! Hast du überhaupt zugehört, du Blödel, du?«

»Ja – doch«, sagte Bernhard verlegen. »Mir gefällt’s. Es ist gut – schön, ja. Wie du das alles so sagst.«

Charly sprang auf, hampelte durch den Garten, trat gegen Baumstämme und schrie: »Mir gefällt’s! Schön und gut! Verflucht noch mal! Gottverflucht noch mal!«

»Mir gefällt es«, versicherte Bernhard, eingeschüchtert von dem verrückten Gehabe des Bruders. Charly kam zu ihm zurückgesprungen und ließ sich neben ihm aufstöhnend ins Gras fallen. Bernhard sagte: »Wirklich, Charly, ich weiß nur nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es gefällt mir. Das kannst du mir glauben.«

Charly zog Bernhard in seine Arme, drückte ihn mit all seiner schwächlichen Kraft. Seine Stimme war dankbar bewegt. »Ich danke dir, Kleiner, Bruder, mein Gott, bin ich froh, ich weiß, dass du nicht lügst, nicht mehrstimmig zwitscherst wie all die verfluchten Vögel um mich herum. Gefällt’s dir also wirklich, ich hab’s geahnt, nein, ich hab’s gewusst, das wird ein großes Buch, aus den Händen werden’s sich die Leute reißen, das werden sie.«