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Charly sah welk aus wie eine Blume, in deren Blüte der Regen geraten war. Er blickte nun immer öfter zum Haus, als suche er Hilfe.

Bernhard verabschiedete sich eilig. Charly nahm ihm das Versprechen ab, bald wiederzukommen, damit würden sie über alles reden, über die ganze verdammte Sippschaft, das verspreche er, jetzt müsse er arbeiten, das nächste Mal aber ...

Bernhards Weggehen aus Charlys Paradies glich einer Flucht. Auf der Straße trat er in die Pedale, wagte nicht, sich umzusehen. Er wusste, Henriette Rausch kam sogleich aus dem Haus getrippelt. Charly barg seinen Kopf in ihrem Schoß und weinte wie ein kleines Kind. Bernhard schämte sich, für den Bruder, für sich, für alle. Er bezichtigte sich der Feigheit, des Verrates an der Wahrheit. Aber er brachte es nicht fertig, dem Bruder zu sagen, dass er mit seinem Schreiben log, dass er ihnen nicht nur andere Namen und ein anderes Aussehen gegeben hatte, sondern dass er sie leben ließ, wie sie nie gelebt hatten. Oh, Charlys Zauber war falsch. Seine Blumen waren aus Papier, die Sterne aus Flitter, die Herzen aus Stoff. Bernhard erschien es, als lebte der Bruder auf einem anderen Stern, von seinem Lichtjahre entfernt. Charly spielte nur Theater, und doch hätte Bernhard in seinem Stück liebend gern eine Rolle übernommen, vielleicht dass es ihm gelänge, Tränen und Lachen echt werden zu lassen.

Liebgott (Aus der eigenen Haut, 2000)

Die Flucht aus Schlesien war den Teichmanns endlos erschienen. Nun war der Krieg zu Ende, und sie hatten in Leipzig eine Wohnung gefunden. Dem Haus war von einer Bombe das Dach weggerissen worden. Sie wohnten zu fünft in einer nasskalten Erdgeschosswohnung. Im Haus und im dunklen Hinterhof roch es nach Fäulnis und Urin.

Bernhard war dreizehn Jahre alt geworden. Er verliebte sich in irgendwelche Frauen, denen er hier und da begegnete oder die aus Zeitungskiosken von bunten Illustrierten seinen Blick auf sich zogen. Es waren blonde, blauäugige Frauen mit Engelsgesichtern und üppigen Körperformen.

Aus tiefstem Herzen hasste er seinen Klassenlehrer. Herr Lohmers wurde von den Schülern Liebgott gerufen. Er war etwa fünfzig Jahre alt, groß gewachsen, hatte einen kleinen Buckel und ein faltiges Gesicht. Auf der entzündeten Nase saß eine Brille mit starken Gläsern, hinter der sich wachsame Frettchenaugen versteckten.

In Bernhards Klasse gab es nur Jungen, die ständig in Prügeleien verwickelt waren. Sie lagen auf der Lauer, um einen Apfel oder ein Stück Brot zu erbeuten. Nach einer wilden Pausenschlägerei stand plötzlich Liebgott im Klassenzimmer.

»Aber, aber. Was geht denn hier vor, meine Lieben?«, erkundigte der Lehrer sich mit milder Stimme. »Das sieht ja so aus, als wäret ihr ungehorsam.«

Die Jungen rannten zu ihren Plätzen und standen soldatisch stramm. Nur Bernhard war nach Luft ringend stehen geblieben. Sein Kopf schmerzte, das Hemd war zerrissen, und sein Hunger war nicht gestillt.

Liebgotts Gesicht verzog sich angewidert. Mit zwei Fingern fasste er Bernhards Hemd, ließ gleich wieder los, als hätte er sich verbrannt.

»Pfui, du blutest ja.« Der Lehrer hielt ihm einen Taschenspiegel vor Augen.

Bernhard sah in ein Jungengesicht, das anscheinend seins war. Der Lehrer fragte mit öliger Stimme: »Erkennst du dich?« Der Junge nickte widerwillig.

Liebgott fragte mit öliger Stimme: »Bereust du dein tierisches Verhalten?«

Bernhard schüttelte trotzig den Kopf.

Liebgott zog ein Lineal aus seinem Jackenärmel. Bernhard streckt automatisch die Hände vor und schloss die Augen. Siebenmal spürte er einen brennenden Schmerz auf den Handflächen.

Dann befahl Liebgott: »Stell dich mit dem Gesicht zur Wand. Und bis morgen schreibst du hundertmal in Schönschrift und ohne Fehler: Bernhard Teichmann ist seinem Lehrer ungehorsam. Nun bedanke dich bei mir, mein Junge, weil ich dir helfe, den rechten Weg zu finden.«

Die Jungen begegneten einander und anderen Lehrern ungezügelt und unbarmherzig. Aber bei Liebgott waren sie wie hölzerne Puppen. Nur auf seinen Fadenzug standen sie vom Platz auf und setzten sich wieder. Sie sprachen nur, wenn sie vom Lehrer gefragt wurden.

Liebgott war gehasst und gefürchtet von Schülern und Eltern. Wenn der Entscheid über die Versetzung in die nächsthöhere Klasse bevorstand, gaben die Eltern ihren Kindern Päckchen mit. In ihnen befanden sich ein paar Kaffeebohnen, ein viertel Stück Butter oder eine selbst gemachte Wurst. Die Jungen legten ihre Päckchen, auf denen ihr Name stand, vor der Mittagspause hinter die Tafel. Wenn sie vom Hofgang zurückkamen, waren die Päckchen verschwunden.

Liebgott verkündete dann mit Predigerstimme: »Gutes soll nicht unbelohnt bleiben, meine Söhne. Jakob, Wehrmann, Richter, Gruner - ihr bekommt in Fleiß und Rechnen eine Zwei. Ihr gebt euch viel Mühe. Das verdient Anerkennung.«

Der Lehrer zog aus seiner Aktentasche einen Stoß Heiligenbilder und überreichte jedem der Belobigten eins. Die Heiligenbilder waren von allen Schülern sehr begehrt. Sie waren bunt und aus Glanzpapier, und manchmal zeigten sie Abbildungen schöner Frauen.

Am begehrtesten waren die von der Jungfrau Maria. Die Heilige stand an eine Mauer gelehnt, den keuschen Blick auf ihre über der Brust zum Gebet gefalteten Hände gerichtet. Die Jungen radierten so lange am Kleid der Jungfrau Maria herum, bis sie nackt zu sehen war. Mit ein paar Bleistiftstrichen gaben sie ihr, was der Maler aus frommer Überlegung mit dem Kleid verhüllt hatte.

Als Liebgott davon erfuhr, verteilt er nur noch Bilder des Kampfes zwischen David und Goliath. Aber die Schüler malten ihnen pralle Brüste und Hinterteile, so dass die Streitenden als nackte Weiber ihren Kampf fortsetzten.

Auch Maria, Bernhards Mutter, hatte mehrmals versucht, ihrem Sohn ein Päckchen mit vom Munde abgesparten Lebensmitteln mitzugeben. Bernhard spürte, dass der Lehrer auch von ihm diesen Tribut verlangte. Aber gerade darum weigerte er sich, so ein Päckchen mit in die Schule zu nehmen.

Von Liebgott bekam Bernhard immer schlechtere Zensuren. Wegen Nichtigkeiten ließ er ihn sich stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stellen. Bernhards Handflächen waren von den vielen Schlägen mit einer Hornhautschicht überzogen.

Bernhards Mitschüler beobachteten gespannt, wie der ungleiche Kampf zwischen Lehrer und Schüler ausgehen würde. Sie schlossen eifrig Wetten ab. Nur die Stärksten von ihnen gaben Bernhard eine Chance.

Zum Schuljahresende spitzte sich die Auseinandersetzung zu. Liebgotts mahnende Briefe an Bernhards Mutter häuften sich. Er teilte ihr mit, dass Bernhard versetzungsgefährdet sei. Sein Fleiß und vor allem seine Disziplin ließen doch sehr zu wünschen übrig. Überhaupt wisse er nicht, was aus dem Jungen werden solle, wenn er nicht recht bald Einsehen zeigen würde.

Bernhard dachte ernsthaft daran, Liebgott umzubringen. Er schloss die Augen und sah sich einen Pfeil abschießen, der dem Lehrer in die Brust drang und ihn zu Boden sinken ließ. Oder er reichte ihm ein Bonbon, das Liebgott schmatzend lutschte, bis dann das Gift wirkte: Zuerst wurde ihm übel – dann traten seine Augen heraus – er begann zu röcheln, kippte auf die knarrenden Dielen des Klassenzimmers und flehte um Hilfe.

»Das Bonbon war vergiftet«, sagte Bernhard lächelnd. »Es gibt keine Rettung mehr. Nun weiß ich wirklich nicht, was aus Ihnen werden soll.«

Aber Tagträume halfen dem Jungen nicht, das Problem zu lösen. Ihm musste etwas einfallen, wenn er dem Lehrer nicht unterliegen wollte.

In die Mädchenklasse Gleichaltriger war eine Neue gekommen: Margitta Krüger. Vergessen waren die blonden Frauen mit den Engelsgesichtern und die heiligen Weiber mit den Riesenbrüsten. Margitta war klein und zierlich. Sie hatte schwarze Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trug. Ihre Brüste waren nur zu ahnen. Ihre Haut war tief gebräunt. In ihrer Nähe roch es aufregend nach Schweiß. Und sie war von einem Geheimnis umgeben, das Bernhard um jeden Preis der Welt lösen wollte. Manchmal, so glaubte er, lächelte sie ihm beim Hofgang verstohlen zu.

Bernhard musste also in die nächste Klassenstufe versetzt werden, wenn Margitta Krüger ihn nicht als Sitzenbleiber verachten sollte. So entschloss er sich, seiner Liebe zu ihr seinen Hass auf Liebgott zu opfern. Er legte das Päckchen wie die anderen Schüler in der Mittagspause hinter die Tafel. Und Bernhard wurde versetzt. Der Mutter fiel ein Stein vom Herzen, als sie auf seinem Zeugnis las, dass ihr Sohn es verstände, im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen.

Noch am selben Tag fand Bernhard in seinem Schulranzen einen Brief. Er war von Margitta Krüger, und in ihm standen Worte der Verachtung, dass er dem verhassten Liebgott nun doch nachgegeben hatte.

Bernhard zerriss sein Zeugnis und führte seine Bleisoldaten in eine entsetzliche Schlacht. Keiner durfte überleben. Sie lagen verstreut auf dem Fußboden, und er ließ seine bunten Glaskugeln über sie hinwegrollen.

Das Radio (Verbotene Türen, 1985)

Die Mutter hatte ständig neue Einfälle, um Bernhard vom Sporttreiben abzubringen. Jede Sportart, über die sie alles, was sie beunruhigen konnte, in Erfahrung gebracht hatte, war für sie eine Art Kampf, bei dem sie Tote nicht ausschloss. Sicherheit für sich und für die Ihren sah sie nur in ihrer häuslichen Welt. Den Unfall, der hier hätte passieren können, dass jemand auf den blank gebohnerten Dielen ausrutschte, wollte sie verhüten, indem sie aus alten Teppichen zugeschnittene Läufer auf die Wege, die durch die Zimmer zu gehen waren, gelegt hatte.

 

»Herrgott noch mal!« Sie stöhnte auf, als Bernhard nach dem Judotraining hinkend und mit schiefem Hals nach Hause kam. »Jetzt ist es aber genug, Junge! Willst du dich umbringen lassen?«

Bernhard gab weder ihren Bitten noch Drohungen, den Sport aufzugeben, nach. Pünktlich eine halbe Stunde vor Trainingsbeginn verließ er die Wohnung im Trainingsanzug, den Campingbeutel mit den Sportsachen über die Schulter geworfen. Zum Abschied küsste er die Mutter, sprang die Treppe hinunter und rannte aus dem Haus.

Als Maria erkannte, dass Bernhard so nicht in der Wohnung zu halten war, wandte sie eine andere Taktik an. Jeden Nachmittag, wenn er aus der Schule nach Hause kam, wartete eine Überraschung auf ihn: ein ausgeliehenes Buch, selbst gebrannte Malzbonbons, ein Kanarienvogel, der nicht singen wollte.

»Was soll denn das?«, wehrte Bernhard beunruhigt ab. »Ich habe alles. Ich brauche nichts.«

»Nun rede schon«, bat Maria. »Wenn du einen Wunsch hast - ich tue, was ich kann. Wir sind arme Leute, ja, aber so arm sind wir nicht, dass ich dir nicht einen Wunsch erfüllen kann.«

»Ich habe keinen Wunsch, Mama.«

»Man hört, die Jungen sind jetzt alle verrückt auf ein Radio. Willst du – soll ich dir ein Radio kaufen? Dann brauchst du nicht mehr weglaufen. Aus so einem Radio kann man alles hören. Die Welt kannst du dir in dein Zimmer holen, die ganze Welt, wenn du nur willst.«

»Ich will kein Radio.« Bevor Bernhard zum Sport kam, war für ihn ein Radio die Erfüllung eines Traumes gewesen, vor allem so ein Gerät, das man mit sich herumtragen konnte. Abends trafen sich Jungen und Mädchen an den Straßenecken und in den Ruinen, und mancher von ihnen hielt ein Radio im Arm. Aus dem Lautsprecher waren klirrende Musik und quäkende englische Stimmen zu hören. Bernhard hatte nie gewagt, seinen Wunsch laut werden zu lassen. Die Mutter hätte ihn dann angesehen, als hätte er sich eines Verbrechens schuldig gemacht.

»Ich kann kein Radio gebrauchen«, sagte Bernhard, und er drohte: »Oder ich stelle mich damit zu den anderen an die Straßenecke.«

»Wer so ein ordentliches Zuhause hat wie du, der braucht nicht an schmutzigen Ecken herumzulungern. Warum quälst du deine arme Mutter?«

»Ich – ich will dich nicht quälen«, sagte Bernhard bitter, wich Marias Blick aus, ließ die Hände in den Hosentaschen verschwinden.

»Und doch tust du΄s.« Die Mutter ließ ihn nicht aus dem Blick, wartete auf das geringste Anzeichen von Schwäche, um ihn in ihre Arme zu schließen.

»Womit habe ich das verdient?« Maria schluchzte, Tränen in den wachsamen Augen. »Ist das nun der Lohn dafür, dass ich euch immer eine gute Mutter war? Ja, geh nur, geh, verlass nur deine Mutter!«, rief sie ihm nach, als er aus der Wohnung rannte, um nicht doch noch schwach zu werden.

Bald darauf, eines Abends, fand Bernhard ein Kofferradio in seinem Zimmer. Er ging misstrauisch an das Gerät heran, sah zu Maria, die an der Zimmertür stand und mit dem Staubtuch über den Kachelofen wischte. Als Bernhard nicht reagierte, hielt sie in ihrer Arbeit inne und fragte beleidigt: »Freust du dich denn gar nicht?«

»Doch - doch, ja.«

»Was denkst du, was das gekostet hat. Wenn der Apparat auch gebraucht ist, er war nicht billig, bei Gott nicht. Dein Bruder hat das Radio einem Lehrling abgekauft. Der hat es sich gespart durch Buntmetallsammeln. Sieh mal an. Es ist nicht so, dass alle Mütter ihren Söhnen ein Radio kaufen. So ist das nicht. Und du freust dich gar nicht.«

»Aber doch, ja, Mutter, ja doch.« Langsam gewann er Interesse an dem kleinen Kasten. Er hörte gern Musik, wie die meisten jungen Leute englische Titel, die die Welt offener und zugänglicher erscheinen ließen. Am liebsten waren ihm Hörspiele, wo er zu den Stimmen Landschaften, Straßen, Häuser, Sonne, Regen, Himmel und Erde hinzuerfinden musste.

»Dort, links, diesen Knopf musst du nach rechts drehen«, erklärte Maria. »Damit wird das Radio eingeschaltet. Es hat mehrere Wellen oder wie das heißt. Nun schalte es doch ein, Junge.«

Bernhard folgte der Aufforderung, die Skalenbeleuchtung glomm gelb auf, eine Männerstimme sprach in breitem sächsischem Dialekt enthusiastisch von bevorstehenden Ernteerfolgen.

»Hörst du – es spielt!« Maria lachte erleichtert.

»Ja, es spielt!«, rief Bernhard überrascht. Auch er lachte.

»Dreh mal weiter«, sagte Maria und trat näher heran. »Vielleicht findest du noch einen anderen Sender. Ja – dort rechts an dem Knopf.«

Walzerklänge ertönten, Vogelgezwitscher, ein Biologe erklärte das Paarungsverhalten der Spinnen. Eine schnarrend reißerische Stimme kündigte auf Englisch irgendetwas an. Radio Moskau sendete: Du mein stilles Tal, grrruß dich tausend Mal ...

Sie standen über das Gerät gebeugt eng beieinander und hörten zu, als würden sie zum ersten Mal Stimmen und Musik aus einem Radio hören, als stände nicht im Wohnzimmer ein altes großes Gerät, das alle Abende eingeschaltet war. »Hörst du«, sagte Maria. Sie lächelte zufrieden. »Ist das nicht schön. Hier findest du alles, was du brauchst, ohne dass du dir dabei den Arm oder womöglich das Genick brichst. Mache es dir nur gemütlich heute Abend. Ich habe Streuselkuchen gebacken. Und Kakao habe ich auch gekocht. Ich bin ja so froh, mein Junge.«

Bernhard blieb an diesem Abend zu Hause, auch an den drei folgenden Abenden. Er meinte, Maria das schuldig zu sein. Das Radio übte eine ihm bisher unbekannte Faszination auf ihn aus. Sein Zimmer bekam Wärme, die Bilder an den Wänden bekamen Glanz, und es gelang ihm wie durch Zauberei, in Bruchteilen von Sekunden jeden beliebigen Teil der Welt in sein Zimmer zu holen. Gern lag er auf dem Bett, wenn die Dämmerung vom Bahngelände her in sein Zimmer kam. Das Radio stand auf seiner Brust. Die erleuchtete Skala mit den klingenden Namen der Weltstädte lockte ihn, den grünen Zeiger wandern zu lassen. Er hörte die verschiedenen Sprachen Europas. Manchmal meinte er, die Laute eines anderen Kontinents zu empfangen, und dann war es ihm, als hätte er in diesem Augenblick einen Teil der Welt entdeckt. Bis tief in die Nächte hinein hörte er zu: er bewegte sich im schleppenden Rhythmus der Karawane durch die Wüste; er war auf Großwildjagd im afrikanischen Busch; er experimentierte, von der Umwelt verlacht, in einem winzigen Labor an einer Erfindung, die den Menschen das ewige Leben geben sollte; er tanzte mit schönen Frauen in den prächtigen Sälen eines Schlosses; er war dabei, wenn geboren und gestorben wurde; er hörte Stimmen von Menschen, die in Not waren und um Hilfe riefen, hörte Gebete und Freudenschreie, und da waren auch wieder die Stimmen der Tiere, deren Sprache er einmal gesprochen, aber vergessen hatte.

Aber dann kam die Stunde, in welcher der Zauber erlosch. Er suchte mit all den Stimmen, die er da hörte, das Gespräch. Aber seine Stimme wurde nicht gehört. Er fühlte sich ausgeschlossen, wenn andere auszogen, das Glück zu finden, er war zum Zuhören und Nichtstun verdammt. Er durchschaute die Mutter und war sich böse, dass er ihr geglaubt hatte. Das Radiohören war wie Marias Essen, das sie gekocht und ihm serviert hatte: Er brauchte es nur in den Mund zu bringen. Es war wie das Bett, das Maria ihm zurechtmachte: Er brauchte sich nur hineinlegen.

»Wohin willst du?«, erkundigte sich Maria besorgt, als Bernhard im Trainingsanzug, den Campingbeutel geschultert, aus der Wohnung wollte. »Heute Abend bringen sie die Fortsetzung von diesem Hörspiel, in dem der Eisenbahner umgebracht worden ist. Mein Gott, bin ich neugierig, ob sein Freund der Täter ist. Was meinst du? Es kommen natürlich noch andere infrage, seine Frau zum Beispiel und dieser Heimkehrer, der da herumlungert.«

»Ich muss zum Training.«

»Wohin musst du?« Maria hielt Bernhard am Jackenärmel fest. Ihre Stimme hatte einen warnenden und zur Klage neigenden Tonfall. »Ich denke, damit ist endgültig Schluss. Habe ich nicht genug Kummer mit meinen Kindern? Rita arbeitet Tag und Nacht. Werner steckt in Uniform irgendwo an der Grenze in Thüringen. Charly treibt sich was weiß ich wo herum. Und Jinni, die Kleine, hat Fieber. Gestern Abend fast vierzig Grad. Du bleibst im Haus, Bernd!«

»Ich gehe. Ich muss gehen.«

»Du musst gar nichts«, erklärte Maria beruhigend. »Diese Sportsleute haben dich längst vergessen. Die Ärztin sagt, ich soll mich nicht aufregen. Das scheint dich nicht zu stören.«

»Aber ich will dich nicht aufregen! Du regst dich selber auf! Ich muss gehen! Das musst du einsehen: Ich kann nicht bleiben!«

»Sieh mal an. Sieh mal einer an.« Maria atmete schwer. »Du kannst nicht. Du musst. Sieh mal an. Und was wird mit dem Radio? Du hast es nicht bezahlen müssen. Das teure Gerät. Vier Abende hat es den feinen Herrn vergnügt. Vier Abende! Und nun muss er weg! Soll das Gerät nun nur herumstehen? Du gibst das Radio zurück! Du verdienst es nicht, dass ich dir ein so teures Gerät schenke!«

Die Mutter fasste ihn an den Handgelenken. Er riss sich los und ging. An der Wohnungstür blieb er stehen und sagte, ohne sich umzusehen: »Aber das Radio gehört mir. Du hast es mir geschenkt.«

»Du verdienst es nicht!« Die Stimme der Mutter überschlug sich. Er hörte deutlich ihre herrische Angst heraus. »Du gibst mir sofort das Radio zurück!«

Er sprang die Treppe hinunter, dann aber wieder hinauf und schrie ins Dunkel des Flurs: »Nein! Das Radio bekommst du nicht. Es gehört mir! Mir!«

Bernhard lauschte, er biss sich auf die Lippen, ballte die Hände, hustete, fragte schließlich: »Bist du – bist du noch da? Ist – ist was mit dir, Mutter …?«

Nun war ihr unterdrücktes schnelles Atmen zu hören, eine ungeduldige Bewegung ihrer Füße auf ihn zu, gleich darauf ihre verlangende Stimme: »Hast du es dir überlegt, mein Junge? Bleibst du …?«

»Nein!«

Er warf die Tür hinter sich zu und rannte davon. Spät in der Nacht kam er nach Hause. Nach dem Training war er in eine Kellerkneipe eingekehrt, hatte mit drei Kohlenträgern Siebzehn und vier gespielt und mit ihnen über ihre derben Witze gelacht. Wie immer stand die Tür von Marias Schlafzimmer spaltbreit offen. Er hörte, dass die Mutter sich im Bett aufsetzte und dass das kleine Radio Musik spielte. Er ging in sein Zimmer, warf sich aufs Bett und dachte an Afrika, dieses wilde heiße Land, das auf ihn wartete wie eine Geliebte. Unter einer heißen Sonne träumte er sich in den Schlaf.

Begegnung mit Hamlet (Verbotene Türen, 1985)

Eines Abends, als Bernhard vergebens versucht hatte, sich in den Straßen müde zu laufen, stand er vor dem Städtischen Theater am Rand der Innenstadt. Es war diese unnachgiebige Hand, von der er nachts manchmal geweckt wurde, die ihn hierhergeführt hatte. Da rief ihn eine Stimme aus dem weitläufigen Haus, an dessen Außenmauern Baugerüste aufgestellt waren. Sie verhieß ihm ein unbekanntes Abenteuer, und er folgte ihr ohne zu zögern. Es war ein dünnes, wippendes Seil, auf dem er in das Theater gehen musste, Schritt für Schritt, balancierend, die Arme etwas gehoben, als könnten ihm in der Not Flügel wachsen.

Er kam aus der einen und ging in eine andere Welt. Alle Fremdheit verschwand wie ein Schatten, er gewann an Sicherheit, wusste, es war gewollt, dass er nun hier im Halbdunkel die Stuhlreihen entlanglief. Er setzte sich in eine hintere Stuhlreihe an den Rand und sah begierig hinauf zur Bühne.

Zurückversetzt in ferne Zeit, in ein dänisches Schloss am Meer, fand er sich in ein grausames und verwirrendes Spiel verwickelt. Von Anbeginn fühlte er sich diesem Prinzen zugeneigt, Hamlet, von dem er bereits gehört hatte, aber nichts wusste. Bernhard litt mit dem jungen Mann, der an sich zweifelte, alles infrage stellte, sich ruhelos befragte und bis zum Grund aufwühlte. Dieser Hamlet konnte sich selbst und den anderen, die ihm nahestanden, keinen Frieden geben, weil sie ihm keinen Frieden gaben. Bernhard wuchs förmlich in den Verzweifelten hinein, er atmete, dachte und sprach mit ihm aus, was da war und nicht war. So vieles verstand er nicht, aber er wusste, es war wahr. Er war sich sicher, was kommen würde und fürchtete sich nicht - sie starben gemeinsam an dem Gift, das im Schloss wie ein Gespenst umging und dem keiner entgehen konnte. Nach all dem erfahrenen Leid und den durchlittenen Ängsten empfand der Junge den Tod wie eine Erlösung.

Bernhard brauchte Zeit, bis er aus dem Spiel auf der Bühne herausfand. Der Vorhang war geschlossen, der Saal hatte sich geleert. Verwirrt sprang er auf und tastete sich im Dunkel aus dem Zuschauerraum.

Im Haus war es still. Er geriet in ein Labyrinth von schmalen Gängen, hörte verstecktes Lachen, Seufzen und Klagen, tastete an Abgründen vorbei, geriet ins Scheinwerferlicht, roch Veilchenduft und beißenden Schweiß, sah unter Engelsflügeln verzerrte Teufelsmasken, an Fäden schwangen wie im Tanz prächtige Kleider. Ein kalter Wind ging ihm unter die Haut, er rannte ein Stück, ihm wurde nicht wärmer. Hier und da stieß er an, spürte keinen Schmerz, er hatte nur den Wunsch anzukommen.

 

Er suchte nach der Hand, die ihn hergeführt, lauschte nach der Stimme, die ihn gerufen hatte. Niemand berührte ihn. Niemand rief nach ihm. Er versuchte, sich des Vaters und der Mutter zu erinnern. Zwischen all den Dingen sah er einen Schlosserkittel und eine weiße Schürze aufeinander zu schwingen und sich voneinander entfernen im ermüdenden Rhythmus des Perpendikels eines Regulators. Und da schwang auch er, ohne Gesicht und Körper, nur eine abgetragene dunkle Jacke. Wie blind tastete er sich weiter, er würde nie aufhören zu suchen.

Eine Tür stand offen. Er sah einen Mann vor einem großen Spiegel sitzen – es war Hamlet. Er sah in den Spiegel, sein und Hamlets Gesicht, das Gesicht eines Mannes mit kühn blickenden Augen und schmalem Mund, wortlos allen Schmerz verspottend.

Hamlet rührte sich nicht, er saß da wie durch seinen eigenen Anblick erstarrt.

Bernhard wollte es ihm zurufen, das erlösende Wort, das ihm im Traum erschien, an das er sich aber erwacht nicht erinnern konnte.

Im Spiegel sah er, dass Hamlet nun entschlossen beide Hände hob und sich die wie pures Gold glänzenden Haare vom Kopf zog – und es kamen andere Haare ans Licht, schütter, farb- und glanzlos, an den Schläfen grau. Die Hände griffen sich vom Tischchen ein Tuch und rieben derb damit übers Gesicht, und es war, als zöge es die Haut ab, von der Stirn zur Brust hinunter. Die Stirn hatte in ihrer Mitte eine narbenähnliche Kerbe, die den Eindruck erweckte, als sei sie gespalten. Aus den Augen verlor sich alles Aufbegehren in Müdigkeit. Die edle Nase drückte sich zwischen krankhaft geröteten Wangen in die Breite. Und der Mund – der zu sagen gewagt hatte, wovon sonst niemand sprach – dieser Mund hatte blasse Lippen, die einander schlaff berührten.

Bernhard schwankte, wie ein gepeitschter Kreisel schien er sich um sich selbst zu drehen, er wünschte sich, dass das aufhörte, dass er stürzte und dunkel würde. Aber er blieb auf den Beinen und sah in ein Krämergesicht, das ihm, seit er sich erinnern konnte, so oder so täglich begegnet war und fortan begegnen würde. Dem Mann waren die Augen zugefallen, er war wohl eingeschlafen.

Bernhard schlich sich aus der Garderobe. Er fand schnell den Ausgang des Theaters. Es war eine sternenklare kalte Nacht, er knöpfte sich die Jacke bis oben hin zu und stelle den Kragen hoch. Die Straße war breit und leer, er lief mitten auf ihr, und er war sich gewiss, dass er von nun an auf diesem dünnen Seil, auf dem er ins Haus gelangt war, balancieren müsste.