Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Gottfried Zurbrügg

ARABIDOPSIS –

EIN LEBEN IST NICHT GENUG

ROMAN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Alles hat seine Zeit

(aus der „Prediger“ – die Bibel)

Personen:

Prof. Dr. Dr. Edwin Scherrer, Genetiker und Ägyptologe, emeritierter Professor der Gentechnik an der Morgenstelle in Tübingen, jetzt Leiter des Botanischen Gartens in Karlsruhe

Frau Dr. Dagmar Scherrer, seine Frau

Anne Neidhardt, Doktorandin

Anneliese Ehlert, Sekretärin im alten Botanischen Institut Karlsruhe

Dr. Meyer, Mitarbeiter im Institut

Nubi, Geschäftsmann in Kairo, Jugendfreund von Prof. Scherrer

Ahmed, sein Sohn

Irmgard, Hausmädchen bei Scherrers

Sybille Walter, Journalistin der „Welt der Wissenschaft“

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat / Personen

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Glossar

VORWORT

Arabidopsis, das klingt wie ein Zauberwort, aber es ist nur der lateinische Name einer kleinen Pflanze, die überall wächst. Ackerschmalwand ist ihr deutscher Name. Die Pflanze sieht einem Hungerblümchen oder einem Hirtentäschelkraut ähnlich, aber sie hat längliche Schoten. Ein Unkraut, das man ausreißt und fortwirft. Trotzdem hat diese unscheinbare Pflanze unser ganzes Leben verändert. Unglaublich, aber wahr!

Die Wissenschaftler fanden heraus, dass diese Pflanze ein einfaches Genom hat, und haben schon lange alle Gene entschlüsselt. Sie ist ein Modell für pflanzliches Leben geworden. In allen genetischen Laboren stehen Arabidopsispflanzen. Sie gehören dazu wie die Mäuse, die seit Langem Grundlage für die Forschung sind.

Vor vielen Jahren war ich in der Lehrerfortbildung tätig. Ich habe Biologie und Chemie für das Lehramt studiert und mich stets für Neuerungen in der Forschung interessiert.

So kam ich vor dreißig Jahren auch nach Tübingen in das Botanische Institut und durfte als Gast an den Forschungen teilnehmen. Ich war Gast und nicht Wissenschaftler, deshalb habe ich die Forschungen auch ganz anders erlebt. Mich begeisterten die Tafeln vor den Laboren, auf denen die Forschungsergebnisse veröffentlicht wurden, um eine enge Zusammenarbeit im Institut zu ermöglichen. Die blauen Lampen auf den Fluren waren für mich geheimnisvoll und schön. Für die Forscher waren es Lampen mit einer optimierten Strahlung.

Die Gentechnik war damals neu und umstritten. Mit Misstrauen und Angst begegnete man der neuen Technik. Ging der Mensch nicht zu weit, wenn er in die Keimbahn eingriff und Lebewesen veränderte?

Die Forschungsrichtungen waren vorgegeben: Man wollte neue Lebensmittel schaffen, vielleicht auch tatsächlich den Hunger in der Welt besiegen, aber auch uralte Fragen der Menschheit beantworten. Was ist das Leben und was ist der Tod? Kann es ewiges Leben oder besser ewige Jugend geben?

Die Faszination der Forschung ist auch nach dreißig Jahren für mich nicht geringer geworden. Mit großem Interesse lese ich Forschungsberichte und informiere mich in Fachzeitschriften über den neuesten Stand.

Damals entwarf ich einen Roman und schrieb die Geschichte von Professor Scherrer, dem Genetiker und Ägyptologen.

Inzwischen habe ich viel erleben dürfen, aber mehr denn je fasziniert mich die Frage nach dem Leben. Was ist Leben?

Damals begeistere mich eine junge Biologin, die ihr Leben der Forschung verschrieben hatte, heute fühle ich mich dem alternden Professor verwandt, der in all den Jahren seinen Lebenshunger nicht verloren hat.

Der Roman wurde in den Jahren immer wieder überarbeitet. Ort und Titel wurden verändert, aber die Geschichte blieb: Menschen auf der Suche nach Unsterblichkeit.

In Ägypten wurden in der Antike die damaligen Weltwunder geschaffen, um dem Pharao Unsterblichkeit zu sichern.

Heute werden in der Forschung Milliarden eingesetzt, um dem gleichen Ziel näher zu kommen.

 

Aber kann man das? Geht nicht das Leben einen ganz anderen Weg? Die uralten Fragen sind geblieben und aktuell wie eh und je.

Aber lesen Sie selber!

Zell a. H., Jan. 2016

1. KAPITEL

Professor Scherrer bewohnte seit seiner Emeritierung von der Universität Tübingen mit seiner Frau eine schöne Villa am Turmberg in Durlach.

Vielleicht hatte er genug von den vielen Pflanzen, die in den Gewächshäusern wuchsen, oder genug von der Grundlagenforschung und den langen Verhandlungen mit den möglichen Sponsoren, wenn es um Fördermittel ging. Die Genetik war ein Teil seines Lebens gewesen, aber eben nur ein Teil. Die Ägyptologie hatte ihn ebenfalls seit jeher gefesselt, und es war mehr als ein Hobby geworden. Im Garten seiner Villa standen einige wunderschöne Nachbildungen berühmter ägyptischer Statuen, und die Nachbarn waren sich nicht sicher, ob es tatsächlich nur Nachbildungen waren. Professor Scherrer behandelte die Figuren mit besonderer Fürsorge, als wären sie seine Kinder, denn er und seine Frau hatten selber keine Kinder. Sein erklärter Liebling war die etwa eineinhalb Meter hohe Nachbildung einer berühmten Katzengöttinenstatue aus Kom Ombo. Sie stand neben dem Hauseingang und Scherrer verließ nie das Haus, ohne der Katze über den Kopf zu streichen, so wie man ein geliebtes Haustier streichelt. Er genoss die Berührung mit dem kühlen, glatten Stein.

Deshalb war er auch leicht irritiert, als er eines Morgens sein Haus verließ. Es war noch kühl und Wolken hingen am Turmberg. Aber der sonst stets kühle Stein fühlte sich warm an. Scherrer wandte sich um und schaute die Statue erstaunt an. Die Katzengöttin stand da wie immer. Die Augen waren lebensecht gearbeitet und ihr Blick sah in die Weite. Trotzdem hatte Scherrer an jenem Morgen das Gefühl, es würde ihm jemand nachschauen.

Er war jetzt sechzig Jahre alt und eigentlich wollte er sich seinen privaten Studien widmen, aber man hatte ihn gebeten, noch nicht ganz in den Ruhestand zu gehen, sondern sich der Neugestaltung des Botanischen Gartens der Universität Karlsruhe anzunehmen. Zögernd nahm Scherrer die neue Berufung an, besonders da ihm das alte Gebäude des Botanischen Institutes in der Kaiserstraße zugesagt wurde. „Sie werden volle Unterstützung bekommen, wenn Sie Ihre Forschungen im Bereich der Genetik privat fortsetzen wollen“, hieß es, und das war die Zugabe, die Scherrer nach Karlsruhe gehen ließ.

Scherrer hasste den Stadtverkehr, dessen Lärm bis zum Turmberg heraufbrandete. Zu seinem Institut war es nicht weit, deshalb nahm er stets die Straßenbahn Linie S5, die ihn zusammen mit Studenten und Angestellten bis zum Institut brachte. Auch die Enge in der Straßenbahn mochte er nicht, aber man kannte ihn und hielt ihm einen Sitzplatz an der Tür frei, damit er sie nicht ganz so sehr spüren musste. Scherrer genoss diese Sonderstellung, die er als Professor beanspruchen durfte. Er mochte es nicht, dass ständig irgendein Handy klingelte und sich die Leute mit anderen, die fernab waren, über private Dinge unterhielten. Deshalb merkte er nicht sofort, dass es sein Handy war, das sich an diesem Morgen aufdringlich meldete.

Anne Neidhardt, seine Assistentin, eine junge Frau mit braunem, dichtem Wuschelkopf, wohnte ebenfalls in Durlach, wo sie eine kleine, aber sehr feine Altbauwohnung bekommen hatte, und fuhr mit der gleichen Straßenbahn in das Institut. Sie stand in seiner Nähe und beugte sich zu Scherrer hinunter. „Herr Professor, Ihr Handy“, sagte sie leise.

Scherrer suchte in seinen Manteltaschen nach dem klingelnden Gerät. „Danke, Frau Neidhardt“, sagte er und lächelte. „Der Umgang damit ist noch etwas ungewohnt.“

Sybille Walter, Journalistin bei der bekannten Welt der Wissenschaften, amüsierte sich über die Szene, denn irgendwie passte das Handy nicht ganz zu dem älteren Herrn.

„Ja, bitte!“ Scherrer hielt das Handy ans Ohr, aber niemand meldete sich. Stattdessen erschienen auf dem Display Bilder einer Pflanze. Scherrer wollte das Handy schon wieder einstecken, als sein Blick auf das Display fiel. Der Bildschirm flackerte und meldete eine ganze Reihe von E-Mails als Schriftzüge auf dem Hintergrund der Arabidopsispflanze. Es war eine lange Liste von neuen Eigenschaften, die man dieser kleinen, unscheinbaren Pflanze gegeben hatte. Arabidopsis konnte nun Kunststoff herstellen, Minen anzeigen, neue Wirkstoffe produzieren und langwierige Tests verkürzen. Scherrer sah die Nachrichten gelangweilt durch. So viele Universitäten arbeiten mit der gleichen Pflanze, dachte er. Die Ackerschmalwand, Arabidopsis thaliana, war wohl auch die geeignete Pflanze dafür. Das enorm kleine Genom machte sie so wunderbar manipulierbar.

Plötzlich erschien eine Nachricht auf dem Display und unterbrach die Arbeit. Scherrer klickte sie weg, aber sofort war die Nachricht wieder da. Ärgerlich versuchte er das Handy auszuschalten. Anne Neidhardt und Sybille Walter verfolgten gespannt, wie Scherrer sich bemühte. Aber das Handy war nicht auszuschalten.

„Was ist die wichtigste Frage in Ihrem Leben?“

Eine Sekte?, dachte Scherrer amüsiert. Ausgerechnet bei mir? Vergeblich bemühte er sich, die Schrift zu löschen. „Drücken Sie auf Okay“, mahnte das Display. Weil alles andere vergeblich war, gab Scherrer nach. Sofort verschwand die Nachricht und Bilder erschienen. Ein Computerspiel?, fragte sich Scherrer interessiert. Aber die Bilder, die dort liefen, waren seine Bilder. Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen tauchten auf. Er und Nubi, sein ägyptischer Freund, gemeinsam in der Wüste, im Sandsturm, ein Sarkophag auf einem Jeep, eine wilde Verfolgungsjagd. Beduinen auf weißen Pferden jagten dem Auto nach, das in Höchstgeschwindigkeit durch die Wüste fuhr. Schüsse fielen. Zum Glück trafen sie nicht. Dann hüllte eine Staubwolke Verfolger und Verfolgte ein. Scherrer erinnerte sich. Das war die wildeste Jagd, die er je erlebt hatte. Und trotzdem hatten sie es geschafft, den Sarkophag aus der Wüste nach Tübingen zu bringen.

Das Gesicht der Göttin Hathor füllte den Bildschirm aus. Sie schien ihn anzusehen und ihm zuzuzwinkern. Dann verschwand Hathors Bildnis und der Eingang zu einem Grab erschien. Die Kamera lief den langen Gang hinunter, zeigte das Innere der leeren Grabkammer und leuchtete die Kammer aus. An den Wänden erkannte Scherrer Szenen aus dem ägyptischen Totenbuch. Die Seele des Pharao stand vor ihrem Richter. Auf der Waage lag das zitternde Herz des Menschen. Im Hintergrund wartete ein gieriges Krokodil auf das Urteil. „Möge dein Herz nicht schwerer sein als eine Feder“, murmelte Scherrer und sah gebannt weiter auf das Display.

Die Kamera wandte sich einer Scheintür zu und blieb stehen. Ganz groß zeigte sie das Bild der geheimnisvollen Tür, die in jedem ägyptischen Grab aufgemalt war. Aber alle bisherigen Forschungen hatten gezeigt, dass sich nichts dahinter befand. Es war nie eine reale Tür und doch war sie so realistisch gemalt und wohl auch gemeint. „Möchten Sie weiter, dann klicken Sie Okay“, meldete das Display.

Scherrer sah wie gebannt auf die Scheintür. Alle Fragen, die ihn unterschwellig beschäftigt hatten, waren plötzlich wieder da. Gab es einen anderen Weg als den Schritt durch diese geheimnisvolle Tür? Mit Bohrwerkzeugen konnte man der Lösung des Problems nicht näher kommen, das wusste Scherrer recht gut. Aber vielleicht kam man auf anderem Wege der Lösung näher. Deshalb hatte er damals den Sarkophag von den Beduinen gekauft und die wilde Verfolgungsjagd riskiert. Deshalb war er all die Jahre immer wieder in Ägypten gewesen und hatte Kunstgegenstände mitgenommen. Seine Sammlung war berühmt geworden, aber sie hatte auch keine Antwort gebracht. Seine brennende Frage: „Gibt es keine Möglichkeit, dem Tode zu entrinnen?“, hatte ihn nie losgelassen.

Nun sah er die Tür wieder vor sich und die Lösung schien so nahe. Wie magisch zog ihn das kleine Feld auf dem Bildschirm an. Er holte die Pfeilspitze auf das „Okay“ und drückte. Sofort verschwand alles vom Bildschirm und eine tiefschwarze Fläche sah ihn an.

„Herr Professor, wir müssen hier aussteigen“, sagte Anne Neidhardt und schüttelte ihren braunen Wuschelkopf.

Scherrer sah irritiert auf. Über dem Display hatte er die rumpelnde Straßenbahn und die Fahrgäste völlig vergessen. „Natürlich“, sagte er. „Natürlich! Vielen Dank, Frau Neidhardt.“

Er ging mit den anderen Fahrgästen zur Tür und stieg aus. Dabei wirkte er etwas benommen und Anne fragte sich, ob sie ihm noch einmal Hilfe anbieten sollte. Aber dann wollte sie nicht aufdringlich sein und reihte sich in den Strom der Studenten ein, die zur Universität gingen.

Sybille sah dem Herrn Professor aus dem Fenster der Straßenbahn nach. Immer noch ein faszinierender Mann, dachte sie. Ich möchte wissen, warum er hier in Karlsruhe ist, der ist doch einer von den ganz Großen.

Scherrer ging zu seinem Institut. Bis auf die seltsame Unterbrechung in der Straßenbahn begann der Tag wie gewohnt. Scherrer hatte es eilig, in sein Büro zu kommen. Hatte sich jemand in seinen Computer eingeloggt und war deshalb die Liste der E-Mails auf dem Handy erschienen? Scherrer war erleichtert, als er die grünen Türen zu seinem Institut aufschloss und alles wie gewohnt vorfand. Anneliese, seine Sekretärin, saß noch nicht an ihrem Platz, aber auch das war ihm heute Morgen recht, denn so konnte er gleich seinen Computer anschalten. Auf dem Computer erschien aber kein Bild. Die gleiche schwarze Fläche sah ihn an, die ihn auch schon in der Straßenbahn auf dem Display seines Handys so erschreckt hatte.

„Nichts?“, fragte sich Scherrer irritiert. „Oder kann ich nur nicht sehen, weil meine Augen an das Licht gewöhnt sind?“

„So ist es“, sagte eine Stimme hinter ihm.

Erschreckt drehte sich Scherrer um: „Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Was tun Sie hier?“

„So viele Fragen auf einmal und doch nur eine einzige Frage“, sagte der Mann im weißen Kittel, der in seinem Büro stand. „Ich bin Ihr neuer Mitarbeiter!“

„Was tun Sie in meinem Büro?“

„Ich möchte mich vorstellen.“

„Aber ich habe niemanden angefordert. Sie wissen sicher auch, dass die Mittel sehr begrenzt sind.“

„Es war Zeit, zu kommen, deshalb konnte ich mich nicht anmelden, was mir sehr leidtut. Mein Name ist Meyer. Ein ganz gewöhnlicher Name und doch mit einer Besonderheit, „ey“. Etwas Besonderes muss unsere Bekanntschaft schon haben.“

„Was wollen Sie? Haben Sie nicht das Schild an der Tür gelesen?“

„Doch, Professor Dr. Dr. Scherrer. Das heißt: Dr. rer nat und Dr. phil mit dem Spezialgebiet Ägyptologie. Sprechstunde nur nach Voranmeldung.“

„Woher wissen Sie das?“, fragte Scherrer.

„Was?“

„Den Doktor der Ägyptologie.“

„Ihre Arbeiten über das Totenbuch der Ägypter sind bemerkenswert.“

„Aber sie sind in der Bibliothek und nicht allgemein zugänglich.“

„Es gibt Wege, sich zu informieren“, lachte Meyer. „Jetzt enttäuschen Sie mich, Herr Professor.“

Scherrer sah seinen Gesprächspartner ungehalten an. Das Gespräch lief nicht nach seinen Wünschen. „Was wollen Sie?“

„Ich bin Ihr neuer Mitarbeiter. Die Forschungen …“

„Was wissen Sie von unseren Forschungen? Wir hatten strengste Geheimhaltungsstufen in Tübingen“, unterbrach ihn Scherrer heftig.

Meyer sah ihn mit schwarzen, unergründlichen Augen an. „Ihre veröffentlichten Arbeiten habe ich gelesen, und ich sagte schon, dass es verschiedene Wege gibt, Informationen einzuholen. Es ist Zeit, dass ich mit Ihnen persönlich zusammenarbeite.“

„Sind Sie schon länger in der Gentechnik tätig?“, fragte Scherrer. „Nehmen Sie doch Platz!“

Meyer setzte sich in den Sessel vor dem Schreibtisch und sah Scherrer unverwandt an. Der durchdringende Blick seines neuen Mitarbeiters ließ ihn stiller werden. Ich kann mich gegen ihn nicht wehren. Ich brauche ihn, und weiß nicht warum, dachte Scherrer.

„Sie brauchen mich“, sagte Meyer und lächelte, „weil Sie ein Forschungsgebiet betreten, das neue Dimensionen erschließt.“

Was weiß er wirklich?, überlegte Scherrer.

Ein Kratzen im Hals rief einen Hustenanfall hervor, wie er ihn bisher noch nicht erlebt hatte. Keuchend versuchte er Luft zu bekommen. Krächzend rasselte der Atem. Todesangst befiel ihn. Das Büro begann sich zu drehen. Krampfhaft hielt sich Scherrer an seinem Schreibtisch fest. Meyer saß ihm ruhig gegenüber und sah zu. „Helfen Sie mir“, keuchte Scherrer, als er wieder ein wenig Luft bekam. „Dort, dort!“ Er zeigte auf die kleine Sprayflasche, die unerreichbar für ihn auf dem Schreibtisch stand. Gelassen stand Meyer auf, nahm das Spray, kam zu ihm, nahm seinen Kopf, beugte ihn nach hinten, öffnete mit geschicktem Griff den verkrampften Mund und sprühte die Flüssigkeit hinein. Sofort ließ der Husten nach. Scherrer holte tief Luft und atmete freier. Die Nebel verzogen sich. Er sah nach Meyer. „Danke, dass Sie mir geholfen haben. Sie kennen sich aber aus! Sind Sie auch Arzt?“

 

„Könnte man fast meinen“, bestätigte Meyer. „Ich habe neben dem genetischen Fach auch medizinische Seminare besucht. Wer sich mit dem Tod beschäftigt, muss viele Kenntnisse haben.“

„Sie beschäftigen sich mit dem Tod?“, fragte Scherrer.

„So wie Sie“, sagte Meyer. „Seit ich ihm begegnet bin, kommt er mir nicht mehr aus dem Sinn. Ich fühle mich ihm nahe und ich glaube, dass wir mit der modernen Forschung die Möglichkeit haben, ihn zu entschlüsseln.“

„Glauben Sie?“, fragte Scherrer. „Glauben Sie wirklich?“

„Professor Scherrer“, sagte Meyer. „Erinnern Sie sich an Ihren Aufenthalt in Ägypten?“

Plötzlich war Scherrer wieder dort. Ein Sandsturm tobte mitten in der Wüste. Der Staub legte sich auf alles. Eine feine, gelbe Schicht überzog die Windschutzscheibe des Jeeps. Vergeblich versuchten die Scheibenwischer gegen den Staub anzukommen. Nubi, sein Freund und Geschäftsmann aus Luxor, kannte die Wüste wie kein Zweiter, aber in diesem Sturm war jede Orientierung unmöglich. Feiner gelber Staub legte sich auch auf den Sarkophag, der auf der Ladefläche des Kleinlasters stand, als wolle die Wüste ihr Eigentum zurückholen. Scherrer öffnete das Seitenfenster, um mit der Hand die Windschutzscheibe zu reinigen. Sofort breitete sich der Staub auch im Innenraum des Autos aus. Entsetzt drehte er die Scheibe hoch.

„Wir müssen anhalten, Scherrer“, sagte Nubi. „Wir haben keine Chance mehr weiterzukommen. Gebe Allah, dass der Sandsturm sich bald legt.“

„Was ist, wenn sie uns einholen?“, fragte Scherrer.

Nubi drehte sich um, wickelte den Turban langsam vom Kopf und sah den jungen Wissenschaftler lächelnd an. „In dem Falle gnade uns Gott. Du kennst die Beduinen nicht.“

Scherrer versuchte aus dem Fenster zu sehen, aber der feine Staub machte jede Sicht unmöglich. „Warum haben sie uns den Sarkophag verkauft, wenn sie uns nun verfolgen, um ihn uns wieder abzunehmen?“, fragte er.

Nubi nahm die Hände vom Lenkrad und bückte sich nach vorne, um eine Flasche Wasser aus dem Handschuhfach zu nehmen. Er hielt sie Scherrer hin. „Trink, mein Freund! Deine Lungen sind den Staub nicht gewöhnt. Er könnte dir schaden.“

Scherrer nahm die Flasche, öffnete sie und hielt sie hoch wie ein Weinglas. „Auf unsere Freundschaft. Möge sie ein Leben lang so ungetrübt wie dieses Wasser sein.“

Nubi lachte. „Du wählst einen guten Trinkspruch. Klares Wasser ist die größte Kostbarkeit in der Wüste. Unsere Freundschaft ist auch für mich eine Kostbarkeit, sonst hätte ich mich auf dieses Abenteuer nicht eingelassen.“

Scherrer genoss das klare Wasser und reichte seinem Freund die Flasche zurück. „Der Sturm wird unsere Spuren auch für den besten Fährtensucher verwischen.“

„Auch die Straße“, ergänzte Nubi. „Uns bleiben nur die Sterne, wenn der Sturm bis zur Nacht abflaut. Der Sirius wird dann unser Leitstern sein. Wenn wir Luxor erreichen, sind wir in Sicherheit. Der weitere Transport ist dann kein Problem.“

„Warum verfolgen uns die Beduinen?“, wiederholte Scherrer seine Frage. „Haben sie nicht ein gutes Geschäft gemacht?“

„Du kennst die Beduinen nicht“, sagte Nubi. „Sie sind Kinder der Wüste, aber auch Nachfahren der Pharaonen. Jedenfalls empfinden sie sich so. Wenn sie Geld sehen, verfallen sie ihm wie wir alle, aber wenn sie wieder allein mit der Wüste sind, dann hören sie tausendfach Vorwürfe. Der Sand, die Ruinen, die Zelte wispern: ‚Was habt ihr getan? Sie sind eure Feinde! Sie haben euch betrogen! Der Geist des Pharao wird euch verfolgen!‘ Dann erwachen wieder die Gefühle für das Land, für die Tradition. Dann wird der Fremde zum Grabräuber, den man verfolgt und tötet.“

„Sind sie nicht selber seit Jahrtausenden Grabräuber? Es gibt kaum eine Grabstätte, die nicht ausgeraubt wurde!“, regte sich Scherrer auf. „Diesen Widerspruch verstehe ich nicht!“

„Sie holen das Gold aus dem Wüstensand, weil es sie lockt, weil es ein einfaches Leben verspricht, mein Freund. Menschen sind so. Zwischen religiösen Ansprüchen und der Wirklichkeit liegen auch bei euch Welten, oder?“, sagte Nubi.

Scherrer nickte. „Das ist leider wahr. Aber der Sarkophag von Ammenemes VII wurde doch nie benutzt.“

„Nein, dieser Ammenemes ist unbekannt. Trotzdem glaube ich, dass der Sarkophag echt ist. Wenn ein Pharao den Thron bestieg, begannen die Arbeiter mit den Vorbereitungen für sein Grab. Unsterblichkeit zu erreichen, die ewige Vereinigung mit Isis als Osiris, das war das wichtigste Lebensziel für den Pharao. Nur, wenn er mit allen verfügbaren Mitteln daran arbeitete und arbeiten ließ, war es vielleicht möglich, die Unsterblichkeit zu erlangen.“

„Ewige Jugend und Unsterblichkeit“, sagte Scherrer, „der uralte Menschheitstraum.“

„Du verwechselst da etwas“, sagte Nubi. „Unsterblichkeit ist ein Platz bei den Göttern und bedeutet nicht ewige Jugend sondern eher ein Aussteigen aus dem ewigen Kreislauf von Geborenwerden und Sterben. Aber jetzt lass uns schlafen. Hörst du den Sturm? Wir können nichts tun, aber nachher brauchen wir die volle Konzentration. Also jetzt keine unnützen Diskussionen mehr!“

Nubi drehte den Sitz hinunter und schloss die Augen. Der treibende Sand schliff am Lack des Autos, der Wind heulte um die Karosserie ein eintöniges Lied. Scherrer gab der Müdigkeit nach.

Stunden später hörte das gleichmäßige Schleifen auf und plötzlich umgab sie atemlose Stille. Die Stille ließ sie erwachen.

„Wir müssen raus“, sagte Nubi. Er versuchte die Fahrertür zu öffnen. Der Wüstensand hatte eine hohe Barriere angehäuft. Nubi bekam die Tür gerade weit genug auf, um sich hinauszwängen zu können. Scherrer folgte ihm. Der Staub hatte sich gelegt, kein Windhauch wehte mehr. Rund um sie herum lag dicht der gelbe Sand. Der Jeep war weitgehend zugeweht, aber auch ihre Spuren. Von der Straße war nichts mehr zu sehen.

„Es wird Nacht“, sagte Scherrer. „Wie du es vorausgesehen hast. Die Sterne gehen auf.“

Nubi zeigte auf den hellsten Stern am Himmel. „Sieh dort den Sirius! Er wird uns sicher nach Hause leiten. Graben wir den Wagen aus!“

Gemeinsam schaufelten die Männer den gelben Sand zur Seite. Nubi startete den Wagen und war erleichtert, als er problemlos ansprang. Scherrer band die Sandleitern vom Dach, legte sie vor die Räder und der Jeep rollte über sie auf festeren Boden.

„Fahren wir los“, sagte Nubi. „Man wartet auf uns.“

Scherrer schaute aus dem Fenster und versuchte die Straße auszumachen. „Wonach orientierst du dich?“, fragte er den Freund.

„Nach dem Gefühl. In der Wüste musst du ein Gespür für den richtigen Weg haben. Das Ruckeln des Wagens, das Geräusch der Reifen, all das sagt dir, ob du auf festem Boden bist.“

„Allein wäre ich verloren“, erkannte Scherrer.

„Du bist kein Kind der Wüste“, sagte Nubi. „Du bist ein Träumer. Auf der Jagd nach einem ganz großen Traum. Du sehnst dich nach Unsterblichkeit. Wie kommst du nur auf solche Gedanken?“

Scherrer sah in die Dunkelheit hinaus. Die Sterne leuchteten so klar wie nie über Tübingen. „Vielleicht möchte ich nicht Unsterblichkeit, sondern eher den Augenblick festhalten“, sagte er.

„Werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön?“, zitierte Nubi. „Faust?“, fragte er.

„Vielleicht auch Faust. Es ist die Sehnsucht nach dem Leben und nicht die Angst vor dem Tod. Du fährst auf den Sirius zu? Nennt man ihn nicht den ‚Schoß der Isis‘?“

„Genau dort ist der Platz der Götter“, sagte Nubi. „Du denkst auch daran? Vor ihr geht Osiris, das Sternbild des Orion. Er ist der Mann, hoch aufgerichtet das ‚Schwert des Orion‘.“

„Die Menschen früher dachten sehr konkret“, sagte Scherrer.

„Aus der Erfahrung, aus dem Überleben. In der Wüste kann niemand allein überleben. Nur die Gruppe, die Familie macht ein Leben möglich. Eine Aufgabe von Mann und Frau ist es, Kinder zu haben. Leben muss weitergegeben werden, gezeugt werden, nur so kann Leben weiterbestehen. Das ist das Geheimnis des Lebens und das Geheimnis der Götter.“

„Der Pharao strebte an, ein Osiris zu werden und mit Isis …“ Scherrer verstummte nachdenklich.

„Mit Isis Mann und Frau zu werden“, sagte Nubi. „Die Pyramiden sind auf dieses Sternbild ausgerichtet, um das möglich zu machen. Der ‚Schoß der Isis‘ ist das Ziel der Pyramiden. Isis ist auch unser Ziel. Die Frauen warten sicher schon ungeduldig auf uns.“

„Auf dich, Nubi“, sagte Scherrer.

„Die Tänzerin, die ich für den Abend eingeladen habe, wird auch dich erfreuen.“

„Du weißt, ich danke dir sehr, aber nicht hier“, sagte Scherrer ablehnend.

„Ihr lebt zu sehr im Kopf“, sagte Nubi. „Zum Leben gehört der ganze Körper. Ihr Europäer wollt ewige Jugend, aber ihr nehmt das Leben nicht wahr.“

„Als Wissenschaftler muss ich meinen Kopf anstrengen“, sagte Scherrer. „Nur damit wird die Welt gewonnen, nur mit strenger, wissenschaftlicher Arbeit können wir die Probleme unserer Zeit lösen.“

Nubi schaute auf die Sterne und lenkte den Wagen mit hoher Geschwindigkeit und Präzision durch die fahle Dünenlandschaft. „Habt ihr die Probleme lösen können? Warum wolltest du unbedingt einen Sarkophag kaufen? Denkst du nicht ganz anders, als du meinst?“

Scherrer lachte. „Vielleicht hast du recht. Ich bewundere, wie sicher du deinen Weg durch die Wüste findest. Mich faszinieren die Gedanken und das Wissen eurer Kultur.“

„Es ist nicht mehr unsere Kultur“, wehrte Nubi ab. „Wir verehren zwar die alten Ägypter, aber wir hatten sie vergessen. Es war Napoleon, der sie uns wieder schenkte und auch nahm. Wir lieben und hassen die Europäer dafür. Aber im Ernst, wofür wolltest du den Sarkophag? Nur für deine Sammlung?“

„Erwischt“, sagte Scherrer. „Er bedeutet mir mehr. Er ist Mahnung und Ansporn zugleich.“

„Woran arbeitest du eigentlich? Du sprachst von ganz neuen Erkenntnissen.“

„Zwei Wissenschaftler, Watson und Krick, haben das Geheimnis des Lebens in einem Nucleinsäuremolekül entdeckt.“

Nubi schwieg und gab Gas, um eine flache Düne hochzufahren. Jede geringste Abweichung von der Geraden würde den sicheren Tod bedeuten. Ruhig zog der Wagen hoch. Oben auf der Düne sah man am Horizont eine Kette schwacher Lichter. Nubi hielt den Wagen an.

„Schau, Scherrer, dort liegt Luxor. Wir sind bald zurück in der Welt. Die Wüste liegt hinter uns.“

Hell strahlten die Sterne im dunklen Blau des Wüstenhimmels.

„Du liebst die Wüste?“, fragte Scherrer.

„Die Beduinen sagen: Die Wüste liebt nur der, der sie nicht kennt. Wahrscheinlich haben sie recht“, antwortete Nubi.

„Du hast den Weg ins Leben zurückgefunden“, scherzte Scherrer.

Nubi sah seinen Freund nachdenklich an. „Wenn du den Sarkophag betrachtest, solltest du daran denken, dass Unsterblichkeit nicht ewige Jugend verspricht. Vergiss über deinen Forschungen nicht zu leben.“

„Versprochen“, sagte Scherrer und hielt seinem Freund die Hand hin.

„Sage bitte nichts in meinem Haus von dem Sarkophag. Ich weiß nicht, wie meine Leute darüber denken“, bat Nubi.

„Und du? Wie denkst du darüber?“, fragte Scherrer.

„Dieser Sarkophag wurde nie benutzt. Er wurde gemacht, um einem Menschen den Weg in die Unsterblichkeit zu ermöglichen. Vielleicht wirst du mit deiner Arbeit unsterblich, und ich habe meinen Teil daran.“