Arabidopsis – ein Leben ist nicht genug

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Nubi gab Gas und fuhr in rascher Fahrt auf Luxor zu. Scherrer lachte noch amüsiert, als sie das Tor in den Palmengarten erreichten, der das große Anwesen umgab. Die Palmen rauschten, als sie ausstiegen. Von der Wüste her wehte ein leichter Wind in die Oase. Scherrer sah fragend zum klaren Himmel hinauf.

„Es wird so bald keinen Sandsturm mehr geben“, sagte Nubi. „Komm, wir gehen hinein.“

Nach dem Essen saßen die Männer im Kreis zusammen und tranken süßen Pfefferminztee. Eine Tänzerin trat ein. Sie trug die üblichen weiten Hosen und einen Büstenhalter mit Münzen und Ketten. Hinter ihr kamen ein kleiner Mann mit Tamburin und zwei Flötenspieler herein. Sie setzten sich und der Mann begann einen betörenden Rhythmus zu schlagen. Ein Zittern ging durch den Körper der Frau. Rhythmisch begann sie mit dem Bauch zu schwingen. In wildem Takt klopften ihre Füße, ihre Hüften schwangen hin und her. Sie durcheilte den Kreis der Männer, zog einen Schleier hinter sich her, der die Gesichter streifte, war zum Haschen nah und doch unnahbar. Keiner der Männer regte auch nur eine Hand, um sie zu fangen. Hin und her sprang sie in wildem Tanz, blieb stehen, schüttelte die großen Brüste und schwang ihr Tuch über den Kopf. Plötzlich erlosch die Musik. Die Tänzerin ging von Mann zu Mann, schwang ihren Oberkörper zitternd hin und her, dass ihre Brüste bebten. Die Männer steckten ihr Geldscheine in den Büstenhalter. Auch vor Scherrer blieb sie stehen und musterte den jungen Europäer mit klugen Augen. Der nahm einen großen Geldschein und steckte ihn in den Büstenhalter. Die Frau zuckte zusammen, als seine Hände sie unabsichtlich berührten. Rasch schlang sie das Tuch um den Kopf, um sich zu verhüllen, aber ihre dunklen Augen blieben auf ihn gerichtet, Frage und Bitte zugleich. Ruhig ging sie weiter, durchschritt den Kreis und bedankte sich mit einer tiefen Verbeugung. Ihr letzter Blick mit einem Augenaufschlag galt ihm.

„Herr Professor“, unterbrach Meyer. Die Bilder aus längst vergangenen Tagen verschwanden und Scherrer sah sich dem seltsamen Gast wieder gegenüber. „Seit Ihrem ersten Besuch in Ägypten träumen Sie davon, den Tod zu entschlüsseln, Herr Professor. Der Papyrus über Ihrem Schreibtisch ist mir wohlbekannt.“

„Sie haben sich aber genau mit meiner Person beschäftigt“, stellte Scherrer gereizt fest.

„Man sollte den kennen, mit dem man zusammenarbeiten möchte“, antwortete Meyer.

„Aber jetzt lassen Sie mich bitte allein“, bat Scherrer. „Auf dem Schreibtisch liegen viele Dinge, die ich erledigen muss. Geben Sie Ihre Bewerbung bei meiner Sekretärin ab.“ Meyer erhob sich und ging. An der Tür rief ihn Scherrer zurück. „Dr. Meyer, eigentlich würde ich einen Gärtner brauchen, aber ich bin gespannt, wie sich unsere Zusammenarbeit entwickeln wird. Lassen Sie sich einen vorläufigen Ausweis ausstellen. Haben Sie noch Fragen?“

„Nein!“ Meyer verneigte sich und verschwand.

Ohne Zögern wandte sich Scherrer seiner Arbeit zu. Habe ich die Tür gehen hören?, fragte er sich schon wieder in die Arbeit vertieft. Er sah kurz auf. Sein Büro lag wie immer um diese Zeit im Schein der Mittagssonne, die alles heller und freundlicher werden ließ. Der seltsame Gast war verschwunden. Ich muss es überhört haben, dachte Scherrer, ich bin überarbeitet. Ich sehe Dinge und Personen, die es nicht gibt.

Dann rief er seine Sekretärin an. Er sagte nicht einmal Guten Morgen, sondern gleich: „Anneliese, können Sie versuchen, über einen Dr. Meyer etwas herauszubekommen? Er ist Gentechniker und wahrscheinlich ein bekannter Mann. An welcher Universität er gearbeitet hat, ist mir unbekannt, aber als Doktor muss er veröffentlicht haben. Er wird Ihnen seinen vollständigen Namen genannt haben.“

„Hier war niemand“, erklärte sie. „Dr. Meyer sagten Sie? Ohne Vornamen und das Geburtsdatum werden wir unter diesem Namen zu viele Einträge finden, um ihn sicher ausmachen zu können.“

Dr. Meyer wurde ohne weitere Probleme ein enger Mitarbeiter von Scherrer im Botanischen Institut.

Auch Sybille Walter hatte es eilig, an ihren Computer zu kommen. Sie klickte eine der bekannten Suchmaschinen an und gab den Namen Scherrer ein. Interessiert las sie über seine langjährige Tätigkeit in Tübingen am genetischen Institut, über seine großen Erfolge, die plötzliche Emeritierung und die Berufung nach Karlsruhe. „Um den Botanischen Garten will er sich kümmern?“, las sie erstaunt. Aber der doch nicht! Da steckt sicher mehr dahinter. Eine Frau? Wäre ihm zuzutrauen. Der lässt sicher immer noch nichts anbrennen. In Durlach wohnt er? Sybille Walter fand Gefallen daran, Professor Scherrer auf die Spur zu kommen. Mit dem Spürsinn der Journalistin ahnte sie eine interessante Geschichte. Ganz unwillkürlich nahm sie den Spiegel aus ihrer Handtasche, sah hinein, korrigierte das Make-up und die Lage ihrer blonden Haare. Ihr Spiegelbild lächelte sie an. „Ein Abenteuer?“, schien es zu fragen. „Rein dienstlich!“, gab sie zurück. Ihr Nachbar am Nebentisch grinste. „Rein dienstlich!“, wiederholte sie in seine Richtung.

2. KAPITEL

Die Arbeit im Institut war einfach. Meist ging es darum, Pläne für den Botanischen Garten zu entwerfen. Scherrer hatte immer neue Wünsche. Am liebsten wollte er die ganze Welt auf engstem Raum zeigen. Da er sehr viel und weit gereist war, kannte er die Vegetation vieler Länder und bestand auf möglichst originalgetreuen Nachbildungen der Landschaften. Außerdem verfolgte Scherrer weiterhin mit großem Interesse die Forschungen in der Morgenstelle Tübingen, als sei er immer noch der Chef des Genetischen Institutes.

In der Mittagszeit pflegte er durch den Fasanengarten zu spazieren und hatte es sehr gern, wenn sich Anne Neidhardt, seine Doktorandin, die Zeit nahm, mit ihm die alten Bäume zu bewundern.

Anne erledigte alle Arbeiten zu seiner Zufriedenheit, aber sie merkte, dass sie in ihren eigenen Forschungen nicht recht weiterkam. Sie sah, wie man sich in Tübingen bemühte, neue Pflanzensorten zu züchten, aber sie erkannte auch, dass alle Institute an den gleichen Pflanzen forschten. Immer kamen neue Tomaten – oder Maissorten auf den Markt, aber an die wichtigen Pflanzen zur Versorgung der Menschheit wie Baumwolle oder Weizen wagte sich kaum jemand heran. In welche Richtung wollte sie ihre eigenen Forschungen ausrichten?

„Warten Sie ab! Sobald wie möglich werde ich Ihnen ermöglichen zu reisen und Sie werden die Welt sehen. Dann werden Sie helfen, den Hunger in der Welt zu besiegen. Noch arbeiten wir an einem Botanischen Garten, aber so lernen Sie die Pflanzen kennen, die in aller Welt wachsen, und dann werden Sie auch Ihr spezielles Forschungsbiet finden. Ich bin sicher, Sie werden das schaffen“, tröstete Scherrer Anne Neidhardt auf den gemeinsamen Spaziergängen.

„Natürlich möchte ich das gern“, antwortete Anne, „aber ich bin an dieses Botanische Institut gefesselt, das zwar sehr interessant ist und mir doch nicht das ermöglicht, was ich eigentlich möchte.“

Auf ihren Spaziergängen begegneten sie oft einer jungen Frau, die mit einer Aktentasche unter dem Arm immer eilig zum Schloss lief. Sie trug auffallend hohe Absätze und einen kurzen Rock, der ihre langen Beine zur Geltung brachte. Die langen blonden Haare fielen über ihre schönen Schultern. Zuerst eilte sie nur vorbei und Professor Scherrer sah ihr nach. Aber als sie ihr öfter begegneten, spürte Anne Neidhardt, dass das wohl kein Zufall war. Sie sah auch, dass Professor Scherrer von dem Anblick der jungen Frau sehr angetan war. Was will sie wohl?, fragte sich Anne. Aber dann waren ihre Gedanken wieder ganz bei ihrer Arbeit.

Dr. Meyer bemerkte, wie sehr Anne hin- und hergerissen war, und half ihr auf seine sonderbare Art.

„Frau Neidhardt“, begrüßte er sie eines Morgens vor dem Institut. „Bevor Sie an Ihre Arbeit gehen, möchte ich Ihnen eine kleine Pflanze zeigen. Professor Scherrer weiß Bescheid. Wenn Sie möchten, dann kommen Sie mit zum Forschungszentrum für Umwelt. Es ist nicht weit. Wir müssen nur den Adenauer Ring hinuntergehen.“

„Ich weiß“, sagte Anne ungehalten. „Aber die Arbeit wartet. Gerade heute habe ich mir so viel vorgenommen.“

„Wir können leider nicht mehr warten“, sagte Meyer und sah sie eindringlich mit seinen schwarzen Augen an. „Die Pflanze stirbt ab, und dann kann ich Sie Ihnen nicht mehr zeigen.“

„Ich bringe eben meinen Rucksack hinein“, sagte Anne, nun doch interessiert, „dann komme ich mit Ihnen. Ich bin gespannt, was Sie für mich entdeckt haben.“

Sie mochte Dr. Meyer nicht, denn er schien ihr nicht ehrlich. Natürlich setzte er sich für den Botanischen Garten ein wie kein Zweiter und seine globalen Pflanzenkenntnisse waren wirklich ungewöhnlich. Besonders die Vegetation Nordafrikas beherrschte er wie niemand sonst. Das brachte ihm auch bei der Universitätsleitung manches Lob ein, aber er schien auch andere Ziele zu verfolgen, über die er nie sprach.

Nachdenklich öffnete sie die blaue Tür zum Institut, bewunderte wie fast jeden Morgen kurz die feine Stuckarbeit an der Backsteinfassade, sprang schnell die Stufen zum ersten Stock hoch, lief den langen Gang entlang bis zu ihrem Zimmer und war kurz darauf zurück. „Ich bin wieder da“, sagte sie, ein wenig außer Atem und schüttelte ihren braunen Wuschelkopf.

„Dann können wir losgehen.“

Dr. Meyer schritt kräftig aus und Anne hatte Mühe mitzukommen. Zwar machte ihr Joggen nichts aus, aber Meyer hatte einen ungewöhnlichen Rhythmus und sie hatte Schwierigkeiten, sich seinem Schritt anzupassen.

Am Botanischen Garten hielt Meyer an und zeigte auf die Gewächshäuser. „Die Scheiben sind trüb geworden. Es wird schwer sein, die Gewächshäuser wieder in Ordnung zu bekommen. Die langen Baumaßnahmen schaden den Pflanzen. Wir werden auch da weiterhin investieren müssen, aber das wissen Sie ja aus den vielen Anträgen, die ich stelle. Wir brauchen einen Sponsor, eine Firma, die unsere kleinen Forschungsarbeiten so unterstützt, dass wir die großen Aufgaben bewältigen können.“

 

„In der Führung eines Botanischen Gartens sehen Sie eine große Aufgabe?“, fragte Anne erstaunt. „Sie wissen doch auch, dass die systematische Botanik aus dem Blickzentrum der Forschung herausgefallen ist. Alle Forscher beschäftigen sich nur noch mit Genen.“

„Es ist nicht gut, dem allgemeinen Strom nachzuschwimmen“, sagte Meyer. „Wenn man wirklich bahnbrechende Erkenntnisse finden möchte, muss man ungewöhnliche Wege gehen.“

„Sie denken an Heinrich Hertz, der hier in Karlsruhe gearbeitet hat, und seine Entdeckung der elektromagnetischen Wellen?“

„Wie kommen Sie gerade darauf?“, fragte Meyer. „Ja, zum Beispiel an ihn. Niemand hielt elektromagnetische Wellen für möglich und heute arbeitet alle Welt mit seiner Entdeckung.“

„Gehen wir also auch ungewöhnliche Wege“, sagte Anne und lächelte. „Also, was wollten Sie mir zeigen?“

„Kommen Sie“, sagte Meyer. „Wir haben es nicht mehr weit.“

Bald hatten sie den Eingang zum Umweltzentrum erreicht.

„Wir gehen unter dem gelben Verbindungsbau hindurch“, schlug Meyer vor. „Dort ist die Wiese, die ich Ihnen zeigen möchte.“

Anne schaute bewundernd in die Runde. „Der Innenhof ist aber schön gestaltet“, meinte sie. „Ein runder Pavillon mit einer Pflanzenkrone zum Treffen in der Mittagspause ist doch etwas Schönes. Wenn es wirklich warm wird, dann ist dieser Platz sicher gut besucht.“

Meyer sah zum Himmel, wo graue Wolken entlangzogen. „Das späte Frühjahr hilft uns“, sagte er. „Sonst wäre die Pflanze, die ich Ihnen zeigen möchte, sicher schon verblüht.“

Anne folgte ihm neugierig. Sie gingen unter dem Verbindungsbau hindurch und standen dann an einer Wiese voller Habichtskräuter.

„Sehen Sie“, sagte Meyer, „die Wiese kann man kaum noch erkennen. Die Beschattung durch die hohen Bäume bringt für die Habichtskräuter den größten Vorteil. Die Wiese ist einschürig, das heißt, sie wird nur einmal im Jahr gemäht. Es ist ein seltener Magerrasen, denn natürlich wird sie nicht gedüngt. Aber nun kommen Sie. Die Pflanze, die ich Ihnen zeigen möchte, ist sehr klein.“

Er wandte sich nach Anne um. Sie war an einer der vierkantigen Säulen stehen geblieben, die überall in der Wiese standen. Auf den Säulen lagen Nachbildungen menschlicher Gehirne aus Stein. „Das sieht komisch aus“, meinte Anne. „So viele Gehirne und alle denken isoliert für sich allein. Es wirkt irgendwie unheimlich.“

„Das Gehirn ist nach der altägyptischen Vorstellung nicht das Wichtigste im menschlichen Körper“, sagte Meyer nachdenklich und zog die schwarzen Augenbrauen zusammen.

„‚Denklandschaft‘ hat der Künstler sein Kunstwerk genannt“, las Anne auf einem Schild vor.

„Wenn es danach ginge, müssten hier Herzen auf den Säulen liegen“, sagte Meyer, „denn nach der altägyptischen Heilkunst ist ja das Herz das Zentrum des Denkens und Fühlens und das Gehirn dient nur zu Kühlung des Blutes.“

Er schaute zu ihr hinüber, als erwarte er ein abschätziges Lächeln, aber Anne sagte ganz ruhig: „Dr. Meyer, wenn man mit Professor Scherrer zusammenarbeitet, dann lernt man auch die altägyptische Kultur kennen. Sie wissen doch um seine Vorliebe.“

„Lassen Sie die Gehirne ruhig weiterdenken“, sagte Meyer und schaute forschend zu Boden. „Hier ist Ihre Pflanze!“

Anne ging zu ihm und sah erstaunt auf eine kleine Pflanze, die deutlich zurückgesetzt hatte. Zwischen braunen Blättern ragte eine kleine Ähre nach oben, die Schötchen trug. Zwischen all den Habichtskräutern war sie kaum zu sehen.

„Das ist Ihre Pflanze“, sagte Meyer.

„Meine Pflanze?“, wunderte sich Anne. „Warum ist das meine Pflanze?“

„Vom Gefühl her weiß ich, dass diese Pflanze für Sie eine ganz besondere Bedeutung hat. Gestern war sie noch ganz grün und begann zu fruchten. Schade, dass sie heute abgestorben ist.“

„Vom Gefühl her“, lachte Anne, „und das sagen Sie hier zwischen all den Gehirnen.“

„Das Gehirn ist nicht das Wichtigste, sagten Sie selbst“, antwortete Meyer lächelnd. „Kennen Sie die Pflanze?“

„Sie kennen sie nicht?“, fragte Anne erstaunt.

„Doch“, sagte Meyer. „Ich kenne sie schon seit langer Zeit und habe sie überall gesucht. Mein Gefühl sagt mir, dass ich sie jetzt endlich gefunden habe.“

„Dann nehmen wir den Schatz mit“, schlug Anne vor. „Es ist Arabidopsis, die Ackerschmalwand. Sie hat größte Bedeutung für die Wissenschaft bekommen. Alle botanisch genetischen Institute arbeiten mit ihr, weil sie ein einfaches Genom hat und sich so gut verändern lässt.“

„Ich weiß“, sagte Meyer. „Aber dieses Exemplar hat für Sie eine ganz besondere Bedeutung. Nehmen Sie die Pflanze mit.“

„Soll ich sie herausziehen?“, fragte Anne. Sie bückte sich und zog das Pflänzchen aus dem Boden. Braun und welk lagen die Blätter in ihrer Hand und unscheinbar war auch die kleine Ähre mit den noch nicht ganz reifen Schoten.

„Sie ist abgestorben“, sagte Meyer.

„Aber Dr. Meyer, Sie sind ja richtig traurig“, wunderte sich Anne.

„So viele Jahre habe ich diese Pflanze gesucht“, sagte Meyer. „Nun ist sie an dem Tag verwelkt, an dem ich sie in Ihre Hände geben wollte.“

„Arabidopsis hat einen ganz festen Lebensrhythmus“, sagte Anne. „Das weiß ich von meinen Forschungen in Tübingen. Bei Scherrer musste man seine Diplomarbeit über Tomaten oder über Arabidopsis schreiben. Wir haben intensiv an der kleinen Pflanze geforscht. Angelika Richter und ich, wir hatten ein eigenes Labor. Es war eine schöne Zeit. Ich werde die Pflanze untersuchen und dann werden wir herausfinden, warum sie für mich so eine Bedeutung haben soll.“ Sie sah auf. Dr. Meyer strahlte sie an, wie Sie ihn noch nie hatten lächeln sehen. Ein bisschen verwundert sagte sie: „Jetzt müssen wir aber zum Institut zurück. Professor Scherrer wird uns schon vermissen.“

Anne nahm die Arabidopsis mit in ihr Labor und legte die welken Blätter unter das Mikroskop. Die Zellen in den Blättern waren fast alle abgestorben, nur wenige waren grün geblieben und schienen noch zu leben. Die haben den Befehl des Todes nicht bekommen, dachte Anne und sah vom Mikroskop auf. Sie hatte das Gefühl, nicht allein im Labor zu sein. Es war, als hätte ihr jemand dieses Wort vom Befehl des Todes zugeflüstert. Ja, sie kannte die Apoptose, den Zelltod, den eigenartigen Befehl, der von Zelle zu Zelle weitergegeben wurde und zum Absterben ganzer Gewebe führte.

Nachdenklich schaute sie aus dem Fenster. Im Spiegelbild glaubte sie eine Katze zu sehen. Keine Hauskatze, eher eine menschliche Gestalt mit dem Kopf einer Katze oder einer Löwin. Irritiert schaltete sie das Licht im Labor mit dem Schalter unter dem Tisch an und das seltsame Spiegelbild verschwand.

„Ein eigenartiger Tag“, sagte Anne vor sich hin. „Erst Meyer und seine Gedanken und nun meine Fragen … Arabidopsis wächst innerhalb von neunzig Tagen, kommt zur Fruchtreife und stirbt sehr schnell ab. Warum hat sich Meyer so gewundert? Sollte Arabidopsis ein Todesgen haben, das wie eine innere Uhr den Befehl zum Absterben von Zelle zu Zelle weitergibt? Was wäre, wenn die wenigen verbliebenen Zellen kein Todesgen hatten und deshalb den Befehl nicht verstehen konnten? Würden sie dann weiterleben? Sollten diese Zellen unsterblich sein? Würden sie sich immer weiter vermehren?“

Anne unterbrach das Selbstgespräch. Ich muss mit Professor Scherrer darüber reden, dachte sie und stellte das Mikroskop zur Seite. Dann sah sie sich im Labor um. Wir haben die nötigen Geräte, um die Zellen aus dem Zellverband zu lösen, dachte sie. Das Verfahren kenne ich von Angelika. Sie hat damals Kartoffelzellen isoliert und gereinigt. Das ließe sich auch hier mit den Arabidopsiszellen machen. Dann müsste man versuchen einen Kallus zu ziehen. Auch das war mit der Ausstattung hier möglich. Das gut eingerichtete Labor verfügte über Zentrifugen und Brutschränke mit Beleuchtung.

„Also, an die Arbeit“, sagte Anne laut. „An die Arbeit“, klang es wie ein Echo zurück. Das große schöne Gebäude ist so leer, dachte Anne, dass sogar meine eigene Sprache wie ein Echo klingt.

3. KAPITEL

Auf dem Schreibtisch häuften sich die Papiere. Scherrer nahm einen Brief auf, um ihn gleich wieder zur Seite zu legen. Das Telefon läutete. Scherrer sah den Apparat wie einen persönlichen Feind an, aber dann nahm er langsam ab. „Ja, bitte?“, fragte er in den Hörer.

„Ein Gespräch aus Luxor, Herr Professor. Dr. Nubi!“

„Danke, Anneliese, stellen Sie durch!“

Es rauschte einen Moment im Hörer, dann kam klar und deutlich die dunkle Stimme seines Freundes Nubi. „Edwin, bist du es?“

„Ja“, sagte Scherrer. „Welch eine Überraschung! Ich sitze hier am Schreibtisch und denke über neue Projekte nach. Dein Brief ist angekommen. Danke für deine Unterstützung.“

„Du hast lange nichts mehr von dir hören lassen, Edwin. Ich denke oft an die alten Zeiten und unsere interessanten Gespräche über die Unsterblichkeit. Du bist der Unsterblichkeit nun doch viel näher gekommen.“

„Wie meinst du das?“, fragte Scherrer irritiert.

„Man hört und liest viel von deinen Forschungen in der Gentechnik.“

„Ich hoffe, nur Gutes.“

„Leider nicht nur“, sagte Nubi. „Auch viel Kritisches. In den arabischen Ländern steht man den Experimenten der westlichen Welt sehr abwartend gegenüber. Die neuen Techniken greifen tief in das Geschehen am Lebendigen ein. Das weißt du selbst. Aber ich rufe aus einem anderen Grunde an. Wie du weißt, habe ich erreichen können, dass hier Versuchsfelder angelegt werden dürfen. Hättest du die Möglichkeit, dafür nach Ägypten zu kommen? Deine Anwesenheit würde dem Projekt mehr Bedeutung geben. Aber nicht nur deshalb! Ich würde mich freuen, wenn wir unsere alte Freundschaft auffrischen könnten. Es gibt auch neue sehr interessante Ausgrabungen. Kürzlich wurde das Grab eines Arztes entdeckt. Nein, nicht Imhoteb, ein bisher unbekannter Arzt. Trotzdem sehr interessant! An den Wänden sind viele Zeichnungen der alten Heilpflanzen. Das würde dich doch sicher interessieren. Du bist lange nicht mehr in Ägypten gewesen. Wirst du kommen?“

„Ich denke schon“, sagte Scherrer zögernd.

„Mein Freund“, sagte Nubi. „Ich habe das Gefühl, du könntest einen Urlaub von deinen Mikroskopen und Brutschränken gebrauchen. Hast du den Sarkophag und die Katzenstatue noch?“

Scherrer nickte, als könne sein Freund ihn sehen. „Und all die anderen Kunstschätze auch. Sie stehen in meinem Arbeitszimmer und inspirieren mich. Ich habe unsere Fahrt durch die Wüste nie vergessen. Auch unsere Gespräche nicht. Unsterblichkeit ist nicht gleichbedeutend mit ewiger Jugend! Weißt du noch, wie wir darüber diskutierten? Nun sind wir alt geworden. Dreißig Jahre ist es her. Das ist eine lange Zeit.“

„Die du gut genutzt hast, Edwin. Deine Forschungsjahre in Tübingen waren doch sehr erfolgreich.“

„Du hast sie besser genutzt, Nubi. Du hast einen Sohn, der inzwischen erwachsen ist. Der Schoß der Isis, weißt du noch?“

„Jeder hat seine Träume ein bisschen verwirklichen können. Dafür sollten wir dankbar sein“, sagte Nubi. „Gib mir Bescheid, wann du kommen kannst. Ist noch etwas? Du wirkst so nachdenklich!“

„Ich sehe gerade, dass meine Assistentin mit mir sprechen möchte. Ich melde mich bei dir, sobald ich mehr weiß.“

„Warte nicht zu lange mit deiner Antwort“, sagte Nubi. „Die Zeit vergeht. Wir werden älter und sind leider nicht unsterblich.“

Bei seiner Sekretärin wartete eine aufgeregte Anne Neidhardt darauf, endlich zum Herrn Professor vorgelassen zu werden.

„Frau Neidhardt“, begrüßte Scherrer Anne. „Haben Sie die Pflanze gesehen, die Dr. Meyer Ihnen so gern zeigen wollte? Der Mann war ganz aufgeregt.“

„Ja“, antwortete Anne. „Ich habe mich über sein Verhalten doch etwas gewundert. Die Pflanze wuchs am Forschungszentrum Umwelt.“

„Dr. Meyer sagte so etwas. Was für eine Pflanze ist das nun? Eine Bereicherung für den Botanischen Garten?“ Scherrer sah sie über die goldene Halbbrille amüsiert an. Er wirkte wie vor Jahren in Tübingen. Seine Haare waren grau geworden, aber noch immer hatte er seine Locken sorgfältig gelegt. Anne schüttelte ihren braunen Wuschelkopf. „Bitte setzen Sie sich doch“, schlug Scherrer vor. „Auch Sie wirken angespannt. Gibt es etwas Neues?“

Anne setzte sich, dann platzte sie heraus: „Eine Arabidopsis, sie wuchs in einem Magerrasen voller Habichtskräuter.“

„Arabidopsis? Die kennen wir doch hinreichend aus Tübingen. Deshalb machte Dr. Meyer so ein Aufheben?“

 

„Er sagte, es sei meine Pflanze“, erzählte Anne. „Ich habe sie mitgenommen, denn sie war bereits abgestorben.“

„Ja, Arabidopsis hat einen festgelegten Lebensrhythmus“, bestätigte Scherrer. „Das macht sie für die Forschung so interessant. Sie wächst sehr schnell und hat ein kleines Genom. Aber wem erzähle ich das? Sie wissen es selber. Das ganze Institut war doch voll mit diesen Pflanzen.“

„Deshalb ist uns auch bisher an dem Lebensrhythmus nichts Besonderes aufgefallen“, sagte Anne. „Könnte es sein, dass Arabidopsis ein Todesgen hat, das nach neunzig Tagen wirksam wird und den Zelltod, ich meine die Apoptose, von Zelle zu Zelle befiehlt? Normalerweise sterben bei einer Pflanze nur wenige Teile ab, aber hier endet das Leben der ganzen Pflanze ziemlich abrupt.“

Erstaunt bemerkte Anne, wie Scherrer blass wurde. „Ein Todesgen?“, fragte er mit belegter Stimme. „Das wäre möglich. Bei dem kleinen Genom dürfte es wohl nur ein Gen sein, das wie eine innere Uhr alles in Gang setzt. Andere Lebewesen, wie auch der Mensch, haben viele Todesgene, die den Tod bewirken.“ Er starrte auf die Wand, als sähe er einen Geist. Anne räusperte sich, um Scherrer wieder auf sich aufmerksam zu machen. „Haben Sie noch mehr herausgefunden?“, fragte Scherrer und sah sie wieder an. „Verzeihen Sie. Gerade eben habe ich mit meinem Freund Nubi aus Ägypten telefoniert, da sind meine Gedanken noch ganz woanders.“ Er lächelte entschuldigend.

„Ja, mir ist noch mehr aufgefallen“, fuhr Anne fort. „Einige Zellen in den Blättern leben noch. Sie haben den Befehl zur Apoptose entweder nicht bekommen oder ihn ignoriert. Ich möchte diese Zellen isolieren.“

„Zu welchem Zweck?“

„Um herauszufinden, warum sie nicht starben“, erklärte Anne. „Pflanzenzellen sind ja potentiell unsterblich. Vielleicht hat die Arabidopsis ein Todesgen.“

„Unsterblich?“, fragte Scherrer und sah sie nachdenklich an. „Darüber habe ich gerade mit meinem Freund gesprochen. Die Ägypter träumten von Unsterblichkeit. Mein Freund meinte, ich sei diesem Traum in meinem Forscherleben näher gekommen, was ich verneint habe. Nun kommen Sie und erzählen mir etwas von unsterblichen Zellen, die kein Todesgen haben.“

„Kann ich diese besonderen Zellen zur Kalluszüchtung vorbereiten?“, fragte Anne. „Ich würde gerne wieder forschen.“

„Natürlich“, antwortete Scherrer. „Forschen Sie! Ich bin froh, dass Sie nach Karlsruhe mitgekommen sind. Ich möchte selber wieder forschen. Meine Aufgabe mit dem Botanischen Garten lässt mir die Zeit dazu. Darf ich ganz spontan einen Vorschlag machen? Da Sie die Unsterblichkeit ansprechen, möchte ich Ihnen die Schwerpunkte in meinem Forscherleben erklären. Außerdem hätten wir dann auch Zeit, Ihre Arbeit zu besprechen. Ich habe das Gefühl, dass Sie auf etwas ganz Besonderes gestoßen sind. Darf ich Sie zu einem Gespräch in mein Haus einladen?“ Scherrer öffnete seinen Terminkalender. „Am Donnerstagabend hätte ich Zeit. Könnten Sie den Termin wahrnehmen?“ Dabei sah er sie fast bittend an.

Anne überlegte kurz. Doch, das wäre möglich. Der Professor schien ihre Pläne sehr ernst zu nehmen. „Ja“, antwortete sie mit fester Stimme, „ich komme gern.“

„19.00 Uhr?“, fragte Scherrer. „Ich würde mich sehr freuen.“

„Kann ich ab jetzt meine Zeit für die Forschung am Todesgen verwenden?“

„Forschen Sie, so viel Sie wollen“, sagte Scherrer. „Dr. Meyer und ich kommen mit der Arbeit am Botanischen Garten gut genug voran. Forschen Sie! Ihre Forschungen sind mir sehr wichtig. Ja, sie erfüllen sogar einen Traum von mir. Aber das erkläre ich Ihnen am Donnerstag.“

Sehr nachdenklich ging Anne in ihr Labor zurück und begann damit, die Zellen zu isolieren und für die Kalluszüchtung vorzubereiten.

Als Professor Scherrer und Dr. Meyer abends das Gebäude verließen, brannte in Annes Labor noch Licht. „Gute Nacht, Herr Professor“, sagte Meyer. „Unsere Frau Neidhardt arbeitet noch.“

„Ich danke Ihnen“, antwortete Scherrer und reichte ihm die Hand. „Sie haben uns sehr geholfen.“

Meyer ergriff die Hand des Professors. Scherrer spürte die Kälte der Hand und zuckte zusammen. Schnell ließ er Meyers Hand los und ging rasch hinüber zur Haltestelle der Straßenbahn.

Minuten später fuhr er mit der Bahn nach Durlach. Ich habe gar nicht gesehen, wo Meyer geblieben ist, dachte Scherrer. Er war plötzlich verschwunden.

Als Scherrer durch seinen Garten ging, war er froh, dass das Haus hell erleuchtet war. Diesmal zögerte er, die Katzenfigur anzufassen, denn es war ihm, als schaue ihn ein sehr lebendiges Tier an. Aber das beruhte nur auf seiner Einbildung und der ausgezeichneten Arbeit des ägyptischen Bildhauers.

In den nächsten Tagen sah Scherrer Anne nur kurz, wenn er in ihr Labor schaute. Sie war morgens schon an der Arbeit, wenn er kam, und abends noch an der Arbeit, wenn er das Institut verließ. Scherrer nutzte die Zeit in seinem Büro, um sich über den neuesten Stand der Forschung mit Arabidopsis zu informieren.

Auch Sybille Walter informierte sich über Arabidopsis. Ich muss Bescheid wissen, wenn ich mit dem Herrn Professor ins Gespräch kommen will, dachte sie. Wenn er weiterforscht, dann ganz sicher nur mit dieser Pflanze. Ein Kribbeln auf der Haut verriet ihr, dass sie auf der richtigen Spur war.