Das Dekameron

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Aus der Reihe: Literatur (Leinen)
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ES BEGINNT DER ZWEITE TAG DES DEKAMERON

Es wird unter Filomenas Regierung von solchen Personen erzählt, die von mancherlei Unglücksfällen angefochten wurden und sie dennoch wider alle Hoffnung überstanden.

Schon hatte die Sonne überall den neuen Tag mit ihrem Strahl verbreitet, und die Vögel des grünen Hains verkündeten ihn dem Ohr durch ihren süßen Gesang, als die Mädchen alle und die drei Jünglinge sich ebenfalls von ihren Lagern erhoben, in die Gärten gingen, den betauten Rasen mit langsamen Schritten hin und her wandelten und, schöne Kränze windend, sich geraume Zeit belustigten. Wie sie nach dem Beispiele des vorigen Tages im Kühlen gesessen und ein wenig getanzt hatten, begaben sie sich zur Ruhe, standen nach der dritten Stunde des Vormittags wieder auf und lagerten sich auf Befehl ihrer Königin um sie her im frischen Grase. Nachdem diese, eine junge Dame von großer Schönheit des Gesichts und Anmut der Gestalt, mit ihrem Lorbeerkranz gekrönt, eine kleine Weile gesessen und die ganze Gesellschaft mit ihren nachdenklichen Blicken gemustert hatte, befahl sie Neifile, die neue Unterhaltung mit einer Erzählung anzufangen, welche auch keinen Anstand nahm und fröhlich also begann:

ERSTE NOVELLE

Martellino verstellt sich als Krüppel und gibt vor, durch den Leichnam des hl. Heinrich geheilt worden zu sein. Sein Betrug wird entdeckt, er wird geprügelt, wird festgesetzt und läuft große Gefahr, gehenkt zu werden, kommt aber noch glücklich davon.

Es trägt sich oft zu, meine lieben Freundinnen, dass der, welcher anderer Leute spotten will, besonders wenn er seinen Scherz mit ehrwürdigen Dingen treibt, sich selbst zum Spott macht und sich bisweilen in Schaden bringt. Um dem Befehl der Königin nachzuleben und mit einer Erzählung des verabredeten Inhalts den Anfang zu machen, so will ich euch sagen, was einmal einem unserer Mitbürger Unglückliches und hernach über alle Erwartung Glückliches begegnet ist.

Es lebte vor nicht langer Zeit in Treviso ein Deutscher namens Heinrich, ein armer Mann, der sein Brot als Lastträger verdienen musste, aber dabei einen sehr frommen Wandel führte und bei jedermann beliebt war, daher denn, wie die Leute aus Treviso versichern (es mag nun wahr sein oder nicht), in der Stunde seines Todes die Glocken der Hauptkirche zu Treviso, ohne von jemandem gezogen zu sein, von selbst anfingen zu läuten. Das ward von jedermann für ein Wunder und Heinrich deswegen für einen Heiligen gehalten; alles Volk in der Stadt lief zusammen nach dem Hause, wo sein Leichnam lag, den sie wie eine Reliquie nach der Hauptkirche trugen, und Lahme, Gichtbrüchige, Blinde und Kranke jeder Art, oder Leute, die sonst Mängel hatten, zu ihm brachten, als ob die Berührung seines Leibes sie alle gesund machen könnte. Während dieses allgemeinen Zulaufes begab es sich, dass in Treviso drei Männer aus Florenz ankamen, wovon der eine Stecchi hieß, der andere Martellino und der dritte Marchese, die ihr Brot damit verdienten, dass sie an den Höfen umherzogen und die Leute damit belustigten, dass sie die Gebärden eines jeden Menschen nachmachten. Da sie hier noch nie gewesen waren, so wunderten sie sich, einen so großen Auflauf von Menschen zu finden, und wie sie die Ursache davon erfuhren, wurden sie neugierig, dieselbe auch zu sehen. Sie ließen demnach ihr Gepäck in einer Herberge und Marchese sagte: „Wir wollen zwar hingehen, den Heiligen zu sehen, allein ich weiß wahrlich nicht, wie wir zu ihm gelangen wollen, weil ich höre, dass der Platz voll von Deutschen und anderen Landsknechten ist, die der Herr der Stadt dort auf den Beinen hält, um Unruhen zu verhüten; überdies ist die Kirche (sagt man) so voll von Menschen, dass man fast nicht hineinkommen kann.“

Martellino, der sehr neugierig war, sagte: „Das soll uns nicht hindern. Ich will wohl ein Mittel finden, bis zu dem Leichnam vorzudringen.“

„Und wie denn?“ fragte Marchese.

„Das will ich dir sagen“, entgegnete Martellino. „Ich will mich wie ein Gichtbrüchiger anstellen, und du sollst mich an einer Seite und Stecchi an der anderen führen, als wenn ich allein nicht gehen könnte, und ihr wolltet mich zu dem Heiligen bringen, dass er mich gesund mache. Da wird kein Mensch sein, wenn er uns sieht, der uns nicht aus dem Wege ginge, uns Platz zu machen. Dieses gefiel Marchese und Stecchi, und sie beeilten sich, ihre Herberge zu verlassen. Sie gingen an einen einsamen Ort, wo sich Martellino die Hände, Finger, Arme und Beine, die Augen und das ganze Gesicht dermaßen verrenkte und verdrehte, dass es scheußlich anzusehen war. Wer ihn erblickte, konnte nicht umhin, zu glauben, dass er am ganzen Leibe verstümmelt und gelähmt wäre. So fassten ihn Marchese und Stecchi unter die Arme und gingen mit ihm nach der Kirche mit ganz andächtiger Miene und baten demütig und um Gottes willen einen jeden, der ihnen im Wege war, Platz zu machen, was auch bereitwillig geschah. Jeder erwies ihnen Aufmerksamkeit, überall ward „Platz, Platz!“ gerufen, und sie gelangten bis zur Leiche des heiligen Heinrich, die von einigen angesehenen Männern umgeben war, die den Martellino auf den Leichnam hoben, damit er die Gabe der Gesundheit von ihm empfinge. Martellino, auf welchen aller Augen gerichtet waren, lag ein wenig still und wusste dann meisterlich erst den einen, dann den anderen Finger zu regen, dann die Hand, dann einen Arm, bis er sich endlich völlig aufrichtete. Wie das die Leute sahen, brach ein jeder so laut in Lobsprüche auf den heiligen Heinrich aus, dass man kein Wort vor dem anderen verstehen konnte.

Zum Unglück stand nicht weit davon einer von seinen florentinischen Mitbürgern, der den Martellino sehr gut kannte, und wie er ihn, nachdem er sich ganz aufgerichtet hatte, gewahr ward, überlaut zu lachen anfing und sagte: „Dass doch der Henker den Kerl! Wer sollte nicht gedacht haben, wie er herkam, dass er wirklich gichtbrüchig wäre?“

Dieses hörten einige Leute aus Treviso und fragten, ob der Mensch denn wirklich nicht gichtbrüchig wäre.

„Gott bewahre!“ sprach jener, „Er war immer so gerade wie der Beste von uns, aber er versteht besser als irgendein anderer Gaukler die Kunst, sich eine jede Gestalt zu geben, wie ihr wohl gesehen habt.“

Wie dieses ruchbar ward, brauchte es nichts weiter, um den Pöbel aufzubringen, der hinzustürmte und schrie: „Greift den Schelm, den Spötter Gottes und seiner Heiligen, der so gesund ist wie wir und den Gichtbrüchigen mimt, um uns und unseren Heiligen zu verspotten.“

Mit diesen Worten ergriffen sie ihn, zogen ihn von dem Gerüst herunter, zerrten ihn bei den Haaren, rissen ihm die Kleider vom Leibe und bearbeiteten ihn mit Faustschlägen und Rippenstößen – kurz, man schien zu glauben, wer ihm nicht eins versetzte, der könnte kein braver Kerl sein. Martellino bat zwar um Gottes willen um Barmherzigkeit und wehrte sich dabei seiner Haut, so gut er konnte, allein es half alles nichts, und die Faustschläge und Fußtritte fielen immer dichter. Wie Stecchi und Marchese dies gewahr wurden, fürchteten sie, es möchte ein schlimmes Ende nehmen, und da sie für sich selbst besorgt waren, so durften sie es nicht wagen, ihrem Kameraden zu Hilfe zu kommen. Im Gegenteil schrieen sie so laut wie die Übrigen: „Schlagt ihn tot, den Hund!“ Doch sannen sie im Stillen auf ein Mittel, ihn den Händen des Pöbels zu entreißen, der ihn gewiss getötet hätte, wenn nicht Marchese beizeiten auf einen glücklichen Einfall gekommen wäre. Dieser, der bemerkt hatte, dass die ganze löbliche Polizei zugegen war, ging, so eilig er konnte, zu dem vom Stadtvogt bestellten Kommandanten und rief: „Helft um Gottes willen! Hier ist ein Spitzbube, der mir meinen Beutel mit mehr als hundert Goldgulden gestohlen hat; ich bitte Euch, lasst ihn festnehmen, damit ich das Meinige wiederbekomme.“

Den Augenblick liefen ein Dutzend Häscher dahin, wo man dem armen Martellino den Pelz wusch. Mit knapper Not gelang es ihnen, den zusammengerotteten Pöbel zu zerstreuen und ihm den Martellino, übel misshandelt und zerzaust, aus den Händen zu reißen. Sie brachten ihn nach dem Rathause, wohin ihm viele von denen nachfolgten, die sich für beleidigt hielten. Wie sie hörten, dass man ihn als einen Beutelschneider eingezogen hatte, glaubten sie, sie könnten ihn nicht besser an den Galgen bringen als durch ähnliche Beschuldigungen, und ein jeder fing an zu schreien, er sei auch von ihm bestohlen worden. Wie dies der Richter hörte, der ein gestrenger Mann war, ließ er ihn gleich ins heimliche Verhör bringen und fing an, ihn zu befragen. Martellino antwortete ihm mit lauter Scherzreden und schien sich aus seiner Verhaftung nichts zu machen, worüber der Richter aufgebracht ward, ihn auf die Folter spannen und ihm einige tüchtige Hiebe geben ließ, um ihn zum Bekenntnis zu bringen und ihn dann hängen zu lassen. Wie man ihn wieder aufstehen ließ und der Richter ihn fragte, ob es wahr sei, was man gegen ihn vorbrächte, und Martellino wohl merkte, dass das bloße Leugnen ihn nicht retten würde, sprach er: „Mein Herr, ich bin bereit, Euch die Wahrheit zu bekennen. Fragt aber vorher einen jeden Eurer Ankläger, wann und wo ich ihm seine Börse gestohlen habe, so will ich Euch hernach sagen, was ich getan habe und was nicht.“

Der Richter war es zufrieden und ließ einige von den Klägern rufen. Der eine sagte, er hätte ihm vor acht Tagen, der andere vor vier und wieder ein anderer, er hätte ihm heute seinen Beutel genommen. Wie dieses Martellino hörte, sprach er: „Mein Herr, alle diese Menschen lügen in ihren Hals, und das kann ich Euch leicht beweisen, denn wollte Gott, ich wäre so gewiss nie in Eure Stadt gekommen, als ich bis vor wenigen Stunden meinen Fuß nicht hierher gesetzt habe und zu meinem Unglück gleich bei meiner Ankunft hingegangen bin, den heiligen Leichnam zu sehen, wobei man mich so abgedroschen hat, wie Ihr mich seht. Dass dieses wahr sei, kann Euch der Torschreiber mit seiner Rolle beweisen, und auch mein Hauswirt, wenn‘s nötig ist. Wenn Ihr demnach findet, dass ich Euch die Wahrheit sage, so bitte ich Euch, mich nicht diesen gottlosen Lumpen zu Gefallen martern und töten zu lassen.“

 

Indem die Sache so stand und Marchese und Stecchi hörten, dass der Richter dem Martellino hart zusetzte und ihn schon gefoltert hätte, ward ihnen bange und sie dachten: „Wir haben einen dummen Streich gemacht und bringen unseren Kameraden aus der Pfanne auf die Kohlen.“ Sie eilten demnach geschwind zurück zu ihrem Wirt und erzählten diesem den ganzen Verlauf der Sache. Er lachte über die Geschichte und brachte sie zu einem gewissen Sandro Agolanti, der in Treviso wohnte und viel bei dem Landesherrn galt, welchem er alles in gehöriger Ordnung erzählte und nebst den anderen ihn bat, mit der Lage des Martellino Mitleid zu haben. Sandro musste herzlich lachen, ging zu dem Herrn und erhielt von ihm, dass nach Martellino gesandt würde, was auch geschah. Die Boten, die nach ihm geschickt wurden, fanden ihn noch im Hemd, ganz angst und verzagt in den Händen des Richters, der nichts von seiner Rechtfertigung hören wollte, sondern (weil er die Florentiner vielleicht heimlich hasste) große Lust hatte, ihn hängen zu lassen; daher er ihn auch durchaus nicht eher herausgeben wollte, bis er gezwungen ward, es zu tun.

Wie Martellino vor den Herrn kam und ihm alles aufrichtig gestanden hatte, bat er um nichts so angelegentlich als um die Gnade, ihn nur gleich gehen zu lassen, weil er noch immer so lange glauben würde, den Strick um die Gurgel zu haben, bis er wieder nach Florenz käme. Der Herr konnte sich des Lachens nicht mehr enthalten und ließ einem jeden von den Dreien ein Kleid geben.

So entgingen sie unverhofft einer großen Gefahr und zogen mit heiler Haut wieder heim.

ZWEITE NOVELLE

Rinaldo d‘Asti kommt, nachdem er ausgeplündert worden, nach Castel Guglielmo, wo ihn eine Witwe beherbergt. Nachdem er seinen Verlust reichlich ersetzt bekommen, kehrt er gesund und vergnügt nach Hause zurück.

Die Frauen lachten herzlich über die Abenteuer des Martellino, und unter den Jünglingen am meisten Filostrato, dem die Königin, da er neben Neifile saß, auftrug, weiter zu erzählen. Er gehorchte ohne Verzug und sagte:

Schöne Frauen, ich kann nicht umhin, euch ein Geschichtchen zu erzählen, das aus frommem, tragischem und verliebtem Stoff zusammengewebt ist, das aber dennoch für den, der es anhört, vielleicht nicht ohne Nutzen sein wird, besonders für solche, die das unsichere Gebiet der Liebe bereisen, wo der, welcher das Paternoster des heiligen Julian nicht gesprochen hat, oft übel herbergt, wenn er auch gebettet wird.

Es kam einmal zu Zeiten des Markgrafen Azzo von Ferrara ein Kaufmann namens Rinaldo d‘Asti um seiner Geschäfte willen nach Bologna. Als er sie abgewickelt hatte und wieder nach Hause reiste, stieß er, kaum aus dem Weichbild von Ferrara heraus in der Richtung auf Verona reitend, auf einige Männer, die er für Kaufleute hielt, die aber Schnapphähne und räuberisches Gesindel waren, mit denen er sich unvorsichtigerweise in Gespräche und in Gesellschaft einließ. Wie diese merkten, dass er ein Kaufmann war, und folglich nicht zweifelten, dass er Geld bei sich führe, beschlossen sie, ihn bei der ersten Gelegenheit zu berauben, und damit er ja nichts argwöhne, sprachen sie mit ihm, nach der Weise stiller und ordentlicher Leute, von nichts als Treu und Redlichkeit und betrugen sich, soviel ihnen möglich war, artig und gefällig gegen ihn. Er schätzte es für ein großes Glück, sie angetroffen zu haben, weil er allein reiste und nur einen Diener bei sich hatte. Wie man nun unterwegs allerlei miteinander zu schwatzen pflegt, so kamen sie auch unter anderem auf die Gebete zu sprechen, die die Menschen an Gott richten, und einer von den drei Buschkleppern fragte den Rinaldo: „Und Ihr, werter Herr, was habt denn Ihr für ein Gebet, dessen Ihr Euch auf der Reise bedient?“

Rinaldo antwortete: „Die Wahrheit zu sagen, so bin ich in diesem Stücke ein einfältiger, unwissender Mensch, der nur so immer nach seiner alten Weise lebt und fünf gerade sein lässt. Nichtsdestoweniger ist es immer meine Gewohnheit gewesen, auf Reisen, wenn ich des Morgens aus meiner Herberge gehe, ein Paternoster und ein Ave Maria für die Seelen der Eltern des heiligen Julian zu sprechen und hernach Gott und ihn zu bitten, mir auf die folgende Nacht wieder gute Herberge zu bescheren. Und manchen lieben Tag meines Lebens ist es mir schon begegnet, dass ich auf meinen Reisen in große Gefahren geraten bin, aus denen ich immer glücklich entrann und des Abends an einen Ort kam, wo ich gute Aufnahme und bequeme Herberge fand. Ich bin deswegen fest überzeugt, dass der heilige Julian, dem zu Ehren ich diese Gebete verrichte, mir diese Wohltat von Gott erbeten hat, und ich würde nicht glauben, dass es mir an demjenigen Tage wohlergehen, und dass ich die folgende Nacht gut zubringen könnte, wenn ich sie des Morgens nicht gesprochen hätte!“

„Habt Ihr sie denn auch diesen Morgen gesprochen?“ meinte der, der ihn gefragt hatte.

„Das versteht sich“, versetzte Rinaldo.

Der andere, der schon wusste, wie die Sache gekartet war, dachte: Du wirst‘s nötig haben, denn wenn wir uns nicht irren, wirst du heute ein schlechtes Nachtquartier haben. Laut gab er ihm zur Antwort: „Ich bin doch auch viel gereist und habe dies Gebet nie gesprochen, obwohl es mir manche schon gerühmt haben. Doch ist es mir deswegen noch nie widerfahren, dass ich nicht recht gute Herberge gefunden hätte. Vielleicht erfahren wir noch diesen Abend, wer von uns beiden besser untergebracht ist: Ihr, der Ihr dieses Gebet gesprochen habt, oder ich, der ich es nicht tat. Ich pflege mich jedoch statt dessen wohl des Dirupisti oder der Intemerata oder des Ex profundis zu bedienen, von denen mir meine selige Großmutter zu sagen pflegte, dass sie große Wirkung tun sollen.“

So schwatzten sie noch allerlei, indem sie zusammen fortritten, und die Räuber nur auf gelegene Zeit und Ort warteten, um ihren Streich auszuführen. Wie es schon spät ward, kamen sie hinter Castel Guglielmo an eine Furt, wo die drei Spitzbuben, weil es dunkel und der Ort einsam und abgelegen war, den Rinaldo anfielen und ausplünderten und, indem sie ihn im bloßen Hemde und zu Fuß laufen ließen, zu ihm sagten: „Geh hin und sieh zu, ob dein Sankt Julian dir diese Nacht so gutes Quartier besorgen wird wie der unsrige.“ Damit ritten sie durch die Furt und jagten davon.

Rinaldos Diener, ein feiger Schlingel, ergriff in dem Augenblick, da sein Herr angefallen ward, die Flucht. Er warf sein Pferd herum, galoppierte von dannen und hielt erst vor Castel Guglielmo. Weil es schon spät am Abend war, bekümmerte er sich um nichts und suchte unter Dach und Fach zu kommen. Rinaldo, im Hemd und barfuß, sah inzwischen bei einer bitterlichen Kälte und Schneegestöber die Nacht anbrechen und wusste nicht, wie er sich helfen solle. Er zitterte, und die Zähne klapperten ihm vor Frost, er sah sich überall um nach einem Zufluchtsort für die Nacht, wo er nicht vor Frost umkommen müsste – allein er fand ihn nicht, denn es war kürzlich Krieg gewesen, und alles war niedergebrannt und verheert. Von der Kälte getrieben lief er, so schnell er konnte, nach Castel Guglielmo zu, ohne zu wissen, ob sein Diener dorthin oder an einen anderen Ort geflüchtet wäre, denn er dachte, wenn er nur hineinkäme, würde ihm der Himmel auf eine oder andere Art wohl helfen. Aber schon überraschte ihn die Dunkelheit der Nacht, wie er noch eine Meile von Castel Guglielmo entfernt war, daher er erst so spät ankam, dass die Tore bereits geschlossen waren und die Zugbrücke aufgezogen, sodass er nicht mehr hineinkonnte. Traurig und trostlos sah er umher und suchte ein Lager, wo er sich wenigstens vor dem Schnee schützen könnte. Da fiel ihm von ungefähr ein Haus auf der Schlossmauer in die Augen, das einen Vorbau hatte, unter welchen er unterzutreten und den Tag abzuwarten beschloss. Unter diesem Vorbau ward er eine Tür gewahr, die aber verschlossen war, an deren Schwelle er ein wenig faules Stroh, das er in der Nähe zusammenraffte, zu seinem Bette machte, sich traurig und ächzend darauf hinstreckte und sich bitterlich über Sankt Julian beklagte, dass er das in ihn gesetzte Vertrauen so schmählich enttäuschte. Doch Sankt Julian vergaß ihn nicht und bescherte ihm bald eine recht gute Herberge.

Es befand sich in diesem Schlosse eine sehr schöne, junge Witwe, die der Markgraf Azzo wie sein Leben liebte und sie dort auf ihren Wunsch untergebracht hatte. Sie wohnte in eben dem Hause, unter dessen Vorbau sich Rinaldo sein Lager bereitet hatte. Am vergangenen Tage war eben der Markgraf gekommen, um die Nacht bei ihr zu schlafen, weswegen er in ihrem Hause in aller Stille ein heißes Bad hatte bereiten und ein schönes Abendessen bestellen lassen. Wie schon alles fertig war und die Dame nur noch auf die Ankunft des Markgrafen wartete, kam unverhofft ein Diener und brachte ihm eine Nachricht, die ihn bewog, sogleich wieder davonzureisen. Er ließ der Dame sagen, sie möchte nicht auf ihn warten, und machte sich eilig auf den Weg.

Die Dame war darüber ein wenig verstimmt, doch als sie nichts anderes anzufangen wusste, so entschloss sie sich, das Bad zu gebrauchen, das für den Markgrafen bereitet war, hernach zu Abend zu essen und sich zu Bette zu begeben. Das Badezimmer lag hart an der Tür, wo der arme Rinaldo draußen auf der bloßen Erde lag, daher die Dame, wie sie im Bade war, hörte, wie er winselte und wie ein Storch klapperte. Sie rief demnach ihre Magd und sagte: „Geh hinauf und sieh über die Mauer hinaus, wer dort unten an der Tür ist, und was er da macht.“

Die Magd ging und ward in der Dämmerung der Frühe gewahr, dass ein Mensch im bloßen Hemd und barfuß dasaß und erbärmlich zitterte. Sie fragte ihn, wer er wäre, und Rinaldo, der so sehr vor Kälte bebte, dass er kaum sprechen konnte, sagte ihr mit wenigen Worten, wer er wäre und durch welche Zufälle er dahin geraten sei, und bat zugleich flehentlich, ihn, wenn es möglich wäre, nicht vor Frost in der Nacht erfrieren zu lassen. Die Magd, die Mitleid mit ihm hatte, kehrte zu ihrer Frau zurück und gab ihr von allem Bericht, wodurch diese gleichfalls zum Mitleid bewogen ward. Sie erinnerte sich, dass sie den Schlüssel zu dem Pförtchen hatte, durch welches der Markgraf bisweilen insgeheim zu ihr zu kommen pflegte, und sagte zu ihrer Magd: „Geh sachte hin und öffne ihm das Pförtchen; das Abendessen steht fertig, und niemand ist da, der es verzehren hilft, Raum genug haben wir auch, um ihm ein Nachtlager zu geben.“

Die Magd lobte herzlich die Menschlichkeit ihrer Dame und öffnete Rinaldo die Pforte und ließ ihn ein. Die Dame, die ihn fast völlig erstarrt fand, sagte: „Geschwind, guter Freund, geht in dies Bad, das noch warm ist.“

Er ließ sich nicht lange nötigen, sondern war des Bades herzlich froh, dessen Wärme ihn fast vom Tode ins Leben zurückzurufen schien. Die Dame ließ ihm Kleider ihres kürzlich verstorbenen Mannes geben, die ihm, wie er sie anzog, wie angegossen saßen. Indes er die weiteren Befehle der Dame erwartete, dankte er Gott und dem heiligen Julian, der ihm eine so böse Nacht, wie er befürchtet hatte, erspart und ihm allem Anschein nach ein gutes Nachtlager beschieden hatte.

Als die Dame ein wenig ausgeruht hatte, ging sie in ein Zimmer, wo ein schönes Feuer angezündet war, und fragte, was aus dem guten Manne geworden wäre.

Die Magd antwortete: „Madonna, er hat sich angekleidet und ist ein schöner, und allem Anschein nach wohlerzogener und gesitteter Mann.“

„So geh hin und rufe ihn her“, sprach die Dame, „und sage ihm, er soll sich hier ans Feuer setzen und zu Nacht essen, denn das hat er gewiss noch nicht getan.“

Rinaldo trat herein, und als er die Dame erblickte und vermutete, dass sie von vornehmem Stande wäre, grüßte er sie ehrerbietig und dankte ihr aufs Verbindlichste für die Güte, die sie ihm erwies.

Die Dame fand an seinem Anstand und seiner Redensweise, dass er völlig der Mann war, den ihr ihre Magd beschrieben hatte; daher sie ihn freundlich empfing, ihn traulich nötigte, sich neben ihr ans Feuer zu setzen, und ihn nach den Umständen fragte, die ihn hergeführt hätten, was Rinaldo ihr alles ausführlich erzählte. Sie hatte bereits, gleich nach der Ankunft seines Dieners in dem Schlosse, etwas von der Sache gehört, weswegen sie umso leichter seinen Worten Glauben beimaß und ihm auch sagte, was sie von seinem Diener wusste, und wie er ihn leicht am folgenden Morgen antreffen könne. Sobald der Tisch gedeckt war, musste Rinaldo sich mit ihr zur Tafel setzen. Er war groß und wohlgewachsen, von einnehmender Miene und gefälligem Wesen und in der vollen Blüte seiner Jahre. Da die Erwartung des Markgrafen bereits ihre Begierde rege gemacht hatte, so konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihn immer wieder wohlgefällig zu betrachten.

 

Nach dem Essen stand sie mit ihm vom Tisch auf und beredete sich mit ihrer Magd, ob es recht sei, sich die Gelegenheit zunutze zu machen, die ihr das Glück geschickt habe, da der Markgraf sie heute vergeblich warten gelassen. Die Magd merkte, worauf die Dame hinaus wolle, und unterstützte sie nach Kräften in ihrem Bestreben, ihrem Verlangen nachzugeben. Die Dame ging zum Feuer, wo Rinaldo allein saß, und warf ihm verliebte Blicke zu. Danach sprach sie: „Glaubt Ihr nicht, dass ein Pferd und ein paar Kleider, die Ihr verloren habt, sich bald wieder ersetzen lassen? Seid guten Mutes und stellt Euch vor, dass Ihr hier zu Hause seid, denn kurz, ich kann es Euch nicht verhehlen: Seitdem ich Euch in diesen Kleidern meines verstorbenen Mannes vor mir sehe, finde ich zwischen Euch und ihm die Ähnlichkeit so auffallend, dass ich diesen Abend wohl tausendmal in Versuchung geraten bin, Euch für ihn selbst anzusehen, Euch zu umarmen, zu küssen und Euch wie ihm zu begegnen. Und hätte ich nicht befürchten müssen, Euch lästig zu fallen, so hätte ich es, weiß Gott schon getan.“

Rinaldo, der nicht auf den Kopf gefallen war, begriff den Sinn ihrer Worte, den ihm ein zärtliches Feuer in ihren Blicken vollends erklärte. Er ging mit offenen Armen auf sie zu und sagte: „Madonna, Ihr habt mich aus einer jämmerlichen Lage gerettet, und für alle Zukunft verdanke ich Euch mein Leben. Es wäre undankbar, wollte ich nicht alles tun, Euch zufriedenzustellen. Gebt Eurer Lust nur nach: Umarmt und küsst mich! Was mich betrifft, will ich Euch mehr als gerne umarmen und küssen.“ Es bedurfte keiner Worte weiter. Die Witwe, vor liebevollem Verlangen ganz entzündet, sank in seine Arme. Sie umschlangen und küssten einander tausendmal, standen auf, gingen in die Kammer und legten sich sogleich zu Bett, wo sie, bis der Morgen anbrach, ihre Sehnsucht völlig und wiederholt stillten. Wie die Morgenröte erschien, standen sie, wie die Dame es wünschte, auf, und damit kein Aufsehen verursacht würde, so ließ sie ihm einige schlechte Kleider umwerfen, füllte ihm seine Börse, und nachdem sie ihm gesagt hatte, wie er in das Schloss kommen und seinen Diener wiederfinden könne, entließ sie ihn durch dasselbe Pförtchen, durch welches er hereingekommen war, mit der Bitte, geheim zu halten, was diese Nacht geschehen war.

Wie es heller Tag ward, ging er, sobald die Tore geöffnet wurden, ins Schloss, als wenn er erst eben von fernher käme, und fand auch bald seinen Diener. Indem er seine eigenen Kleider, die im Felleisen des Dieners waren, wieder anzog, und schon im Begriff war, seines Dieners Pferd zu besteigen, begab es sich wie durch ein Wunder Gottes, dass die drei Räuber, die ihn abends vorher ausgeplündert hatten, über einer anderen Untat, die sie begangen, ertappt, in dasselbe Schloss gefänglich eingebracht wurden, wo Rinaldo, laut ihrem Bekenntnis, sein Pferd, seine Kleider und alle seine Sachen wiedererstattet wurden, sodass er nichts davon einbüßte, außer ein Paar Kniebändern, von denen die Räuber selbst keine Nachricht geben konnten. Rinaldo stieg zu Pferde und dankte Gott und dem heiligen Julian, als er heil und gesund nach Hause ritt. Die drei Schnapphähne aber schaukelten am folgenden Tage schon im Winde.