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Buch lesen: «Der Kunstreiter, 2. Band», Seite 5

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»Der Müller ist ein Lump!« fiel hier Tobias wütend ein, indem er die geballte Faust wieder aus der Tasche zog und damit auf den Tisch schlug, »ich habe mich für ihn aufgeopfert, und jetzt kommt er…«

»Der Müller ist ein Ehrenmann,« unterbrach ihn ruhig der Bauer, indem er von seiner Bank aufstand, sein Bier austrank und seinen Hut vom Nagel nahm, »er hat bis jetzt mehr für dich getan, wie einer von uns getan haben würde, und Not, Aerger und Schande außerdem dafür genug gehabt. Da er jetzt sieht, daß du kein anderer Mensch werden willst, so mag er dich wenigstens auch nicht länger in dem liederlichen Leben unterstützen, und da hat er, sollt' ich denken, recht. Daß du anders denkst, ist deine Sache – Gott befohlen!« Und seinen Hut aufstülpend, verließ der alte Mann das Zimmer.

Tobias schleuderte ihm mit einem boshaften Blick den bittersten Fluch nach, auf den er sich besinnen konnte; Mühler aber lachte und sagte: »Laß den Brummbär laufen, Kamerad; gut, daß er fort ist; der soll uns den schönen Tag noch lange nicht verderben. Da trink, das ist der Sorgenbrecher, besser als das verwünschte Vitriolöl, das sie hier für Schnaps verkaufen. Der hier brennt nicht und wärmt doch, und je mehr man davon trinkt, desto leichter wird's einem im Kopfe.«

Tobias schien noch immer keine rechte Lust zu haben, geselliger zu werden, wenn er auch das dargebotene Glas nicht verschmähte; mit jedem Glase aber taute er mehr auf, und während sich Mühler, in einer eigenen Art von rauher Herzlichkeit, bemühte, den alten niedergebrochenen Säufer aufzurichten, fing ihm selber der Wein an zu schmecken.

»Hol' der Henker die Kosten!« lachte er, als er die dritte Flasche bestellte, »wo das herkommt, ist mehr, und so jung treffen wir doch nicht wieder zusammen.«

»Wo das herkommt, ist mehr?« sagte Tobias, aufmerksam werdend, »der da droben« – und er deutete mit dem Daumen nach der Richtung des Gutes hinüber – »ist wohl schmählich reich?«

»Puh, reich!« rief Mühler, das große Glas bis zum Rande füllend und auf einen Zug leerend, »was heißt reich? Was man hat, kann einem die nächste Stunde gestohlen werden oder sonst abhanden kommen, aber was man kann, Kamerad, darauf kommt's an, und das, was man kann, das macht den Mann.«

»Nun, Kamerad,« lachte Tobias, der bis jetzt noch viel nüchterner als Mühler war, trotzdem daß er schon ungezählte Gläser Branntwein vorher hinabgegossen, »bis jetzt hast du uns aber noch nicht gezeigt, was du kannst…«

»Vielleicht habe ich nicht gewollt,« schmunzelte Mühler.

»Und willst du jetzt?«

»Nein,« schüttelte Mühler mit dem Kopfe, indem er einen Blick nach der am Fenster spinnenden Wirtin hinüberwarf. Der Wirt war hinausgegangen, um nach seinen Getränken zu sehen, und weitere Gäste nicht im Zimmer – »andere brauchen auch nichts davon zu wissen.«

»Na, vor der darfst du dich nicht genieren,« meinte Tobias, »wenn du sonst ein Geheimnis daraus machst, denn die ist stocktaub. Aber weißt du – wenn's – was wäre, das man zum Leben und besonders zum Trinken gebrauchen könnte, verstehst du, da wär' mir's recht, wenn ich auch etwas davon erführe. Wer weiß, wie man's einmal gebrauchen kann.«

»Du?« lachte der Alte, dem der Gedanke ungemeinen Spaß machte, sich den »faulen Tobias« als »Künstler« vorzustellen, »hahaha, das ist kostbar – du, mit den lahmen Knochen, du wärst ein Kapitalexemplar für irgend eine Gesellschaft!«

»Hoho!« rief Tobias, leicht gereizt, »ich weiß mich wohl in jeder Gesellschaft zu benehmen, und du hast noch gar keine Ursache gehabt, mir das unter die Nase zu reiben.«

»Puh, Tobi, schwatz' von nichts, wovon du nichts verstehst,« sagte Mühler, der keineswegs trunken, aber durch den Wein gesprächig geworden war. »Was ich unter Gesellschaft verstehe, ist etwas ganz anderes – nicht das, was du meinst, wo zehn oder zwanzig oder dreißig Personen zusammenkommen und sich um die Tische herumsetzen und ihr Bier trinken. Kannst du aber – Donnerwetter, die Flasche ist schon wieder leer – he, Wirtschaft! – kannst du auf dem Kopfe stehen?«

»Ich?« sagte Tobias, ihn mit einem entsetzlich verblüfften Gesicht anstarrend, »ich weiß nicht – ich habe es noch nicht versucht.«

»Ist auch gar nicht nötig, Kamerad, denn du kannst's doch nicht,« sagte Mühler, »und das ist noch das Leichteste dabei. – Hast du neulich gesehen, was für Kunststücke die drei Burschen machten, die hier im Dorfe waren?«

»Von denen der eine die Leiter hinauflief, ohne daß sie jemand hielt?«

»Ganz recht, und das sind noch Spielereien, denn sie riskieren nichts dabei, als vielleicht einmal, wenn es mißglückt, auf den Hintern zu fallen.«

»Aber was hat das mit dir und – mit dem Baron da oben zu schaffen?« sagte Tobias, der aus den Worten seines Nachbarn nicht recht klug wurde.

»Kannst du das Maul halten?« fragte Mühler leise.

»Das kann ich,« versicherte Tobias, wirklich froh, endlich einmal etwas zu finden, was er wirklich zu können glaubte.

»Gut,« sagte Mühler, »das ist manchmal schon viel wert – da kommt aber der Wirt wieder – der braucht nichts zu wissen.«

»Na, Herr Mühler,« sagte dieser, der mit einer frischen Flasche zum Tische trat, »sind ja heute recht fidel. Hab's mir gleich gedacht, daß Sie mehr wollten, und die alte Sorte mitgebracht. Nicht wahr, die schmeckt?«

»Es geht – da nehmt die leeren Flaschen mit. Tobias hier ist heute etwas niedergeschlagen, und den müssen wir wieder fidel machen – trinkt Ihr ein Glas mit, Sternenwirt?«

»Gleich steh' ich zu Befehl, Herr Mühler – muß nur einmal hinunter in die Schmiede, dort etwas zu besorgen – ich bin bald wieder da. Sollten Sie in der Zeit etwas wollen, so steht es drüben in der Stube, und meine Alte da kann es Ihnen geben.«

»Der kann abkommen,« sagte brummend Tobias, als der Wirt das Zimmer verlassen hatte, »Lump nichtsnutziger. Wer Geld hat, dem macht er den Buckel krumm, und so wie er merkt, daß es dünn wird, kennt er einen nicht mehr und fängt an schwer zu hören. Dir knöpfe ich die Ohren noch einmal auf, Halunke – aber – über was sollt' ich's Maul halten, Mühler? – Was kann der Baron, und was kannst du?«

»Baron,« sagte Mühler, die Achsel zuckend und sich und Tobias aufs neue einschenkend, »der da drüben ist so wenig Baron wie du und ich.«

»Den Teufel auch!« murmelte Tobias leise und erstaunt vor sich hin.

»Das schadet auch nichts, Kamerad,« lachte der Alte in übermütiger Laune weiter, »bah, so viel für einen lumpigen Baron, wenn er nichts weiter kann, als Samstags dem Verwalter sein Geld auszahlen, und für das übrige den lieben Gott sorgen läßt – unser Monsieur Bertrand kann mehr.«

»Mosje Bertrand?« fragte Tobias erstaunt.

»Sagte ich Bertrand?« fragte Mühler, dem das Wort nur so entfahren war.

»Ich dächte…«

»Na, bleibt sich gleich – den solltest du einmal auf drei Pferden zugleich reiten sehen.«

»Auf dreien, na, so lüg' du und der Teufel! wie will er denn auf dreien zugleich sitzen?«

»Sitzen? – er sitzt auch nicht, er steht, mit jedem Fuß auf einem und das dritte zwischen den Füßen, und vier dabei vorn im Zügel, daß die Haare sausen.«

»Aber das machen ja die Kunstreiter!« sagte Tobias, jetzt völlig verblüfft über alles, was er hörte.

»Tun sie auch, Kamerad,« lachte Mühler, »und seine Frau, meine Tochter, solltest du erst sehen – der Jubel von den Leuten, wenn sie auf ihrem Schimmel geflogen kam und durch Reifen sprang und über Tücher wegsetzte und sich so und so drehte – und die Kleine – die Josefine, das ist ein wahrer Teufel von einem Kinde auf dem Sattel – sie könnte nicht leichter auf dem festen Boden tanzen.«

»Ja, zum Donnerwetter, Kamerad,« sagte Tobias, erstaunt Front gegen ihn machend, »der Baron da drüben ist doch nicht etwa…«

»Der beste Kunstreiter, der je ein Pferd dressiert hat,« ergänzte Mühler, »das muß man ihm lassen, wenn er auch noch ein so schlechter Oekonom sein mag.«

»Und die ganze Familie – und du?«

»Lauter Kunstreiter,« lachte der Alte triumphierend, ohne sich jedoch selber als Bajazzo zu denunzieren. »Das ist ein lustiges Leben, Kamerad, und du solltest einmal dabei sein, wenn es so recht mitten im Glanz und Gang ist. Hier – der Teufel soll's holen, ein Hund hat's besser, als den ganzen Tag da drinnen hinter den steinernen Mauern zu sitzen und Maulaffen feil zu halten, und ich hab' es auch satt bekommen und gehe meiner Wege.«

»Was?« rief Tobias, jetzt noch mehr erstaunt als vorher. »Du willst fort, Kamerad, willst mich hier allein lassen?« setzte er mit einer eigenen Art von Rührung hinzu.

»Kann's nicht ändern,« bestätigte Mühler, »das Leben hier führ' ein anderer – mein Junge ist schon voraus.«

»Und die da drüben auf dem Gute?«

»Mögen's halten, wie sie wollen,« sagte Mühler gleichgültig, »ich kann mir mein Brot verdienen, ohne die da, und lustigeres Brot, wie sie mir bieten können. Wenn mit dir nur etwas anzufangen wäre, nähm' ich dich mit, Tobi, aber – es geht nicht, du bist zu steif in den Knochen – meine müssen freilich auch erst wieder gelenkig werden, denn das lange Stillhocken ist ihnen schwerlich dienlich gewesen.«

Tobias antwortete ihm nicht, andere Gedanken gingen ihm im Kopf herum, und Mühler tat einen langen Zug aus seinem Glase. Dabei fiel aber sein Blick auf die Wanduhr, und sich aufraffend, sagte er: »Donnerwetter, es wird spät, ich muß fort.«

»Heute noch?«

»Gleich.«

»So warte wenigstens, bis der Wirt wiederkommt.«

»Wozu?« lachte Mühler, »die paar Flaschen kann er mir zum Andenken aufschreiben, bis ich zurückkehre. Wirte vergessen einen so leicht, wenn man ihnen nicht ein kleines Andenken da läßt.«

»Das geschieht dem Lump recht,« lachte Tobias, »sonst aber,« setzte er, von einem plötzlichen Gedanken ergriffen, hinzu, »hätt'st du mir es vielleicht da lassen können, und ich hätt's ihm gegeben, wenn er wiederkam.«

»Wolltest du wirklich?« fragte Mühler und ein eigener, drolliger Zug zuckte ihm um die Mundwinkel. Wie sein Blick aber auf die Jammergestalt des vor ihm stehenden, zusammengebrochenen alten Säufers fiel, regte sich auch etwas wie Mitleiden in seinem Herzen. Leichtsinnige Menschen sind gewöhnlich gutmütig, und in einem eigenen Anfall von Großmut sagte er: »Na, meinetwegen, Tobias – ich will dir das Geld da lassen, gib es dem Wirt, wenn er kommt. Drei, vier Flaschen hatten wir ja wohl, die Flasche kostete 18 Schillinge, macht zusammen 1 Taler 24 Schillinge, da – da hast du's und – vergiß es nicht etwa…«

»I bewahre!« sagte Tobias, das Geld, ohne es zu überzählen, in die Westentasche schiebend, »und du kommst wirklich nicht wieder?«

»Wenigstens so bald nicht. Heut abend denk' ich noch bis Kerkhofen zu marschieren.«

»Dann darfst du dich auch nicht länger aufhalten,« sagte Tobias, der seine eigenen Gründe hatte, den Kameraden unterwegs zu wünschen, ehe der Wirt wiederkam.

»Darf ich nicht?« lachte Mühler, »aber ich glaube, du hast recht; es wird spät. So behüt' dich Gott, Alter, und trink mir nicht zu viel; es wär' schade, wenn wir dich verlieren sollten, denn eine solche natürlich rote Nase kommt nicht gleich wieder vor.«

»Ist mir auch sauer genug geworden,« meinte Tobias, »sie dahin zu bringen.«

»Kann ich mir denken – also nochmals adieu! komm, Hanswurst!« Und mit den Worten schüttelte er ihm die Hand, griff dann seinen Hut und sein Bündel auf und verließ, von seinem Spitz gefolgt, das Haus und das Dorf. Tobias begleitete ihn nicht. Es war noch ein Rest in der Flasche, den er erst vertilgen mußte, und dann gingen ihm auch eine Menge Dinge im Kopfe herum, die er vorher in aller Ruhe ordnen und sichten mußte; das Denken fing ihm doch an schwer zu werden. Wie er noch so da saß, kam der Wirt zurück.

»Nun,« sagte der, »wohin geht denn der Schwiegervater? Ich sah ihn von weitem, mit einem Bündel in der Hand, aus dem Dorf marschieren – weißt du's, Tobias?«

»Was geht mich der Mühler an?« murrte dieser, »ich bin sein Aufpasser nicht.«

Der Wirt ging zu seiner Frau ans Fenster, faßte sie an der Schulter und schrie ihr ins Ohr: »Hat der Mühler bezahlt?«

Die Frau schüttelte mit dem Kopfe, und der Wirt warf einen Blick nach Tobias und der jetzt leeren Flasche hinüber. Der aber regte sich nicht oder tat, als ob er nicht ein Wort von dem Gesprochenen gehört. Was ging ihn Mühler an? – Endlich stand er auf, nahm seinen alten Filzhut und sagte: »Was bin ich schuldig?«

»Schuldig?« fragte der Wirt, »wenn du alles zahlen wolltest, was du hier schuldig bist, so hättest du eine lange Rechnung und ich einen guten Tag. Heute habe ich dir von vornherein gesagt, daß ich dir die paar Glas Schnaps schenke, damit hört's aber jetzt auf, und von nun an wird dir hier im Stern nicht eher wieder ein Glas Branntwein hingestellt, als bis du das Geld auf den Tisch legst.«

»Ich will von Euch nichts geschenkt,« grollte finster der Alte, »und brauche nichts – vier Glas Branntwein habe ich gehabt, etwa so viel wenigstens. Da sind Eure paar lumpigen Schillinge« – und damit warf er die Münze auf den Tisch.

»Haha, hast du doch noch etwas in einer Taschenecke aufgehoben?« lachte der Wirt, »na, mir kann's recht sein; bei dem aber, was ich gesagt habe, bei dem bleibt's.«

»Will schon wieder Geld kriegen,« lachte der Alte tückisch vor sich hin. »Ich weiß, was ich weiß, und der Baron muß zahlen.«

»Der wird dich vom Hofe jagen, wenn du da 'nauf betteln gehst.«

»Betteln? habe noch in meinem Leben nicht gebettelt, und werd's auf meine alten Tage nicht anfangen. Was ich weiß, kauft er mir gern ab.«

»Was du weißt?« lachte der Wirt, »na, höre, Tobias, du machst deinem Schulmeister zu viel Komplimente. Ja, wenn der verantwortlich wäre für alles, was du nicht wüßtest!«

»Mein Schulmeister hat nichts damit zu tun,« murrte der alte Mann verdrießlich.

»Und wer sonst?«

»So fragt man die Narren aus,« erwiderte Tobias trocken, schlug sich seinen Hut noch einmal fest und verließ das Haus, die Straße nach dem Gute zu einschlagend.

19

Tobias hatte sich einen tollen Plan ausgedacht, der ihm aber ganz in seine verzweifelte Lage paßte, und mit einer Quantität Spirituosen im Kopfe war er auch gerade in der Stimmung, ihn auszuführen. Ob er sonst den Mut gehabt haben würde, dem seines ernsten Wesens wegen eher gefürchteten Gutsherrn auf die eigene Stube zu rücken, muß dahingestellt bleiben. Noch nicht mit sich im klaren, wie er das Wirtshaus verließ, verbiß er sich aber mehr und mehr in den einmal gefaßten Gedanken, und ohne daß er es selber merkte, verringerte er die Entfernung zwischen sich und dem Gute mit jedem Schritte.

Wäre er dem Verwalter oben begegnet, so würde ihn dieser, in dem Zustande, in dem er sich befand und der deutlich genug die in reichem Maße genossenen Getränke verriet, wohl kaum vorgelassen, sondern rundweg abgefertigt haben; denn Tobias war ein Mensch, mit dem man sowohl im Dorfe wie auf dem Gute wenig Umstände machte. So aber traf er nur einen der Knechte im Hofe, der ihn, da er nach dem Gutsherrn fragte und vorgab, er habe etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen, zu der Treppe brachte, die zu Georgs Zimmer führte. Dort ließ er ihn allein, und Tobias balancierte sich die breite steinerne Stiege – jetzt aber gar nicht mehr so behaglich und zuversichtlich wie unten in frischer Luft – hinauf. Er war jedoch einmal da, wie er sich wieder und wieder vorerzählte – umkehren half nichts mehr, und deshalb die Zähne fest aufeinander beißend, kletterte er die wenigen Stufen vollends hinan, hielt einen Augenblick an der Tür, um Atem zu schöpfen, und klopfte dann an.

»Herein!« tönte Georgs tiefe und ruhige Stimme, und Tobias wäre vielleicht in diesem Augenblick doch noch wieder umgekehrt, aber es war zu spät; seine Hand lag auf dem Drücker, und im nächsten Augenblick sah er sich dem Herrn selber gegenüber.

»Was wollt Ihr?« fragte ihn mit eben nicht freundlicher Stimme Georg, denn er sah mit einem Blick, in welchem Zustande sich der alte Trunkenbold befand.

»Guten Abend,« erwiderte Tobias vor allen Dingen auf die Anrede, nahm seinen Hut ab und drehte ihn zwischen den Händen.

»Guten Abend – was soll's?«

»Ich wollte nur…«

»Nun?«

»Ich wollte Sie nur bitten, Herr Baron,« stotterte der Alte.

»Tobias,« fertigte ihn da Georg ab, der ihn vom Dorfe her kannte, »Ihr seid heut wieder in einem Zustande, bei dem Ihr Euch viel lieber hättet zu Bette legen sollen, als zu mir heraufzukommen. Ueberdies hasse ich jede Bettelei, noch dazu von einem Burschen wie Ihr, an den jeder Schilling rettungslos weggeworfen wäre. – Marsch! packt Euch, und macht, daß Ihr nach Hause kommt. – Ihr riecht bis hierher nach Spirituosen. – Wird's bald, oder soll ich Euch fortschaffen lassen?«

Wäre Georg freundlich oder auch nur ernsthöflich mit ihm gewesen, Tobias hätte nie den Mut gehabt, ein Wort über die Lippen zu bringen. Die doppelten Vorwürfe des Trinkens und Bettelns aber stachelten ihm die verworrenen Geisteskräfte zum Widerstande auf, und seinen alten Hut in den Händen zusammenrollend, sagte er mit einem höhnischen Blick auf den Gutsherrn: »Halten zu Gnaden, Herr von Geyfeln – oder wie Sie sonst heißen mögen, was – ich trinke, bezahle ich, und das geht niemanden etwas an – und zum Betteln – bin ich ebenfalls – nicht hierher gekommen, daß Sie es nur wissen! – Im Gegenteil wollte ich Ihnen einen Gefallen tun – daß Sie wüßten, woran Sie – woran Sie wären, und nicht etwa dächten, wir wären alle so dumm und glaubten die Geschichte mit dem – Baron…«

Georg horchte hoch auf, denn die Worte des Trunkenen, mit wie schwerer Zunge er sie auch herausbrachte, verrieten mehr, als sie jetzt noch eingestehen mochten. »Was ist das, was aus dir spricht, mein Bursche?« sagte er deshalb ruhig, aber mit wirklich mühsamer Fassung, indem er auf ihn zuging, »was willst du von mir?«

»Aha!« lachte der Alte still vor sich hin, »werden wir zahm? Ja, ich hab' es mir wohl gedacht, mein Täubchen. Der alte Tobias ist auch nicht auf den Kopf gefallen, wie manche Leute ihn wohl gern wollten glauben machen – der Sternwirt zum Beispiel – und dieses Mal an die richtige Schmiede gegangen.«

»Was willst du von mir, und weshalb bist du heute hierher gekommen?« wiederholte Georg noch einmal seine Frage; denn ein dunkler Verdacht stieg über die Absicht des Trunkenen in ihm auf.

»Na?« sagte Tobias, der noch immer nicht trunken genug war, die veränderte Anrede unbemerkt zu lassen, »geduzt haben wir einander freilich noch nicht, so viel ich weiß, aber das schadet nichts – was nicht ist, kann noch werden, und der Mühler, der Schwiegervater, war auch ein sauberer Mensch und wir nannten uns doch du miteinander. Also, lieber Bruder, hahaha – lieber Bruder, ich wollte dir nur sagen, daß wir – ne, nicht wir – im Dorfe drunten sind zu dumm – die wissen noch nichts – aber daß ich, der alte Tobias, herausgekriegt habe, wer du eigentlich bist – weißt du wohl?« – Er versuchte dabei eine Art von Pantomime zu machen, wie er sie vielleicht einmal von Kunstreitern gesehen haben mochte, indem er sich auf das eine Bein balancierte und das andere aushob, den Kopf etwas auf die Seite neigte und seine beiden Arme, mit dem zerknitterten Hut in der einen, ausstreckte. Dieser gewagten Position war er aber doch in solchem Augenblick nicht gewachsen. Er verlor die Balance und wäre auf den Boden geschlagen, wenn er nicht noch glücklich die Tischecke erwischt hätte, um sich daran zu halten.

In Georgs Armen zuckte es, den frechen, widerlichen Burschen aus der Tür zu werfen, aber er bezwang sich trotzdem. Er wollte jetzt erst wissen, was er eigentlich im Schilde führe, und die Arme fest ineinander schlagend, wie um sie zu sichern, daß sie ihm nicht unwillkürlich vorgriffen, haftete nur sein düsterer Blick fest und verächtlich auf der vor ihm schwankenden schmutzigen Gestalt – dem Spottbild eines Menschen.

»Ha – hallo,« sagte Tobias dabei, indem er sich gewaltsam im Gleichgewicht zu halten suchte, »hoppa – beinahe wären wir gefallen – Boden ist hier verdammt uneben. – Ja – was ich gleich sagen wollte – Sehen Sie, Herr – Herr Baron oder Herr Berthold oder wie Sie sonst heißen – ja so – das wollte ich dir nur sagen – ich weiß die Geschichte; ich bin dahintergekommen, hinter den blauen Dunst. – Mir macht keiner ein X für ein U – aber ich kann auch's Maul halten – wie Bruder Mühler, der Schwiegervater, ganz richtig gesagt hat – ich kann, wenn ich eben will und – wenn's gut bezahlt wird. Verstehst du, Bruderherz?«

Georg brauchte nicht mehr zu wissen. Der alte Trunkenbold hatte ihm in wenigen Worten klar und deutlich gezeigt, daß Mühler ihm sein Geheimnis verraten und er jetzt in den Händen dieses liederlichen Menschen sei, der aus seiner Entdeckung den größten Nutzen zu ziehen suchte. Daß er sich aber mit einer solchen Kreatur nicht weiter einlassen konnte, mochten sich nun die Folgen stellen, wie sie wollten, fühlte er in dem Augenblick mehr, als er zu einem klaren Bewußtsein desselben gekommen wäre. Ohne deshalb ein weiteres Wort an ihn zu richten, öffnete er das Fenster und rief im Hofe zwei gerade dort beschäftigte Knechte an: »He, Hans – Gottlieb! kommt einmal herauf – rasch!«

»Hans? – Gottlieb?« wiederholte Tobias etwas erstaunt. »Hans – Gottlieb? – Wozu brauchen wir Hans und Gottlieb – he? – Wie ist es, Herr Baron oder Herr Berthold – hahaha, über die Namen alle wird man ordentlich konfus! – Ich kann das Maul halten, und will das Maul halten, aber« – und hier machte er mit freundlichem Grinsen eine Gebärde des Geldzählens – »hier müssen wir zusammenkommen, wenn ich nicht…«

Georg hörte die Leute auf der Treppe, riß die Tür auf und sagte: »Den Burschen da werft mir einmal aus dem Hofe hinaus und das jedesmal, so oft er sich hier sollte sehen lassen. Schickt mir dann den Verwalter und den Vogt herauf.«

»Na komm, Tobias,« sagte der eine der Knechte, den Alten ohne weitere Umstände beim Kragen nehmend, »es hilft dir nichts, weder Strampeln noch Wehren. Der Herr Baron hat's einmal gesagt.«

»So?« schrie Tobias, aus allen seinen Himmeln geträumter Schätze etwas unsanft geweckt und über dieses keineswegs erwartete Resultat zugleich erstaunt, »so? ist das eine Behandlung – Herr Baron – wissen Sie – wenn ich will – so kann ich…« Alle seine weiteren Reden und Drohungen wurden durch die beiden handfesten Burschen unterbrochen, von denen der eine, als sie sahen, daß er nicht gutwillig gehen wollte, ihn unter den Armen packte. Der andere hob ihm zu gleicher Zeit die Beine aus, und Tobias wurde, trotz seinem Grimm, der sich jetzt gegen die Knechte kehrte, ohne weiteres die Treppe hinunter, durch den Hof und bis vor das Tor getragen, wo ihn die Leute ruhig absetzten und laufen ließen. Zwar sprudelte er hier noch eine Menge Dinge von Baronen und Lumpen, Kunstreitern und »Geheimnissen« heraus, die Knechte verstanden aber kein Wort davon, ließen ihn stehen und gingen an ihre Arbeit zurück.

Tobias wütete, als er aber Miene machte, noch einmal in den Hof zurückzukehren, drohten ihm die beiden Burschen mit den Fäusten, und das Herz voll Ingrimm, aber doch zu feige, sich einer weiteren Handgreiflichkeit auszusetzen, drehte er sich endlich um und taumelte, rücksichtslos um Weg und Steg, gerade über Wiese und Felder weg, ins Tal hinab.

Zu derselben Zeit, in welcher Tobias jenen verunglückten Versuch machte, von Herrn von Geyfeln entweder eine Summe Geldes oder noch lieber eine fortlaufende Unterstützung zu erpressen, saß Josefine mit ihrer Erzieherin, fleißig mit Lesen und Arbeiten beschäftigt, in ihrem Stübchen.

Josefine war jetzt etwa acht Jahre alt und hier auf dem Gute, da sich die Mutter fast gar nicht oder doch nur sehr selten oder oberflächlich um sie kümmerte, einzig auf den Umgang mit der Erzieherin angewiesen. In dieser aber hatte Georg einen glücklichen Fund getan, denn die junge Dame besaß nicht allein sehr wackere Kenntnisse, sondern auch ein gutes, für alles Schöne und Edle empfängliches Herz. Praktisch dabei in allem, was sie anfaßte, und bescheiden und anspruchslos in ihrem ganzen Wesen, sicherte sie sich in ihrer schwierigen Stellung bald die Liebe des einen, sowie die Achtung des andern Teiles, und ging dazwischen ruhig ihre Bahn. Bald hatte Mademoiselle Adele auch den Charakter der Frau und Mutter durchschaut, mit der sie zusammen lebte, und Georgine besaß in der Tat keine Eigenschaften, die das stille, einfache Mädchen an sie hätten fesseln und zwischen beiden ein wirklich freundschaftliches Verhältnis entstehen lassen können. Vergnügungssüchtig und nur an sich selber denkend, fehlte Georginen jene ruhige Weiblichkeit, die da im Stillen wirkt und schafft, und selbst oft mit den bescheidensten Mitteln imstande ist, den Familienkreis zu einem Paradiese umzuschaffen. Wo aber hätte sie auch diese Eigenschaften sich erwerben, wo in ihrer ganzen früheren Lebensweise einen Sinn für Häuslichkeit gewinnen sollen? Ihre ganze Erziehung lag dem Begriffe zu fern, und wenn ihr auch in der ersten Zeit ihres Aufenthalts zu Schildheim manchmal dieses stille, zurückgezogene Leben nicht mehr in so dunklen Farben erschien und sie die Möglichkeit dachte, sich einst hineinzufinden, verdrängten die letzten Wochen doch jeden derartigen Gedanken wieder aus ihrem Herzen. Noch zu keiner Zeit hatte sie sich dabei, so sehr sie Josefinen liebte, mit deren Erziehung beschäftigen können und mögen. Sie wußte gar nicht, wie sie es anfangen müsse, und konnte und wollte sich keine Mühe in dieser Hinsicht geben. Im Zirkus, ja, dort hätte Josefine keine bessere Lehrmeisterin haben können, als eben ihre Mutter, aber hier, zwischen den Büchern und weiblichen Arbeiten, von denen allen sie wenig oder nichts verstand, fühlte sie sich fremd und überließ das bereitwillig und allein der Fremden.

Georg fand dieses Wesen seiner Gattin durch ihr früheres Leben, wenn auch nicht vollständig gerechtfertigt, doch wenigstens entschuldigt, und ertrug es eben um der Tochter willen; Mademoiselle Adele aber fühlte ihr Herz dadurch verletzt und wandte sich mit um so größerer Liebe dem jungen Mädchen zu, dem sie, wie sie recht gut einsah, die Mutter ersetzen mußte. Und das Kind selber kam ihr dabei mit vollem Herzen und inniger Liebe entgegen. Von früh an, ja, solange sie eigentlich denken konnte, an ein wildes, unstetes Leben gewöhnt, in dem sich das junge Herz nicht wohl fühlen, von rauhen Menschen umgeben, an die es sich nicht anschließen konnte, hatte es hier zum erstenmal eine Heimat und in seiner Erzieherin ein Wesen gefunden, das wirklich teil an ihm nahm und ihm mit mütterlicher Liebe ergeben war.

Wohl hatte es der kleinen Eitelkeit geschmeichelt, mit den mühsam erlernten Künsten im Zirkus draußen rauschenden Applaus einzuernten, aber mit heimlichem Neid sah Josefine dabei zugleich unter den geputzten Zuschauern die vielen anderen kleinen Mädchen, die von den Ihrigen gehegt und gepflegt und – nicht gezankt wurden, wenn sie eine Ungeschicklichkeit auf dem Pferde begangen. Das Kind auch fühlte, wenn es sich dessen selbst nicht klar bewußt wurde, ein Bedürfnis nach Pflege. Jene heilige Sympathie, die Mutter und Kind gegenseitig aneinander zieht, wenn sie auch in Georginens Herzen anderen, unheiligeren Empfindungen Raum geben mußte – war in Josefinens Brust ebensogut gepflanzt gewesen und nur die Zeit über verkümmert und niedergehalten worden. Jetzt aber, durch ihrer Erzieherin treue Pflege geweckt, entfaltete sie sich rasch und gewaltig, und bald hing das kleine Wesen mit unendlicher Liebe an der Pflegerin.

Georgine würde selber erschrocken sein, hätte sie einen Blick in dieses aufknospende Kinderherz tun können, in dem ihr Bild nicht mehr wie früher den vollen Raum erfüllte – aber sie hatte andere Dinge im Kopfe, als sich um die Einzelheiten, um die kleinlichen Anhängsel der Erziehung und Pflege ihrer Tochter zu kümmern. Daß sich diese täglich mehr heranbildete, sah sie wohl, und es erfüllte sie mit Freude; nur aber mit dem einen Ziel im Auge, Josefinen einst als einen Stern erster Größe an dem Himmel prangen zu sehen, der allein ihre eigene Welt bildete, dachte sie nicht daran, ob gerade die Nahrung, die das Kind jetzt für Herz und Geist empfing, ihm später dienlich werden könnte. Sie sah nur für sich und die Tochter die Lichtseite des Lebens, dem sie entgegenstrebte, und so blendete diese ihre Augen, daß sie für alles andere gleichgültig – blind wurde.

Mademoiselle Adele hatte indessen im steten Umgange mit Josefinen die Vergangenheit des Kindes kein Geheimnis bleiben können. Die unbewachte Aeußerung der Kleinen, als das Pferd durchging, entdeckte ihr auch nichts Neues, sondern bestätigte nur den schon früher gefaßten Verdacht. Aber nur noch inniger, wenn das überhaupt möglich gewesen wäre, fühlte sie sich dadurch zu dem Kinde hingezogen, dem sie solcher Art ein neues Leben verschaffen half; noch mehr aber wachte sie über all seine kleinen Unarten und Fehler, deren Quelle ihr kein Geheimnis mehr war, und die sie jetzt desto leichter beseitigen oder heben konnte, und dabei durften weder Josefine noch ihre Eltern ahnen, welchen tiefen Blick sie in ihre früheren Verhältnisse getan. Es war ihr genug, daß sie es wußte, dem Kinde zum Nutzen, und das Geheimnis ruhte sicher in ihrer Brust.

Josefine hatte zum Weihnachtsfeste unter anderen Sachen auch mehrere Jugendbücher bekommen, in denen kleine Erzählungen mit hübschen Bildern standen. Das junge Mädchen, das eigentlich hier erst ordentlich lesen gelernt – denn wo wäre ihm früher die Zeit dazu geworden? – verschlang gierig die frische Nahrung, die ihrem Geiste geboten wurde. Eine neue Welt erschloß sich ihr dadurch, und ihrer Erzieherin liebevolle Geduld gehörte dazu, ihr all die tausend und tausend an sie gerichteten Fragen zu beantworten. Eine kleine Erzählung stand aber in dem Buche, die Josefine wieder und wieder durchgelesen, und doch noch keine Frage deshalb an ihre Erzieherin gerichtet hatte. Dieselbe war überschrieben: »Das gestohlene Kind.« Josefine hatte das Buch vor sich auf den Knien und las darin, und zwar wieder und wieder die eine Seite, und Mademoiselle Adele, die lange schon, wenn auch von ihm unbemerkt, die Augen auf dem Kinde haften ließ, wußte, was es las und was seinem kleinen Kopfe nicht recht erklärlich werden sollte. Und dennoch fürchtete sich Josefine zu fragen, die Erzählung berührte für sie verbotenen Grund – ihr eigenes früheres Leben, und von dem gegen andere Leute zu sprechen, hatte ihr die Mutter verboten, und der Vater sie gebeten, es nicht zu tun, und des Vaters Bitte wog in ihrem kleinen Herz viel mehr noch selbst, als das Verbot. Ueber die Worte aber, die sie hier oft und immer wieder durchgelesen, schüttelte sie auch ebenso oft den Kopf. Es war ihr etwas darin nicht klar, aber Mademoiselle Adele – so lieb sie dieselbe hatte, konnte sie nicht darüber fragen – wenn sie einmal wieder mit dem Vater spazieren ginge, sollte der ihr Aufschluß darüber geben. Endlich riß sie sich von der sie fesselnden Seite los und schlug eine andere Erzählung auf.