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Buch lesen: «Der Kunstreiter, 2. Band», Seite 4

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17

Der letzte Abend war nicht allein oben im Gute, sondern auch in Schildheim ein sehr ereignisreicher gewesen, denn die Verheiratung von des Sternenwirts einziger Tochter, der hübschen Kathrine, bildete schon an und für sich eine Aera in dem sonstigen Stilleben des kleinen, abgeschiedenen Ortes. Der Sternenwirt hatte sich aber auch noch außerdem an dem Abend sehr splendid gezeigt, und der Tanz, neben anderen teils vorbereiteten, teils zufälligen Genüssen, bis nahe zum Morgengrauen gedauert; mit ihm natürlich das Zechen und Jubilieren.

Der alte Mühler wäre mit Karl gern ebenfalls an dem gestrigen Abend ins Dorf hinuntergegangen, nur der Vorfall des Morgens hielt ihn ab, denn er wußte recht gut, daß Georg nicht damit einverstanden war, und wollte ihn nicht noch böser machen. Auch Karl durfte nicht fort, und wenn etwas, so erbitterte das den jungen, bis dahin keines Zwanges gewohnten Burschen nur noch mehr. So saß er um elf Uhr mittags etwa – Georg war schon lange wieder auf das Gut zurückgekehrt und arbeitete auf seiner Stube – dem alten Onkel gegenüber, an dem auf den Hof hinausführenden Fenster, kaute an den Nägeln und baute und verwarf Plan nach Plan, um sich diesem, ihm unerträglich werdenden Leben zu entziehen. Da ertönte plötzlich unten auf dem Hofe lustige Musik – die Kirche war aus, und die Musikbande, die gestern abend im Stern aufgespielt, war hinauf auf's Gut gezogen, sich dort ein Trinkgeld zu verdienen. Mit ihnen aber – und Karl fuhr mit einem Freudenschrei von seinem Sitz empor – waren wunderlich und phantastisch gekleidete Gaukler gekommen, die in kurzen Jacken und eng anliegenden Trikots zum Takte der Musik auf dem Hofe und vor den Fenstern Georgs ihre Künste begannen. Einer hatte Stelzen an die Füße geschnallt, womit er zur Musik einen Walzer tanzte und andere Kapriolen ausführte; ein anderer überschlug sich und kugelte sich, Brust und Bauch nach außen, wie ein Ring zusammen, und der dritte lief an einer freistehenden kurzen Leiter hinauf, auf deren oberster Sprosse er dann mit großer Geschicklichkeit seine Künste ausführte.

»Bei Gott, Onkel!« rief Karl jubelnd aus, »da unten ist Müllheimer, Hentz und Bentling – komm rasch – Hentz macht sein Leiterkunststück – siehst du dort?«

»Alle Teufel!« murmelte der Alte in den Bart, »was wollen die denn hier, und wo kommen sie her? Ob sie wissen, daß Georg das Gut bewohnt?«

»Schwerlich,« lachte Karl, »sonst hätten sie wohl kaum ihre Kunststücke im Hofe gemacht, sondern wären gleich von vornherein heraufgekommen. Die werden Augen machen!«

»Was willst du tun?« rief der alte Mühler erschreckt, als Karl eben im Begriff war, das Fenster zu öffnen.

»Ich?« sagte der junge Bursche erstaunt, »sie anrufen natürlich; ich soll doch wohl meine alten Freunde und Kameraden bei euch hier nicht auch noch verleugnen und nicht mehr kennen dürfen?«

»Du bist rein verrückt!« rief der Alte, bestürzt dazwischen springend. »Na, das Donnerwetter und das Hallo von dem da drüben möcht' ich sehen, wenn der dazu käme. Wenn du nicht absolut willst, daß er uns beide noch heute am Tage zum Tempel hinausjagt, so geh' vom Fenster und tu gar nicht, als ob du die da unten siehst.«

Karl war leichenblaß vor verhaltenem Grimm geworden, aber er ließ es geschehen, daß ihn der Alte beim Handgelenk vom Fenster zog und das Rouleau herunterließ, jedes weitere Hinaussehen zu verhindern. Er selber blinzelte nur eben einmal hinter der Gardine vor, und sah gerade, wie der alte Verwalter auf die Leute zuging, ihnen ein Geldstück gab und sie vom Hofe schickte. Das Geschenk mußte auch ein ziemlich reichliches gewesen sein, denn die Gaukler schienen sehr erfreut. Desto weniger zufrieden waren aber die Leute vom Hofe damit, die sich schon um sie gedrängt hatten und ihnen jetzt, als sie den Hof verließen, meist in das Dorf hinab folgten, um dort vielleicht noch mehr von den fabelhaften Künsten zu sehen zu bekommen. Noch stand er am Fenster und sah ihnen nach, als die Tür aufging und Georg eintrat.

»Das ist recht, Mühler,« sagte er, als er die niedergelassene Gardine bemerkte. »Ich weiß nicht, durch welchen Zufall, aber einige unserer alten Bekannten haben, wahrscheinlich auf der Durchreise, ihren Weg bis zu uns hierher gefunden. Ihr seid, wie ich sehe, vernünftig genug, Euch fern von ihnen zu halten; überdies werden die Burschen Schildheim jedenfalls heute wieder verlassen. Ich brauche Euch also nicht weiter zu ermahnen, Euch heute lieber zu Hause zu halten, damit Ihr ihnen nicht etwa zufällig in den Weg liefet.«

»Denke gar nicht dran, auszugehen,« brummte Mühler, »und will selber mit ihnen nichts zu tun haben.«

»Ich habe es von Euch nicht anders erwartet,« sagte Georg, »und auf den jungen Burschen da werdet Ihr mir auch ein wachsames Auge haben. Ich hoffe, Karl, daß du verstanden hast, was ich eben sagte?«

»Ja,« erwiderte der junge Bursche, sich gleichgültig abdrehend, »wenn ich's nicht wieder vergesse.«

»Nicht wieder vergesse?« fragte Georg scharf, »ich ersuche dich, Geselle, dein Gedächtnis anzustrengen, oder du möchtest das nächste Mal nicht wieder so leicht davonkommen. Ich will, daß du es nicht vergißt, und das merke dir, Patron, sonst sprechen wir ein anderes Wort zusammen. Ich werde überhaupt – doch genug,« brach er kurz ab, »es wird keine weitere Mahnung nötig sein, denn du weißt selber am besten, Karl, was dir gut ist und was du von mir zu hoffen – oder zu fürchten hast.« Mit diesen Worten verließ er rasch das Zimmer.

»Verdammt, ob ich das nicht weiß,« fluchte der junge Bursche, als die Tür kaum hinter dem Forteilenden zugefallen war, »besser als du es vielleicht denkst, mein Herz, und daß ich es tun werde, darauf kannst du dich verlassen.«

»Karl,« warnte ihn der Alte, »sei vernünftig und mach' keine dummen Streiche. Georg läßt nicht mit sich spaßen.«

»Ob er's tut oder nicht, was kümmert's mich!« trotzte der Knabe. »Wenn du Lust hast, Onkel, seinen Knecht und gehorsamen Diener zu machen und dafür das Gnadenbrot zu nehmen, gut – du bist alt genug, um zu wissen, was dir zusagt, ich aber vertrage es nicht. Er hat gesagt, ich wisse, was mir gut sei, und ich will ihm dieses Mal wenigstens beweisen, daß er sich nicht geirrt.«

»Was hast du vor?« sagte der alte Mann besorgt, als Karl seine Mütze aufgriff, »du darfst nicht fort.«

»Darf ich nicht?« lachte der junge Bursche, der ihm unter den Händen fort und zur Tür glitt, »und wer will mich hindern?« und mit den Worten schon verschwand er im Gange draußen.

»Karl!« rief ihm der alte Mühler besorgt nach; Karl aber war nicht mehr zurückzurufen, und mit dem Gute und dessen Ausgängen genau bekannt, lief er in die untere Etage hinab, sprang von da in den Garten, um Georg in diesem Augenblick nicht zu begegnen, und gelangte ungesehen, wenigstens ungehindert, in das Dorf hinab. Dort brauchte er auch nicht lange nach seinen früheren Kameraden zu suchen. Ein Volkshaufe, der sich vor einem Bauernhause schreiend und lachend umher drängte, verriet ihm augenblicklich die Stelle, wo die drei »Künstler« eine rohe Schar von Zuschauern entzückten und unterhielten, hätte selbst nicht Hentz schon wieder auf der Spitze der Leiter, den Kopf nach unten, die Beine in die Luft gestreckt, hoch über die ihn umgebenden Dörfler hinausgeragt.

Karl hatte auch vom Fenster aus ganz recht gesehen. Es waren in der Tat jene drei jungen Burschen, die früher zu ihrer Gesellschaft gehörten und bei der Auflösung derselben brotlos in die Welt geworfen wurden. Wie sie indessen ihr Leben gefristet, zeigte sich deutlich in dem gegenwärtigen Possenspiel auf offener Straße, und Karl schämte sich fast, sie hier vor allen Leuten anzureden. Aber sprechen wollte und mußte er mit ihnen – er wußte überdies, daß die Mittagszeit sie zwingen würde, ihre Künste einzustellen, denn hier und da entfernten sich schon einzelne der bisherigen Zuschauer, um ihren eigenen Wohnungen und gedeckten Tischen zuzueilen. Karl hatte sich darin auch nicht geirrt. Die Glocke des kleinen Kirchturmes hob kaum aus, ihre zwölf Mal anzuschlagen, als die Zuschauer, die bis jetzt einen festen Ring um das Künstlertrifolium geschlossen, nach allen Richtungen hin auseinander stoben, und ohne daß einer von ihnen daran gedacht hätte, die doch jedenfalls ebenso hungrigen Equilibristen einzuladen, ja, ohne selbst das geringste für den gehabten Genuß zu zahlen, waren sie im nächsten Augenblick spurlos verschwunden.

»Alle Teufel!« rief der eine von ihnen, Hentz, der diesen plötzlichen Rückzug aus der verkehrten Vogelperspektive von der Leiter aus mit angesehen, indem er mit einem geschickten Satz herunter und auf die Füße kam, »wie die Canaillen laufen, und du, Müllheimer, läßt sie auch fort, ohne einzusammeln!«

»Da sammle du einmal,« brummte der Angeredete, »wenn bei derartigem Gesindel, noch dazu an einem Sonntag, die Freßglocke schlägt! Aber nach Tische will ich sie schon wieder zusammenkriegen, und dann sollen sie doppelt dafür bluten. – Wetter – wer ist denn das, der da drüben steht? – das Gesicht kommt mir sehr bekannt vor.«

»He, Roter, wie geht's?«

»Charles! bei allen sieben Todsünden!« rief der bei seinem Spottnamen Angeredete erstaunt aus, »alle Hagel, Junge, wo kommst du auf einmal wie aus den Wolken hergeschneit?«

»Davon nachher,« sagte Karl, dem nicht daran lag, hier auf der Straße ein langes Gespräch mit ihnen anzuknüpfen. »Kommt ins Wirtshaus nach – ich werde dort für euch etwas zu essen bestellen« – und ohne eine Antwort abzuwarten, bog er in die nach dem Stern führende Gasse ein und überließ es seinen früheren Gefährten, ihm, der willkommenen Einladung nach, so rasch mit ihren verschiedenen Utensilien zu folgen, wie sie eben konnten.

Es war dreiviertel auf ein Uhr – pünktlich um ein Uhr wurde Sonntags auf dem Gute gegessen – als Karl, ebenso heimlich, wie er sich entfernt durch das in den Garten führende Saalfenster mit Hilfe einer in der Nähe lehnenden Stange zurückstieg und seines Onkels Zimmer betrat.

»Na, da ist er – gottlob!« sagte dieser. »Ich fürchtete wahrhaftig, er hätte dumme Streiche gemacht. Es ist gleich eins, Junge.«

Karls Blick haftete auf Georginen, die in der Mitte der Stube, die rechte Hand auf den Tisch gestützt, stand, und starr vor sich niedersah, ohne von dem Eintretenden die geringste Notiz zu nehmen.

»Ja, Onkel,« erwiderte Karl ruhig, ohne den Blick von der Frau zu wenden, »und wahrscheinlich auch das letzte Mal, daß ich es hier werde eins schlagen hören.«

»Bist du toll?« rief Mühler erschreckt, und Georgine sah rasch und forschend zu ihm auf. Karl aber, ohne sich im geringsten irre machen zu lassen, entgegnete: »Nichts weniger als das, Onkel; ich habe im Gegenteil heute, wie ich glaube, meinen Verstand erst wiedergefunden und bin nicht gesonnen, mich hier länger knechten und mißhandeln zu lassen, nur um zu leben, wie es einem dritten gefällt, während ich draußen mein eigener freier Herr sein kann. Die Kameraden gehen nach Altona, wo sich ein neuer Zirkus unter dem berühmten Royazet etabliert hat. Royazet zahlt brillante Gagen, und wenn Georgine mit Josefinen bei dem einträte, könnten sie…«

»Royazet?« unterbrach ihn Georgine emporfahrend, und tiefes Rot färbte in diesem Augenblick ihre Wangen, »weißt du das gewiß?«

»Gewiß,« erwiderte Karl bestimmt, »Müllheimer, Hentz und Bentling sind eben dorthin unterwegs. Royazet hat sich mit dem größten Teil seiner früheren Gesellschaft veruneinigt oder sonst Schwierigkeiten mit ihnen gehabt, denn sie sind ihm fast alle von London aus nach Australien durchgegangen. Hier allerdings bekommen wir nichts zu hören noch zu sehen, draußen aber hat's in allen Zeitungen gestanden, daß er eine neue Gesellschaft gründen will, um mit ihr nach Rußland zu gehen, und deshalb alle namhaften Künstler auffordert, sich an ihn zu wenden.«

»Aber ich habe keine einzig solche Aufforderung in den Zeitungen gelesen,« sagte Georgine.

»Das glaube ich,« sagte Karl erbittert, »wer liest sie zuerst? Georg, und was wir nicht wissen sollen, das weiß er gut genug zu unterschlagen. Erst vorgestern kam ich gerade dazu, wie er die neue Zeitung in den Ofen steckte, und meinen Kopf setze ich zum Pfande, daß in der die nämliche Aufforderung stand.«

»Von Royazet will er überhaupt nichts wissen,« meinte Mühler nachdenklich, »und du kennst den Grund gut genug, Georgine, denn er ist eifersüchtig wie der Teufel auf ihn. Aber wenn er wirklich die Zeitung verbrannt hätte, hat er doch nur recht damit gehabt. Was nützt uns hier, zu wissen, daß sie da draußen in der Welt noch lustige Streiche treiben! Wir haben nichts mehr damit zu tun.«

»Meinst du, Onkel?« rief Karl, »wenn du wirklich eine solche Schlafmütze geworden bist, dich ruhig unter dem Daumen halten zu lassen…«

»Junge,« lachte der Alte, »ich bitte mir mehr Respekt aus…«

»So magst du es tun,« fuhr jedoch Karl unbekümmert fort.

»Er hat recht,« fuhr Georgine dazwischen, »wenn ich so wenig hätte, was mich hier bindet, wie er, nicht drei Tage würde ich den Zwang ertragen haben.«

»Den Henker auch,« sagte knurrend der Alte, »er hat seine ganze Familie hier, und wenn ihn die nicht bindet, was sonst?«

»Wenn die von der Familie, an denen mir etwas liegt, gescheit sind,« entgegnete Karl, »so machen sie es gerade so wie ich und lassen den alten Brummbär seine Felder allein düngen. Zum Henker, wenn Georgine zu Royazet käme, der stellte sich auf den Kopf vor lauter Freude, und auf den Händen würde sie dort getragen, von den Leuten wie vom Publikum.«

»Na ja, setz' du ihr nur auch noch solche Dinge in den Kopf,« schalt der Alte, »weiter hat gar nichts mehr gefehlt! Das braucht's auch eben noch, sie über die Stränge schlagen zu machen – und sie weiß, daß sie nicht darf.«

»Ich kann nicht fort,« erwiderte auch Georgine düster vor sich niederblickend, »er gibt mir mein Kind nicht, und ohne Josefinen geh' ich keinen Schritt.«

»So nimm dir's,« trotzte der junge Bursche. »Was will er machen, wenn wir heute abend unsere Sachen heimlich zusammenpacken und am nächsten Morgen über alle Berge sind?«

»Bah, du sprichst, wie du's verstehst,« sagte der Alte, »du könntest vielleicht weglaufen, und ich glaube nicht einmal, daß es Georgs Herz brechen würde, aber die Frau und das Kind – in zwei Stunden hätt' er sie wieder, und nachher…«

Die Augen der Frau leuchteten von einem unheimlichen Glanze, aber sie sagte kein Wort. Karl dagegen lachte: »Aber mein armer Kandidat – dem breche ich das Herz gewiß. Wen hat er nun morgen, den er quälen und drangsalieren kann? Und die lateinische Grammatik nehme ich zum Andenken mit.«

»Red' nicht so tolles Zeug, Karl!« ermahnte der Alte, »du sprichst wahrhaftig, als ob du ganz im Ernste an solche Torheit dächtest.«

»Tu' ich wirklich?« spottete ihm Karl nach, »gut, dann komm doch morgen früh an mein Bett, Onkel, und weck' mich – willst du?«

»Da schlägt's eins,« rief Mühler, der froh schien, dieses Gespräch abbrechen zu können. »Wir müssen hinüber. Georg ist Sonntags immer auf die Minute bei Tische.«

»Dann dürfen wir natürlich als gehorsame Diener unseres Herrn nicht säumen,« spottete Karl.

»Höre, mein Bursche,« sagte der Alte ernsthaft, indem er sich zum Gehen rüstete, »sei nicht übermütig! Wenn ich die Beine unter eines andern Tisch stecke, muß ich auch tun, wie der andere mich heißt – so lange ich nämlich keinen eigenen habe.«

»Und siehst du, das ist der Haken!« rief Karl, »denn ich habe von nächster Woche an einen eigenen, und will dann nur abwarten, wie lange du dich hier wirst füttern lassen. Royazet hat gar keinen eigenen Klown mehr. Sie sind ihm alle davongelaufen, und wenn er schon in Frankreich enorme Gagen zahlte, kannst du dir denken, daß er in Rußland nicht weniger zahlen wird. Jetzt weißt du, was dir zu wissen not tut, und nun mach', was du willst; ich rede kein Wort weiter drum.«

Mühler, der den trotzköpfigen, unbändigen Charakter des Knaben nur zu gut kannte und schon oft darunter gelitten hatte, schritt mürrisch den Gang entlang, dem Eßzimmer zu. Georgine aber, Karls Arm ergreifend, hielt ihn noch einige Sekunden zurück, bis ihr Vater so weit voran war, sie nicht mehr hören zu können, dann flüsterte sie rasch:

»Schreib mir von dort, Karl, willst du?«

»Gewiß will ich, und ausführlich.«

»Gut, ich werde dir nach Tische einen Zettel geben, auf dem eine Anzahl Fragen stehen. Schreib mir die Antwort darauf – aber vergiß keine und – laß mich nicht lange warten.«

»Und du willst kommen?« fragte der junge Bursche mit glänzenden Augen. »Du weißt am besten, wie sich Royazet darüber freuen würde.«

»Ich kann nichts Bestimmtes sagen. – Wir müssen auch fort. Georg darf nicht ahnen, daß ich mit dir darüber gesprochen.«

»Hab' keine Furcht,« lachte Karl, »wir beide stehen auf keinem solchen Fuße miteinander, daß wir uns unsere Geheimnisse anvertrauen, und ich besorge es dir – darauf kannst du dich verlassen.«

»Ich danke dir – ich werde nachher wieder herüberkommen und dir Reisegeld bringen – du mußt wenigstens einen Zehrpfennig haben, daß du nicht als Bettler dort ankommst.«

»Desto besser,« lachte der Knabe still vor sich hin, »aber auch ohne einen Schilling in der Tasche hätt' ich meinen Plan durchgeführt.«

Georgine antwortete ihm nichts darauf, sondern eilte dem Vater nach, die streng gehaltene Essensstunde nicht zu versäumen. Karl folgte ihr langsamer. Was lag ihm daran, wenn er auch zu spät kam und Georg böse darüber wurde – es war das letzte Mal heute, und wenn er sich über ihn ärgerte, desto besser!

18

Der alte Mühler suchte an dem Nachmittag noch durch alle seine Ueberredungskünste dem Knaben den Entschluß des Fortlaufens auszureden, aber vergeblich. Karl, mit dem neuen, freien Leben vor sich, und des Zwanges, dem er sich hier hätte fügen müssen, lange müde, beharrte nicht allein fest auf seinem einmal gefaßten Vorsatze, sondern überredete sogar den Alten, daß er ihn bis nach Schildheim hinter begleitete, um dort selber seine neugefundenen Freunde zu treffen. Das mußte natürlich heimlich geschehen; der Präzeptor störte sie dabei nicht, da dieser die Sonntagnachmittage gern zu seinen Studien benutzte und Karl dann immer auf seines Onkeln Stube war. Ueberdies konnte die Zusammenkunft nur eine kurze sein, denn mit der Dämmerung machten sich die »Künstler« schon wieder auf den Weg, um im nächsten Dorfe zu übernachten und den andern Morgen rechtzeitig die nächste Bahnstation zu erreichen. Georg erfuhr Karls Flucht auch erst am andern Morgen, und zwar durch den Hauslehrer, der seinen Zögling vergebens zur Stundenzeit erwartete und ihn dann ebenfalls ohne Erfolg bei seinem Onkel suchte. Der alte Mühler machte sich nun allerdings darauf gefaßt, eine heftige Szene mit seinem Schwiegersohne bestehen zu müssen, denn daß er um Karls Flucht gewußt, lag auf der Hand. Sehr erstaunt und nicht unangenehm überrascht war er aber sowohl wie Georgine, daß Georg keine Silbe davon erwähnte. Dieser ritt allerdings, gleich nachdem er die Nachricht erhalten, fort und kehrte erst gegen Abend zurück – war er ihm gefolgt, in der Absicht, ihn wieder einzufangen? Wenn das der Fall gewesen, sprach er mit niemandem darüber, und selbst beim Abendessen erwähnte er des Flüchtlings mit keiner Silbe. Georgine glaubte nicht mit Unrecht, daß er selber froh war, den lästig werdenden Knaben, ohne eigenes Zutun, aus seiner Nähe entfernt zu wissen.

So vergingen die nächsten Wochen. Der Kandidat, dessen Zögling auf so seltsame Weise abhanden gekommen, war entlassen worden, und das Leben auf dem Gute ging wieder im alten, stillen Gleise. Allerdings suchte jetzt Georg seine Frau in mancher Weise zu zerstreuen und führte sie wieder mehr als im letzten Monat auf die benachbarten Güter, deren Insassen auch Schildheim manchmal aufsuchten – aber Georgine fand keine Freude mehr daran. Die alte Sehnsucht war in ihr erwacht; es drängte sie jetzt mehr, allein und ungestört zu sein, um ihre eigenen Pläne und Träume zu überdenken, als sich durch fremde, gleichgültige und ihr oft langweilige Menschen zerstreuen zu lassen, und während Georg dieses Zurückziehen von der Gesellschaft mit Freuden sah und zu seinen Gunsten deutete, brütete der Geist der Frau über Trennung – Flucht von ihm.

Nicht so bald hatte der alte Mühler den Knaben vergessen, an den er sich einmal gewöhnt – an dem sein Herz hing. Er fehlte ihm auf Schritt und Tritt – Tag und Nacht mußte er an ihn denken, und um die Zeit zu töten, mit der er jetzt weniger anzufangen wußte als je, ging er nun häufiger in den »Stern« hinunter, in des alten Tobias' Gesellschaft, seine eigenen mürrischen Gedanken zu vergessen.

Georg mußte das endlich bemerken, und, um ihn davon abzuziehen, suchte er den Alten im Gute selber zu beschäftigen. Er wollte ihn nach und nach an eine geregelte Tätigkeit gewöhnen – aber das ging nicht mehr. Mühler hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie nützlich beschäftigt, und dachte gar nicht daran, auf seine alten Tage etwas derartiges zu beginnen. War er dem nun früher so viel als möglich ausgewichen, so kam es ihm jetzt, mit den Gedanken an den entlaufenen Neffen und das lustige Leben, in dem dieser schwelgte, doppelt zuwider vor. Alles ihm Aufgetragene führte er deshalb nachlässig oder gar nicht aus, und der Heftigkeit Georgs begegnete er mit einer störrischen Gleichgültigkeit, die eben alles über sich ergehen ließ. Nach vierzehn Tagen aber hielt er selbst das nicht mehr aus. Es war ein Brief von Karl gekommen, und Georgine hatte ihm den Inhalt desselben mitgeteilt. Die Versprechungen von dort lauteten dabei so verlockend, daß er ihnen, mit der Sehnsucht nach dem Jungen, nicht länger widerstehen konnte, und er beschloß, einen entschiedenen Schritt zu tun.

Das bequeme, bis dahin geführte Leben hatte aber doch auch zu viel Anziehendes für ihn gehabt, es so ohne weiteres, besonders ohne Sicherheit, was er dafür eintausche, von der Hand zu weisen – eine Hintertür beschloß er sich jedenfalls offen zu halten, noch dazu, da ihm das zugleich Gelegenheit bot, sich auf friedlichere Weise von Georg zu trennen. Schnell deshalb mit seinem Plane im reinen, ging er noch an dem nämlichen Abend zu seinem Schwiegersohne und erklärte ihm, daß ihn die Angst um den Neffen nicht ruhen noch rasten lasse und er ihn um die Erlaubnis bitte, einen Versuch zu machen, ihn wieder aufzufinden. Er verlangte nur vierzehn Tage Zeit dazu, und habe er ihn bis dahin nicht gefunden, so wolle er ohne ihn zurückkehren.

Georg war klug genug, den Alten zu durchschauen, denn daß dieser den Aufenthalt des Burschen oder doch wenigstens wußte, wohin er sich damals gewandt, blieb gewiß. Wollte er ganz fort von ihm? – hatte er im Sinne nicht zurückzukehren? – Vielleicht – er selber aber hätte Gott gedankt, den lästigen, fatalen Menschen auf solche Weise loszuwerden; durfte er dann doch weit eher auf ein friedlich häusliches Leben rechnen, und wurde noch dazu der steten Angst und Gefahr enthoben, durch ihn seine eigene Existenz gefährdet zu sehen. Nur daß Georgine bei der Flucht des Vetters sowohl wie bei der jetzt erklärten Abreise des Vaters so ruhig und teilnahmlos blieb, war ihm rätselhaft.

Trieb den alten Mann wirklich nur die Sehnsucht nach dem Knaben, an dem er, wie Georg recht gut wußte, mit ganzem Herzen hing – und wollte er in der Tat ihn zurückholen? Oder fühlte Georgine jetzt selber, daß ihr Vater den alten Possenreißer nicht vergessen, sich nun einmal in seinen Jahren nicht mehr ändern könnte? Fühlte sie, daß es zu ihrem und ihres Gatten Wohl und Frieden sei, wenn er sie verlasse? O, dann hätte er dieses endliche Erkennen ihrer Pflichten, zu ihres und ihres Kindes Bestem, von ganzem Herzen segnen wollen.

Dem alten Manne gab er natürlich mit Freuden die Erlaubnis zur Reise, wie Geld, sie zu bestreiten, aber vergebens suchte er Georginen, als Mühler sie verlassen hatte, zu einem offenen Geständnis ihrer Gefühle zu bringen. Georgine gab ihm nur ausweichende, ja, fast leichtfertige Antworten, und hatte es ihn gedrängt, sein übervolles Herz einmal gegen sie offen ausschütten zu dürfen, so stieß sie ihn jetzt mehr zurück, als daß sie ihn ermutigt hätte. Er konnte freilich nicht ahnen, daß der alte böse Geist aufs neue Besitz von der ehrgeizigen Seele der Frau genommen hatte und sie in ihm, dem Gatten, nur noch den Tyrannen sah, der ihrem wie ihres Kindes Glück aus elendem Stolz im Wege stand.

Georg war, das sah sie klar, seit jener Zusammenkunft mit dem Grafen ein durchaus anderer geworden. Wo war der todesverachtende Mut geblieben, mit dem er sich früher den verwegensten Künsten entgegenwarf? wo die frische, fröhliche Lebenslust, die ihn den Augenblick genießen ließ, eben des Augenblicks wegen, und nicht der nächsten Stunden gedachte, viel weniger der nächsten Jahre? So hatte sie ihn kennen gelernt, so geliebt, und jetzt? – Sie haßte die Bücher, über denen er halbe Tage grübelte, sie haßte die friedliche Beschäftigung, in der er seinen Frieden fand, und mit keinem solchen Ziele vor sich, wie er, in diesem Leben ein verlorenes Glück wiederzugewinnen, zürnte ihr Herz im Gegenteil über das, was er ihr geraubt, und sann und sann darauf, es mit Gewalt oder mit List sich wieder zu erobern. Aber sie war klug genug, den Gatten gerade das, was jetzt ihre ganze Seele erfüllte, nicht ahnen zu lassen. Sie kannte den unbeugsamen, starren Geist des Mannes; hier aber erst hatte sie dessen Einfluß fühlen gelernt; denn so lange ihre Bahnen draußen in Licht und Jubel nebeneinander hinflogen, war er ihr nimmer störend in den Weg getreten. Jetzt dagegen, wo sie ihm gehorchen sollte, sie, die bis dahin nur gewohnt gewesen, zu befehlen, empörte sich ihr ganzes Selbst gegen einen solchen Zwang, und kein Wunder, daß sie den Augenblick herbeisehnte, in dem sie sich und ihr Kind demselben entziehen konnte.

Der alte Mühler war indessen, nachdem er Abschied von Georginen genommen und von ihr heimlich mehrere Briefe erhalten hatte, mit seinem treuen Begleiter, dem Spitz, nach Schildheim hinunter gegangen. Georg erbot sich zwar, ihn bis zur nächsten Eisenbahnstation fahren zu lassen, aber er lehnte es ab, und zwar unter dem Vorwande, daß er noch gar nicht genau wisse, nach welcher Richtung er sich wenden solle. In der Tat aber wollte er Georg keine Kontrolle geben, wohin er gefahren sei; der Kutscher konnte ihn, wie er recht gut wußte, nicht leiden, und würde jedenfalls an der Station aufgepaßt haben, wohin er sein Billett genommen.

Gepäck führte er übrigens fast gar keins bei sich, sondern hatte das Nötige deshalb schon mit Georginen besprochen. Georg war oft auf halbe Tage abwesend, und es fand sich dann leicht eine Gelegenheit, seine sämtlichen Sachen nachzuschicken.

Mühler nun, seit langer Zeit zum erstenmal wieder mit einer Summe Geldes in der Tasche, und mit voller Freiheit, jeden beliebigen Gebrauch davon zu machen, konnte sich nicht entschließen, trockenen Mundes am »Stern« vorüberzugehen. Fand er niemanden weiter dort, so war er doch sicher, »den faulen Tobias« anzutreffen, und seinen Abschiedstrunk nahm er dann mit dem.

Der faule Tobias saß auch wirklich, nach alter Gewohnheit, dicht neben dem Ofen hinter einem der kleinen schweren Tische, ein Glas Branntwein vor sich, und zwar nicht das erste. Das spirituöse Getränk schien aber keineswegs heute den sonst so belebenden Eindruck auf ihn gemacht zu haben, und während sich sein faltiges und etwas schmutziges Gesicht immer aufhellte, wenn er seinen »Freund« Mühler entdeckte, und nun sicher war, ein paar Stunden angenehm mit erzählten Schnurren und Anekdoten zu verbringen, zogen sich heute seine Augenbrauen womöglich noch finsterer zusammen. Nur die geballte Faust, die er auf dem Tische liegen hatte, nahm er herunter und steckte sie, geballt wie sie war, in die Tasche, als ob sein Grimm und Aerger niemandem weiter gehöre als ihm selber, und er auch wisse, wo er ihn hintun könne.

Mühler merkte auf den ersten Blick, daß mit dem alten Burschen etwas nicht richtig sei, und da ihm besonders heute gar nichts daran lag, einen mürrischen, verdrossenen Trinkgenossen zu haben, setzte er sich hinüber zu ihm auf die Bank, warf seinen Hut und das kleine Bündel, das er in der Hand trug, hinter sich und sagte, während sein Spitz auf einem Stuhl neben ihm ganz ernsthaft Platz nahm: »Wirt, eine Flasche Wein, aber von Eurem besten – nicht etwa den Rachenreißer wieder, den Ihr mir das letzte Mal gegeben.«

Tobias warf ihm einen etwas erstaunten Seitenblick zu und rückte ein wenig bei, um ihm mehr Raum zu geben, schien aber trotzdem entschlossen, in seinem Schweigen zu verharren, und erwiderte nicht einmal den guten Tag, den ihm jener bot.

»Na zum Teufel,« sagte Mühler, »was steckt dir denn in der Krone, he? Hast du die verkehrte Maulsperre, Kamerad, oder kennst du mich nicht mehr? Du schneidest ein Gesicht heut, als ob dir das Wasser ausgeblieben wäre und du jetzt mit Schnaps mahlen müßtest, um das alte Räderwerk im Gange zu halten.«

»Ist ihm auch was Aehnliches passiert, Herr Mühler,« nahm da, für Tobias, ein alter Bauer, der unfern von ihrem Tische hinter einem Kruge Bier saß, die Antwort auf, »das Wasser zum Mahlen ist ihm freilich ausgeblieben – nur mit dem Schnaps wird's etwas dünn aussehen. Es bleibt ihm schon nichts anderes übrig, wie eine Windmühle anzulegen.«

»Auch kein schlechtes Geschäft, Kamerad,« lachte Mühler, von dem gebrachten Wein den Stöpsel ziehend, »he, noch ein Glas, Herr Wirt! – Sind famose Dinger, diese Windmühlen, in denen einem früh die Morgensonne und nachmittags die Abendsonne in dasselbe Fenster scheint.«

»Du weißt den Henker davon,« fuhr Tobias mit einem tückischen Blick den alten Bauer an. »Wenn ich Schnaps brauche, werde ich ihn auch bekommen. Du Hungerleider gibst mir doch keinen.«

»Nein, Tobias, da hast du recht,« lachte der Alte gutmütig, »das wäre auch dreimal weggeworfenes Geld, und hättest du nicht so viel von dem bösen Stoff getrunken, sähe es jetzt auch besser mit dir aus.«

»Aber was ist denn vorgefallen?« rief Mühler erstaunt.

»Nichts, als was wir alle lange vorhergesehen haben,« sagte der Bauer. »Sein Geld, das ihm gehörte, hat der Tobias durchgebracht, und wenn der Müller drunten auch genötigt ist, ihn bis an seinen Tod zu füttern, so hat er sich doch geweigert, ihm von heute ab einen Pfennig weiter zu geben, sein liederliches Leben zu unterstützen.«