Der Anfang vom Ende der Ewigkeit.

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Der Anfang vom Ende der Ewigkeit.
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Buchbeschreibung:

Ein Mann steht kurz davor aufzugeben. Sein Leben ist gescheitert. Früher war er ein bekannter Polizeireporter in Stuttgart. Jetzt schlägt er sich als Privatdetektiv mehr schlecht als recht durch. Seine große Liebe starb bei einem schrecklichen Unfall auf der Schwäbischen Alb. Ausgerechnet dort soll er einen seltsamen Entführungsfall aufklären und muss sich dabei seinem schlimmsten Albtraum stellen. Motiv und Konflikte der dargestellten Personen sowie die Erzählweise unterscheiden das Buch von üblichen Heimatkrimis.

Über den Autor:

Der Autor ist 58 Jahre alt, gebürtiger Unterfranke und lebt seit fast 30 Jahren im Schwabenland. Er liebt Reisen, Wein und Küche, ist Autor von Reiseführern (Historische Gast-Häuser Baden-Württemberg) und Weinkochbüchern (Winzerküche Baden, Winzerküche Württemberg, Winzerküche Franken). Der Rundfunkjournalist, Moderator und Reporter schreibt und spielt Theater seit der Schulzeit. Und er dankt seiner Frau und seiner Familie für die Motivation bei allen seinen Projekten.

Der Anfang vom Ende der Ewigkeit.

Eine erotisch-kulinarische Heimatkrimisatire

Von Gerhard D. Wulf

Gerhard D. Wulf

Schilfweg 5

70599 Stuttgart

Annidivini

gdwulf@annidivini.com

www.annidivini.com

Erklärung: „Bei diesem Werk handelt es sich um einen Roman. Die dargestellten Personen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten oder Namensgleichheit mit real existierenden Menschen wären rein zufällig. Alle beschriebenen Handlungen sind zwar an die Realität angelehnt, beziehen sich aber nicht auf konkrete Begebenheiten. Auch hier wären alle Ähnlichkeiten rein zufällig. Wegen expliziter Sprache, Darstellung von Sex und Gewalt ist das Buch für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet. Die Gefahren ungeschützten Geschlechtsverkehrs setzt der Autor als hinlänglich bekannt voraus.“

Bevor wir jetzt endlich starten, sei noch ein Hinweis an die Leserinnen und Leser gestattet: Dieser Roman ist nicht linear erzählt, die Handlung springt aus der Vergangenheit in die Zukunft und zurück, verweilt natürlich auch in der flüchtigen Gegenwart und darüber hinaus blicken wir auch noch in die bewussten und unbewussten Gedankenströme der Protagonisten, teilen Erinnerungen, die wie Flashbacks auftauchen und erleben seltsame Tagträume, haben Visionen von Glück und Schrecken.

Es ist also fast wie im richtigen Leben ... Wenn es dem Autor für das Verständnis nötig erscheint, gibt er zu Beginn eines neuen Gedankensprungs einen Hinweis, wohin die Reise geht ...

15. Juni 2040. 17:00 Uhr. Alles läuft normal. Das Schiff schießt mit konstanter Geschwindigkeit auf vorberechneter Bahn in Richtung Mars. Die Humanoiden an Bord schlafen. In exakt 30 Tagen und 12 Stunden reaktiviert die irdische Kommandozentrale ihr Bewusstsein. Spezielle Programme trainieren in den folgenden Wochen Stoffwechsel und Muskulatur für die Herausforderungen des roten Planeten. Die Terraform-Spezialisten sollen sofort nach der Landung mit der Bildung einer erdähnlichen Atmosphäre beginnen.

Im Gepäck primitive Bakterienstämme und Samen anspruchsloser Pflanzen, Technik zur Schaffung von Energie, Sauerstoff und Wasser und Androiden für verschiedene Zwecke. Nahrung nicht zu vergessen. Seit 2021 bauten Roboter an der Station, die zur Keimzelle für den Neustart der Menschheit werden muss. Natürlich nicht für alle. Nur für eine Auswahl der Besten der Besten.

Zurück aus der Zukunft in der Gegenwart ...

Könnte Hochreiter Karin ermordet haben oder hatte er einen gemeinsamen Selbstmord geplant? Wollte sie ihn nicht verlassen wegen eines oder einer anderen? Erinnert er sich wieder an den Streit im Restaurant, der auf der Rückfahrt damals vor sieben Jahren eskalierte?

Hatte er, also Alexander Hochreiter, jemanden beauftragt, Karin zu ermorden? Will er jetzt die letzten Spuren beseitigen, Mitwisser aus dem Weg schaffen? Was bedeuteten die täglichen Zwiegespräche mit der Toten, die Erinnerungen an die Grotte, ihre „Lustgrotte“, die sie fanden dort oben am Albtrauf, davor die Lichtung mit dem Opferaltar der Kelten, umringt von Eichen, die blutigen Rituale jener vergangenen Zeiten, mit langen Messern an Seilen schwingend das Opfer zerschneidend ... Heute der Platz für okkulte Treffen, schwarze Messen und Sexorgien, der Schädel in der Höhle, der Schmuckstein im Schneidezahn ...

1000 Meter Luftlinie von der Stuttgarter Hochhaussiedlung Asemwald sitzen Tag für Tag die Spezialisten des Africa-Command in den Kelley-Barracks vor ihren Flachbildschirmen und steuern zur Verteidigung der freien Welt die Raketen der Predatordrohnen über Somalia und Afghanistan surrend ins Ziel: Terroristen, Hochzeitsgesellschaften, Krankenhäuser, Schulen ... Nach Schichtende setzen sie sich in ihre Dodge-Pick-ups, BMW- oder Volvo-SUVs und fahren beschallt von Bruce Springsteen heim zur Familie in Degerloch, Möhringen, Birkach oder Plieningen.

Sieben Jahre zuvor ...

Als der Eber seine Hauer in den Hals von Karin schlug, stürzte Alex` Bewusstsein durch ein Zeitloch zurück auf den alten Bauernhof zu Beginn der 60 iger Jahre des letzten Jahrtausends. Er war sechs Jahre alt. Ein kalter Novembermorgen graute. Rauchiger Nebel aus Wassertröpfchen vermischt mit dem Ruß von schwelendem Holz- und Kohlenbrikettbrand hing über dem Dorf. Hähne krähten heiser und aus dem halbverfallenen Stall seines Heimathofes drang der Schrei eines Wesens, das spürte, dass ihm Furchtbares bevorstand. Den Atem nehmender Ammoniakdampf stieg aus dem Dunghaufen. Der große Schäferhund zog knurrend die rostigen rasselnden Ketten durch die schmutzigen Pfützen. Das schwarzgelbe Fell gesträubt, die riesigen gelbschwarzen Zähne gefletscht, wich er winselnd und mit eingeklemmtem Schwanz zurück vor dem alten Herrn des Hofes, der mit dem furchtbaren Hakenstock bewaffnet in den Pferch humpelte, sein im Krieg lahm geschossenes rechtes Bein nachziehend. Das lange Jahre ungeölte Eisen des Riegels schrie lauter noch als das todgeweihte Tier dahinter.

Das Schwein war endlich rund und fett und seine letzte Stunde nun gekommen. Seit Tagen hing ein Hanfstrick vorne rechts und einer hinten links an den Füßen. Gestern Abend hatte der Bauer das Tier am Gatter fixiert nach dem Füttern, während es friedlich im Funzellicht der schwachen, von Fliegendreck bedeckten Glühbirne verdaute. Alex hatte es gefüttert, wie immer durch all die Monate, von dem Tag an, als es als kleines Ferkelchen auf den Hof kam und immer so fröhlich quiekte, wenn er kam mit den Kartoffelschalen und dem Abfall vom Kohl und manchmal mit einer der Großmutter aus dem Vorrat stibitzten Möhre und es freute sich jedes Mal und diesmal zum letzten Mal, sein letztes Mahl, denn die Oma hatte zu den Küchenabfällen sogar noch ein paar gekochte Kartoffeln in die Schüssel gelegt, als ob es ein Feiertag wäre, aber sie hatten ihm, dem Alex nichts gesagt, er ahnte nicht, dass er damit seinem Schweinchen die Henkersmahlzeit servierte.

Seit dem kargen Frühstück, einem „Caro-Kaffee“ zu altbackenen Brot mit Butter und schwarzem Johannisbeergelee war er wie in einer Schockstarre nach den knappen Worten des Bauern „Hait werd gschlacht!“. Und er sah gebannt mit weit aufgerissenen Augen voller Angst und Neugier und Abscheu und Faszination dem unaufhaltsamen uhrwerkhaften Ablauf des Geschehens zu. Jetzt gerade zerrte sein Großvater das Tier ohne Rücksicht aus dem Pferch. Hinten schob und trat der fremde Mann mit der von schwarz getrocknetem Blut gefleckten Lederschürze. Eine alte Wehrmachtskoppel hielt diese über dem dicken Bauch fest. Die silberfarbene Schließe mit dem Hakenkreuz, darüber in Frakturschrift „Gott mit uns“. Daran mit Schlaufen befestigt mehrere Scheiden, in denen die verschieden großen scharfen Messer und der Wetzstahl steckten.

Im Hof, vor der Scheune der Waschtrog schon gefüllt mit heißem Wasser, weiße Schwaden in den fahlen Himmel schickend. Das Schwein schrie jetzt so gellend, dass der Junge sich die Ohren zuhielt. Es bockte und zappelte mit aller Kraft, aber dann war es in Position, Schussposition. Der Metzger setzte den kalten Stahl mit der gespannten Feder auf die Stirn des Tiers und ließ die Sicherung los. Die Ladung explodierte und trieb mit 200 Kilometern pro Stunde den Bolzen ins Ziel. Er durchschlug die Stirnplatte und bohrte sich sieben Zentimeter tief ins Fronthirn. Dann ging alles wie im Zeitraffer: Kehle durchschneiden, Ausbluten lassen, das Blut im Eimer auffangen, das Blut gleich rühren, damit es nicht gerinnt, das machte der totenbleiche Alex, der rote warme Saft wird ja für die Blutwurst gebraucht. Die Männer arbeiten routiniert weiter: Haut abbrühen, die Borsten von der Schwarte schaben, der erste Schnaps der Metzger an diesem Morgen, den Kadaver am Scheunentor hochziehen, kreuzigen, zerteilen, die Gedärme herausholen ... Warum musste er in diesem Moment an den Nachbarsbauern denken, der jeden Morgen auf dem Weg zurück vom Hühnerverschlag ein Ei mit seinem Taschenmesser köpfte, den rohen Glibber ausschlürfte wie eine Auster und die Schale im Gehen über die Schulter auf den Misthaufen warf? ...

Wir bleiben im Kopf von Alex, machen aber einen Sprung in die Gegenwart ...

Alexander Hochreiter sinnierte mit zunehmendem Alter immer öfter über die sogenannte Schöpfung: Vishnus Nabel, aus dem eine Lotosblume entspringt, auf der Brahma sitzt. Ein Bild voller Wunder, was ist daraus geworden? Ein Glasmurmelspiel von ernstgesichtigen Kindern im weißen Kittel. Die Suche nach dem Ursprung des Universums im Ring des Höllenfeuers tief unter der Schweiz. Mit einem Fingerschnipsen öffnen sie die Büchse der Pandora, erschaffen die Bestie: Ein schwarzes Loch mit unstillbarem Hunger verschlingt die Welt ...

 

Ist unser Universum vielleicht nicht mehr als ein einziges Atom, treibend im Urmeer eines Planeten innerhalb dessen Heimat-Universums, wiederum winziger Baustein eines weiteren Weltalls? Die Puppe in der Puppe in der Puppe in der Puppe? ...

Der Urknall die Folge der ersten Atomspaltung? Warum nicht, Hochreiter hielt alles für möglich. Das Uratom unseres Universumslevels zertrümmert schon einmal von spielenden Kindern im weißen Kittel, auseinandertriftend in überkosmischer Zeitlupe, alles wiederholt sich, Zeit spielt keine Rolle. Raumzeit. Lichtzeit. Nichtzeit. Zeitlosigkeit. Die kleine Keule Nemesis wartet da draußen, holt Anlauf. Griechische Göttin des gerechten Zorns und der Vergeltung. Millionen Jahre braucht die fiese Zwergin für ihre Reise um die Sonne, erschütterte schon einmal den blauen Planeten. Schubste den großen Brocken an, der die Drachen auf Erden erschlug. Wir sollten ihr dankbar sein ... und ihre Rückkehr fürchten.

Oder einfach warten. Auf den nächsten Urknall, wenn sich unser Universum wieder zusammenzieht auf den kleinsten Punkt, alle Masse ein Nichts wird und dann wieder auseinanderfliegt und dann wieder sich zusammenzieht und dann wieder ... oder es dehnt sich weiter und weiter und weiter aus, bis es unendlich verdünnt wie homöopatische Lösungen einen neuen Impuls aus dem Jenseits hinter einer übergelagerten Membran anzieht, streng osmotisch ohne Plan und von dort die Zündung eines neuen Urknalls startet.

Passiert wohl ungefähr alle 20 Milliarden Jahre. Haben Wissenschaftler genau berechnet. Hatte Hochreiter bei Professor Fesch im Fernsehen gelernt. Vorher aber geht unserer Sonne das Licht aus in 4 Milliarden Jahren, bis dahin sollte die Menschheit in diesem oder einem anderen Universum einen anderen Lebensplatz gefunden haben für die nächsten 15 Milliarden mal 365 Tage. Aber wer glaubt schon daran, dass wir es bis dahin überhaupt schaffen? Hochreiter jedenfalls nicht. Sicherer war für ihn die Selbstauslöschung in absehbarer Zeit, wenn die unerträglichen Folgen der Zerstörung und Umwandlung von Planet Blau zu Planet Grau die globalen Selbstmörder auf den Knopf drücken lassen.

Die Geschichte menschlichen Lebens auf der Erde war nicht mehr als eine buntschillernde Schliere auf einer Seifenblase, die eine Millisekunde davor war zu zerplatzen. Die Menschen hatten versäumt, sich einen Sinn zu suchen jenseits von Macht und Bedeutung. Und Reichtum. Geboren aus der Gier nach mehr und immer mehr. Durchgesetzt mit brutaler Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Nach mir die Sintflut, jeder ist sich selbst der Nächste.

Ein Programmierfehler von Mutter Natur. Fressen oder gefressen werden. Religionen konnten und wollten daran nichts ändern. Sie wurden, davon war Hochreiter überzeugt, ja erfunden, um Macht über Menschen auszuüben, um Profit und immer mehr Profit zu erwirtschaften. Die angeblich so menschenfreundlichen Programmteile im Islam, Juden und Christentum unter dem Motto Nächstenliebe waren nur dazu da, von der wahren Herrschaftsfunktion der Lehre abzulenken. Gottesfurcht als Vehikel für den Erhalt von Machtsystemen. Die Sehnsucht der Menschen nach einer Antwort auf die Frage ihrer Existenz missbraucht, um sie zu knechten. Manipulierte Gefolgsleute, die Ideologien folgen, die die Welt zerstören.

Politische Rattenfänger haben das gut durchschaut und mit beängstigendem Erfolg kopiert. Die faschistischen, sozialistischen und kommunistischen Ersatzreligionen versprachen Erlösung und Heil. Das Resultat war wieder Versklavung und millionenfacher Mord. Das Ende der Staatsreligionen im Westen nach der Aufklärung, der Monarchien nach den Revolutionen, der furchtbaren Staatsutopien im Osten, führten für Hochreiters kleinen Verstand geradewegs in die Sackgasse des puren materialistischen Kapitalismus. Befreit von jedem Sinn, außer dem, mehr zu haben, und immer noch mehr, noch größer, noch schneller, noch teurer aller Endlichkeit der Ressourcen zum Trotz taumelt das Raumschiff Erde mit seiner irre gewordenen Besatzung in den Abgrund. Dem allgewaltigen Gott des Wachstums huldigend.

Das Floß der Medusa treibt verloren im All. Die letzten Vorräte sind aufgebraucht. Kein Wasser zum Trinken, keine Nahrung zum Essen, keine Luft zum Atmen.

Hochreiter war mit seinem Latein am Ende. Welche Philosophie könnte den Wahnsinn beenden? Wie könnte der Mensch sich umprogrammieren, die eingebaute Selbstzerstörung außer Betrieb nehmen? Die Besinnung auf die wirklichen Werte des Lebens und die Schönheit des Seins trotz der Endlichkeit, das wäre ein Ansatz. Im Zen-Buddhismus wären wohl Ansätze und Wege dahin zu finden. Hochreiter hatte sich damit länger beschäftigt, als eine Freundin sich völlig ekstatisch in asiatischer Esoterik erging.

Meditationen über das jetzt und hier, das Werden und Vergehen, das Sein und das Nichts und die Erkenntnis, dass der Sinn des Lebens die Suche nach ihm ist und also für jeden in nichts anderem besteht, als für sich einen Sinn zu suchen, der außerhalb materieller Dinge liegt. Das alles war einmal sein Hobby. Es war im ein Fest, zu erkennen, dass wir nichts als kurzzeitig belebter Sternenstaub sind, tanzende Moleküle auf der Reise in die Unendlichkeit, Eintagsfliegen mit dem Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit. Unglücklich, verzweifelt und trotzdem voller Freude, weil sie gerade deswegen ihre Existenz genießen und das Gück finden, wenn auch die anderen im Frieden mit sich sind.

Stimme aus dem Off: Black Zombies. Der Strand von Jamaika. Stell dir vor, Du liegst in einem fernen Land am Strand im weißen Sand. Die Sonne wärmt dir angenehm die nackte Haut, ein leichter Wind kühlt genau richtig. In der Nase hast du den Duft des Meeres, der Mutter allen Lebens und du spürst, hörst das ewige Rollen der Wellen wie den Rhythmus des Schaukelns einer Babywiege und du wirst schläfrig und fängst an zu träumen ... Echsenhaut, faltige alte graue Echsenhaut liegt und sitzt in der Sonne, wärmt sich, wartet. Wartet aufs Mittagessen, träumt vom Dessert, zum Nachtisch den hengstschwänzigen Masseur oder die prallbusige, feuchtlippige Masseuse im Schatten der Palmen. Maden? Bald werden Maden sie verspeisen. Hochreiter träumt. Träumt vom Meer, von Lippen die nach Meer und mehr schmecken, den zahnlosen Lippen, den dreifaltigen Lippen. Das A und O, Alpha und Omega, Anfang und Ende, hinten und vorne, unten und oben, A&O, anal und oral ...

Afrika, das Floß der Medusa

Verlassen vom Mutterschiff Europa

Die Taue gekappt

Kinder, Krieger, Kannibalen ...

Gegenwart, beziehungsweise jüngste Vergangenheit, aber immer noch in Hochreiters Kopf:

Hochreiter erinnert sich an die Rede eines Flüchtlings aus dem Senegal, Gast der Talkshow zum Thema „Heimat“ vor zwei Wochen im großen Sendestudio des Südfunks in Stuttgart. Letham Tobe o´ Notobe hieß er, seltsamer Name ... und noch seltsamer war das, was er sprach:

„Ich bin der letzte meines Stammes, ausgesandt das Glück zu finden an den Gestaden Europas.

Seht hin: Die Welt ist aus den Fugen. Schwarze Männer fallen gefroren vom Himmel, Frauen und Kinder treiben aufgedunsen und angefressen an Eure Badestrände, hängen zerschnitten an Stacheldrahtzäunen, fallen erstickt und verwest aus Containern, ihr Leichensaft düngt Eure Erde. Ihr Fleisch füttert die Fische des Mittelmeeres.

Tote Boten des verlorenen Kontinents. Afrika. Aaafriiikaaa ... Welch ein schöner Name für einen von Maden zerfressenen Kadaver. Afrika, mein Bruder, das klingt doch nach dem verführerischen Lächeln einer jungen Schönen mit blitzend weißen Zähnen im ebenholzschwarzen Gesicht. Die Augen schwarz und feurig rot im Weiß wie glühende Kohle.

Seht die lockend wippenden straffen Brüste, greift nach dem prallen festen Po, riecht an der moschusduftenden Möse, reibt eure Finger durch die glitschig feuchte Furche, hört das geile Lachen spürt das scharfe Keuchen der Lust an eurem Ohr, lauscht den treibenden Trommeln und stoßt ihre Löcher im Takt oder, Schwester und Brüder, lasst Euch in Eure Löcher stoßen von ebenholzfarbenen steinharten armdicken Riesenschwänzen ...

Erregende Bilder für euch frustrierte Europäer, Männer wie Frauen waren schon immer geil auf schwarzes Fleisch. Das macht Euch schon seit Kolonial- und Sklavenzeiten scharf. Auf diese Phantasien konntet ihr jahrhundertelang wichsen und spritzen, euch fingern und in Orgasmen versinken. Ich bin schwarz, ich weiß es.

Aber Afrika ist nicht mehr die Schöne. Sie ist die Geschändete, Zerstörte, Geächtete. Seit vielen hundert Jahren. Ausgebeutet von Euch, den bleichen und gelben Kindeskinderkindern der Kinder, die dereinst aus ihrem Schoß gekrochen. Der Pesthauch der Verwesung liegt über dem Land wie über einer stinkend zerfließenden Leiche in der Hitze des Sommers.

Gegriffen, vergewaltigt und ausgeraubt von Generationen von Eroberern. Mit dem Kreuz des Schwertes oder unter dem Zeichen der scharfen Mondsichel bekehrt zum richtigen Glauben und dann in ihrem Elend alleine liegengelassen. Kein Wasser zum Trinken, kein Brot zum Essen, kein sicherer Hort, nirgendwo.

Getrieben von korrupten Häuptlingen, schlachten sich unsere Stämme gegenseitig ab. Sichern Claims für Eure Konzerne. Seltene Metalle für die Smartphones eurer Kinder. Blutige Diamanten für die Hälse eurer Frauen. Stoßzähne aussterbender Riesen für eure schlappen Schwänze. Unser Lohn der unmenschlichen Fron in den Minen sind Staublungen und Krebs.

Wer es kann, versucht zu fliehen. Unser Traum vom besseren Leben im gelobten Land aber endet in der Hölle des Todes an den fleischzerfetzenden, atemerstickenden, menschenfressenden Grenzen Europas. Doch einer Sache seid gewiss: Wenn wir nicht leben dürfen in eurem Paradies, dann machen wir es Euch zur Hölle!“ ...

Immer noch Gegenwart, aber weit weg vom Geschehen hier:

Das donnernde Echo der Stille dröhnt durch das finstere kalte All. Von da draußen sieht alles friedlich aus. Ein Kiesweg mitten im dunklen Nichts. Vereinzelt kleine Spiralmuster. Nicht vom Rechen eines japanischen Gärtners gezogen. Nicht ganz so perfekt.

Manche der runden Steine bewegen sich wie von selbst, ziehen still ihre endlosen Kreise um eine unbewegliche gleißend leuchtende Riesenkugel. Eine der kleinen Murmeln ist rot. Eine Gelbe schwingt Hula-Hoop-Reifen. Eine ist blau und weiß und grün und braun.

Wasser bedeckt drei Viertel ihrer Oberfläche. Darunter Leben und Tod. Ammoniten. Parasiten. Gemeinsam im Urmeer treibend. Füreinander geschaffen. Die winzigen Würmer fressen Löcher in die Schalentierhirne, Bruthöhlen für ihre Eier. Die wehrlosen Wirte sterben und sinken hinab in den Schlamm. Nahrung für die Nachkommen der Löcherfresser.

In Hundert Millionen Jahren versteinert. Emporgehoben durch den Tanz der Kontinente auf dem flüssigen Erdkern. Zerbrechliche Fundstücke aus Blätterteigschiefer für staunende Kinder an einem heißen Sonntagnachmittag im Steinbruch am Fuße der Alb ...

Ein immer wiederkehrender Albtraum Hochreiters: Ströme von Blut schossen die Felsen von Bad Urach herab, Blut statt Wasser färbte die Felsen.

Samstag, 21. Juni 2008

Und da kamen auch schon die ersten Besucher. Fliegende Smaragde. Die blau glänzende Calliphora vicina und die goldengrüne Lucilia. Wunderschöne Namen für widerwärtige Schmeißfliegen, fleißige Profiteure des Todes. Zuerst nur vereinzelt, angelockt vom unwiderstehlich herbsüßen Duft, mit fettem Surren eifrig suchend nach geeigneten Stellen. Sie mussten ihre Eier legen. Auf und in seine Frau. Den verwesenden Leichnam als Substrat für die Maden und Larven nutzen, sinnvolle Verwendung sich zersetzender organischer Substanzen. Simples Programm primitiver Zweiflügler.

Effiziente Lebewesen, deren Urahnen schon Dinosaurier auf deren letzten Weg begleiteten. Hochreiter konnte sie nicht daran hindern, sie nicht einmal mit der Hand verscheuchen. Karins Augen, groß und grün, aber starr und glanzlos. Die zum Schrei geöffneten karminrot geschminkten Lippen, der schöne Mund, ohne Atem. Pforten für die Resteverwerter. Die metallisch schillernden Insekten prüften mit ihrem Leckrüssel sorgfältig schleckend den Untergrund. Setzten dann mit dem Hinterleib präzise und akkurat die Eistifte zu Päckchen gebündelt nebeneinander ab. Wie außerirdische Roboter, seelenlose Maschinen, hungrige Nachkommen im Akkord auswerfend. Keine Moral, kein Mitleid. Wozu auch?

 

Hochreiter wusste nur zu gut, wie es weiterging. Er hatte zu viele Jahre als Polizeireporter Leichen in sein Gedächtnis gebrannt. Noch warme und schon völlig vermoderte Exemplare und alle Stadien dazwischen. Ihren grauenvollen Anblick, ihren ekelerregenden Gestank. Er wollte es nicht sehen, durfte es nicht, versuchte vergeblich, den Kopf auf die andere Seite zu drehen. Ein langgezogener klagender Schrei, wie von einem waidwunden Tier kam aus der Kehle. Er hatte keine Kraft mehr. Wimmernd schloss er die Augen. Aber er musste ihn immer noch hören, den sonoren Gesang der geflügelten Besucher, der Boten des Jenseits. Ein irgendwie zufriedenes und beruhigendes Brummen und Summen, wie wenn eine Mutter ihr Kind in den Schlaf wiegt, mal höher, mal tiefer in der Tonlage:

„wirnehmendichmit...kommdochmitunsss... wirnehmendichmit... kommdochmitunsss... wirnehmendichmit... kommdochmitunsss... wirnehmendichmit...“ Er verlor wieder das Bewusstsein.

Erst kamen die Füchse, dann die Raben, dann der Keiler, aber die allerersten waren immer die Fliegen ...

Es gab in jenem Jahr besonders viele von ihnen. Der milde Winter und das feuchtwarme Frühjahr erschufen einen furchtbar fruchtbaren Fliegensommer. Letzten Samstag an der Wimsener Höhle mussten sie ihnen ihre frisch aus der träge vorbeifließenden Zwiefalter Aach gefangenen Forellen „Müllerin Art“ überlassen. Wie Miniatur-Krähen fielen sie urplötzlich in schwarzen Schwärmen über die Teller her und ließen sich nur kurz durch eifrig und zunehmend verzweifelt wedelnde Hände vertreiben. Hochreiters Weinglas mit dem schönen Weißburgunder fiel um und flutete Porzellan und Speise. Karin lachte noch amüsiert: „Jawohl, Alex, Fisch muss schwimmen, Prost!“

Alles Bemühen war vergeblich. Nach einer niedrig geflogenen Fluchtrunde um den Tisch saßen sie wieder summend auf dem weißen Fleisch, schlürften den leckeren eiweißhaltigen Saft. Putzten sich von Kopf bis Hinterteil, richteten satt und zufrieden die Flügel. Vor einer halben Stunde noch schnappte der jetzt filetierte Räuber aus dem Wasser nach ihnen. Rache der Verfolgten an ihren ewigen Jägern, Mahnung an die Menschen: Auch Euch kriegen wir! Ihr wähnt Euch am Ende der Nahrungskette, doch die ist vom grausamen Schicksal des Lebens zu einem Ringe geschmiedet ...

Es war widerlich. Wer weiß, wo sie herkamen, worauf sie gesessen, in was sie ihre Beine, ihre Rüssel getaucht hatten ... Hochreiter warf angeekelt die Serviette wie ein Leichentuch über das Schlachtfeld aus Haut, Fleisch, Gräten und den wie blöde glotzenden milchig erblindeten Augen.

Hochreiter verbringt nach dem Unfall ein Jahr in der Psychiatrie. Trifft dort auf einen in Afghanistan traumatisierten Soldaten, der jetzt wieder als Schmied arbeitet und Nazi geworden ist. Wir werden ihm noch begegnen. Wieland nennt er sich jetzt ...

Sieben Jahre später. Zurück in der Gegenwart. Sonntag, 15. Juli, vier Uhr, eine Wiese auf der Schwäbischen Alb.

Ein kalter Morgen. Feucht war das Gras. Nicht vom Frühtau nach einer lauen Sommernacht. Am Abend hatte es mit leichtem Nieseln begonnen und der Himmel wollte mit seinem Tröpfeln nicht enden, als ob er inkontinent sei. Es regnete bis zur Dämmerung. Über den Wiesen lagen fette Nebelschwaden. Die Luft roch erdig schwer schon nach Herbst. Ein widerliches Wetter, viel zu kühl und viel zu nass. Klimawandel? Eher wohl Richtung Eiszeit. Von Erwärmung nichts zu spüren, im Gegenteil. So beschissen waren die Sommer doch früher nicht.

Hinter dem Festzelt hing einer über einem Bierfass, streckte den Lederhosenhintern Richtung Himmel und horchte mit dem linken Ohr in den Matsch. Einsam lag der Trachtenträger auf dem Platz. Nur ein paar Schnecken nutzten die für sie idealen Witterungsverhältnisse. Von der Wiese glitt ein besonders großes Exemplar geradewegs über die bleiche Wange zum geöffneten Mund des leblosen Mannes im Morast. Die Fühler der prächtigen Alb-Weinbergschnecke berührten vorsichtig die Lippen dessen, der hier wenige Stunden zuvor mit Tausenden Fans ein Fest gefeiert hatte: „Star-Gast aus Stuttgart“, „Kochgenie und Showmaster“, „Freund und Förderer der Schwäbischen Alb“! Das hatten sie geschrieben in den regionalen Zeitungen und gejubelt in Radio und Fernsehen.

Dort war er unter der Woche täglich mit seiner krawalligen Castingshow „DESUDESUKO - Deutschland sucht den Superkoch“ zu sehen. In der Sendung führten sie im Studio die Hobbyköche vor. Mittwochs jedoch mischte er mit einer Truppe ziegenbärtiger TV-Kochkollegenclowns draußen im Ländle die angeblichen Profis auf. Ein mattschwarz und grellgelb wie ein Feuersalamander lackierter amerikanischer Militär-SUV der Marke „Hummer“ war prächtige Requisite einer Doku-Küchensoap namens „jahammersbald?“. Der unglaublich wortspielige Titel war dem zuständigen Redakteur der Sendung tatsächlich auf der Toilette vors geistige Auge getreten. Unangemeldet fuhren die „Goaties“ mit der Protzprollkiste bei Restaurants vor, stürmten wie ein SEK-Kommando hinein, witzelten über die ländlich erbärmliche Einrichtung und die Deko auf den Tischen und bestellten munter die Karte rauf und runter. Mit Sonderwünschen natürlich: Statt der Spätzle Bratkartoffeln, die Soße ohne Zwiebeln, aber mit Knoblauch, das Fleisch medium bis blue ...

Der Kochstar und seine Meute schnappten sich dann die Teller, polterten in die Küche und machten die zitternden Wirte dann vor laufenden Kameras unter höhnischem Gelächter, Gewieher und Gemecker der spitzbärtigen Kochkumpel fertig. „Ich hab´ dzschon lang´ nach Dzschuhdzsohlen gedzsucht, die ewig halten, dadzs hier könnte die Lödzsung dzsein!“, prustete er mit viel Speicheleinsatz. Ja, so liebte ihn sein Publikum: Schlagfertig, zynisch und mit kräftigen Worten, war er das „enfant terrible“ der TV-Koch-Szene.

Bei öffentlichen Auftritten sah er aus und führte sich auf wie ein fettes Rumpelstilzchen auf Ecstasy: Die Glatze kombinierte er mit Chinesenzopf und kinnlangen dünn rasierten Koteletten, Kaiser-Wilhelm-Schnauzer und brustlangem Flecht-Goatie. An den Armen und an anderen Stellen trug er triviale Tribal-Tatoos. Die Nerdbrille mit Lupengläsern ließ ihn wie eine Eule glotzen. Um den speckig glänzenden Kahlschädel war ein pinkfarbenes Piratentuch gewunden. Über den dicken Bauch hing ein grellbuntes Hawaiihemd und an den Stampferbeinen spannten schockfarbene Glanz-Bermudas. Wegen des erbsengroßen Zungenpiercings lispelte er schwerstens.

Oft verfiel er zusätzlich in den polternden Dialekt des Alb-Dorfes, aus dem er stammte - zum Beispiel „ottrrr waatdsz moint Irr“- und dessen Festplatz er momentan mit reichlich derangierter Anwesenheit zierte: : Martin Bachel, 165 cm klein, mindestens 95 Kilo schwer, 45 Jahre alt, gelernter Koch und bekannter Fernsehstar.

Er nannte sich „Martäh Baschäll“, so stellte er sich zumindest anderen vor, wegen der großen gallischen Sternekoch-Vorbilder, der Liebe zur französischen Küche und weil es ihm und seiner Person „angemessen“ klang.

Um seine Vorstellung eines frankophilen Meisterkochs zu vervollständigen, sprach er ohne Punkt und Komma näselnd und rasend schnell in einer Art Singsang. Seine Gestik und Mimik setzte er dabei übertrieben unterstützend ein. Die Augen aufgerissen rollend formte er mit den Händen abstrakte Luftgemälde und hüpfte von Herd zu Herd wie eine Mischung aus Gummiball und Zappelphilipp. Zappelig war er schon als Kind.