Fleischbrücke

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Fleischbrücke
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Autor Gerd Hans Schmidt, 1960 geborener echter Franke, ist seit 1995 Rechtsanwalt in eigener Kanzlei. Er wohnt und arbeitet bei Erlangen. Die kreative Seite trat schon während des Studiums der Rechtswissenschaften in Erlangen zu Tage. Das trockene Studium lockerte er nebenbei mit semiprofessioneller Musik (Neue Deutsche Welle) auf und er arbeitete 1988/89 kurz für eine lokale Zeitung als Redakteur. Es gab eine ganze Reihe rechtlicher Publikationen in lokalen Blättern und zu Anfang der beruflichen Tätigkeit eine kleine Radiosendung bei einem Lokalsender. Seit 2011 macht der Autor als »HansBass« auch wieder Rockmusik in einer Band. Die Idee für den ersten Roman »Mord in der Harrer-Klinik« ergab sich während eines Klinikaufenthaltes. Die Geschichte des zweiten Krimis »Zuckerrübenmord« führt in die Welt der Politik mit ihren Schattenseiten wie Betrug und Korruption. Beide Krimis sind ebenfalls im Engelsdorfer Verlag Leipzig erschienen.

Gerd Hans Schmidt

FLEISCHBRÜCKE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit real lebenden Personen wäre

daher zufällig und unbeabsichtigt.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Umschlaggestaltung: Gerd Hans Schmidt

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1 – Blutrot

Kapitel 2 – Jungblut

Kapitel 3 – Schwindel

Kapitel 4 – Seelenkunde

Kapitel 5 – Kneipengauner

Kapitel 6 – Suppenliebe

Kapitel 7 – Entsetzen

Kapitel 8 – Magnetbruch

Kapitel 9 – Irreführung

Kapitel 10 – Geständnis

Kapitel 11 – Erkenntnisse

Kapitel 12 – Erlösung

Kapitel 13 – Märchenstund

Kapitel 14 – Fangschuss

Kapitel 15 – Strafe

Kapitel 1 – Blutrot

Der 29. Mai im Jahr 2015 fällt auf einen herrlichen Tag mit Sonnenschein und an die 30 Grad im Schatten. Über dem Hauptmarkt vor dem Rathaus flirrt die Luft vor Hitze. Es ist eine aufregend schöne Hochzeitsfeier. Ilse hatte sich doch für das kleine Schwarze entschieden, das wir vor drei Wochen in einem Geschäft in der Kaiserstraße gefunden hatten. Wenn ich ihr nicht schon einen Heiratsantrag gemacht hätte, an diesem Tag heute würde ich es tun. Sie sieht traumhaft aus mit ihren schulterlangen blonden Haaren, die weich zur Seite fallen, als sie sich auf dem Weg zum Standesamt noch mal umdreht und mir einen dieser Blicke zuwirft, die mich stets dahinschmelzen ließen. Wir kommen am Schönen Brunnen vorbei und drehen am Wunschring, auch wenn es derzeit nur der Ersatzring ist, weil der Brunnen restauriert wird. Wir sehen uns tief in die Augen, aber der Wunsch darf nicht verraten werden. Ich hatte mir einen dunkelblauen Anzug aus dünnem Leinen zugelegt, schon der Jahreszeit wegen. Und ein offenes, weißes Baumwollhemd. Sehr zum Unmut von Ilses Mutter, die schon den ganzen Tag moniert, dass ich doch bei unserer Hochzeit eine Krawatte tragen müsse.

Der Standesbeamte macht seine Sache ordentlich, aber nicht gut: Er wolle das junge Brautpaar mit seinen jetzt folgenden Worten auf das Eheleben vorbereiten. Ich bin immerhin schon 43 und Ilse 34. Er dagegen scheint nicht die große Lebenserfahrung zu haben, mit den geschätzten 26 Jahren. Ilses Mutter gefällt die Rede jedenfalls, auch wenn unser Kollege Herbert gelegentlich leise lachen muss. Vor allem als der Beamte auf die vielen Kinder zu sprechen kommt, die wir sicherlich haben würden.

»Der Wolff und die sieben Kindlein«, hört man es an dieser Stelle leise von hinten. Herbert konnte noch nie seinen Mund halten, aber jetzt gefällt mir sein Kommentar und auch Ilse zwinkert mir sichtlich erheitert zu.

Ilse und ich sind glücklich entspannt, aber unser Trauzeuge, mein alter Freund Jürgen, rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her und sieht ständig in seinen Taschen nach, ob die Trauringe noch da sind. Als ich mich zu ihm umdrehe, weil die Rede eher langweilig ist, grinst er verschmitzt und nickt. Also alles klar.

Die Ringe sind schließlich getauscht und die Unterschriften besiegeln den Bund der Ehe. Unsere Gäste spenden Applaus und wir machen uns auf den Weg zu unserer Feier. Den kurzen Weg gehen alle zu Fuß und Helmi, der Wirt unseres Stammlokales in der Burgstraße, empfängt uns herzlich mit einem großen Tablett voller Gläser mit prickelnd kühlem Prosecco.

Wir hatten mit unseren Einladungen nicht gespart. Sogar unseren Chef, Dr. Ruschka, hatten wir zur Hochzeit gebeten. Natürlich auch alle Kolleginnen und Kollegen vom Kommissariat. Harald, Cem und allen voran natürlich unseren Herbert, der es sich nicht nehmen ließ, Ilse zum Standesamt zu führen.

Viele Verwandte haben wir nicht und im Grunde genommen sind die Kollegen so eine Art Familie. Meine Schwester aus Hamburg konnte bedauerlicherweise nicht kommen, weil ihre Tochter die Masern bekommen hatte. Alles in allem sind wir eine Hochzeitsgesellschaft mit 36 Personen.

Es ist gegen 16 Uhr und die meisten unserer Gäste sitzen mit uns vor dem Lokal auf den Stühlen, die dort am Bürgersteig aufgestellt sind. Es weht kaum ein kühlendes Lüftchen und das alkoholfreie Weißbier wird von den meisten Gästen bevorzugt bestellt.

Herbert sitzt bei uns an dem kleinen runden Holztisch und legt gerade ein gefaltetes Bierfilz unter ein Stuhlbein, weil der Tisch ständig wackelt.

»Na, ihr zwaa, wie wor etz des mit die Kinnerli, des hot der Standesmoo fei schön g’sacht!«

»Mein bester Herbert, da lass mal noch viel Wasser die Pegnitz hinunterlaufen. Das Thema war bei uns noch nicht auf der Tagesordnung. Richtig Ilse, meine Ehefrau?«

»Genau so ist das, Herbert. Und überhaupt, wer sollte dann auf dich aufpassen, wenn ich zu Hause bleiben müsste?«

»Da hat die Frau Merkel aber vollständig recht, Herr Wagner. Erstens könnte ich eine solch gute Kommissarin gar nicht ersetzen und das mit dem Aufpassen, also wenn ich mir das genau überlege, da hat sie auch nicht unrecht. Wer außer Frau Merkel könnte Sie in den Griff bekommen!« Dr. Ruschka lacht in die Runde und alle anderen amüsieren sich köstlich. Er fährt mit seiner Rede fort.

»Aber bevor ich das vergesse, Frau Merkel, ich habe da noch ein weiteres kleines Hochzeitsgeschenk – außer dem, das ich auf den Tisch da drinnen gelegt habe. Da Sie sich gegen eine gleich anschließende Hochzeitsreise entschieden haben, sind Sie ja beide am Montag wieder im Büro. Da liegen dann zwei kleine Umschläge für Sie, aber ich verrate den Inhalt jetzt schon in unserer kleinen Runde. Frau Merkel, es freut mich Ihnen mitteilen zu können, dass Sie mit sofortiger Wirkung die Amtsbezeichnung Oberkommissarin tragen dürfen!«

Ein lauter Applaus folgt von den Kollegen. Ilse sieht mich zufrieden an, aber ich bemerke, dass sie schon viel zu lange auf diesen Moment gewartet hatte.

»Aber das ist noch nicht alles. Herr Schmitt, ab sofort sind sie Erster Hauptkommissar und leiten hier in Nürnberg die neue Abteilung für Sonderermittlungen der Mordkommission.«

Ein anerkennendes Raunen geht durch die Runde und die Kollegen klatschen freudig, aber vor allem ehrlich, was in Beamtenkreisen nicht immer der Fall ist.

»Also die Beförderung der Kollegin Ilse Merkel war schon überfällig, da hat mein lieber Vorgänger geschlafen.«

Jetzt blickt meine Frau zufrieden in die Runde.

»Das mit dem Ersten Hauptkommissar allerdings war jetzt nicht so leicht durchzusetzen, vor allem weil beim letzten Fall die Politik etwas an Ansehen verloren hat und von oben ständig gegen die Beförderung gearbeitet wurde. Aber die Leistungen des Kollegen Wolff Schmitt haben letztlich doch den Ausschlag gegeben. Und natürlich mein gewichtiges Wort!«

 

»Und iich, iich geh widder leer aus«, Herbert ist fast schon zu bemitleiden.

»Na, dann warten wir mal den Montag ab, Herr Wagner. So lange hat das noch Zeit.«

Herbert ist mit seinen 59 Jahren immer noch Oberkommissar. Der Vorgänger von Dr. Ruschka hatte ihn nie richtig akzeptiert. Sicher, Herberts Art sich zu benehmen und auszudrücken ist gewöhnungsbedürftig. Aber ein Vorgesetzter sollte auch Menschenkenntnis haben. Herbert arbeitet unkonventionell, aber er ist verlässlich und loyal. Alle Kollegen schätzen das. Und wer macht schon keine Fehler.

Im Kommissariat ist sehr viel Ruhe eingekehrt, seit Dr. Ruschka vor etwa zwei Jahren als Kriminaldirektor nach Nürnberg kam. Das war auch der Grund, warum Ilse unbedingt von der Wirtschaftsabteilung zur Mordkommission wechseln wollte.

Wir werden in das Lokal gebeten, das Essen steht bereit. Ilse und ich hatten uns lange überlegt, was wir unseren Gästen servieren lassen wollten. Wir hatten auch die eine oder den anderen nach der Meinung gefragt. Die Antworten waren stets die gleichen. Wir seien hier mitten in Franken und wenn die Hochzeit in unserer Stammkneipe gefeiert wird, dann soll deftige fränkische Küche auf den Tisch.

Am Nachmittag gleich nach der Trauung haben unsere Gäste »Drei im Weggla« auf die Hand genossen, um dem Hunger bis zum Abend keine Chance zu geben. Und zum Abendessen gibt es heute einen kleinen Vorspeisenteller mit Carpaccio vom einheimischen Weiderind, dann eine klassische fränkische Hochzeitssuppe mit kleinen Leberknödeln und Pfannkuchenstreifen. Die gedünstete Bachforelle mit Meerrettichdip und kleinen Salzkartoffeln mundet unseren Gästen ausgezeichnet. Der Fleischgang besteht aus einem ofenfrischen Schäuferla mit einer gnadenlos guten, knusprig gebackenen Kruste und einer richtig nach Hausfrauenart einreduzierten Soße. Natürlich fehlen die Klöß’ und das Sauerkraut nicht. Die Nachspeise mit Schokoladenmousse, Bayerisch Creme und einem Bällchen Vanilleeis rundet das Menü perfekt ab. Die meisten unserer Gäste lassen sich zu den Hauptgängen ein frisch gezapftes fränkisches Bier schmecken. Zum Nachtisch haben wir einen ausgezeichneten Sekt aus dem Würzburger Raum bestellt.

Ich setze mich zu Harald und Cem an den anderen Tisch. Ilses Mutter musste jeden Gang des Menüs mehr oder weniger kritisieren und darauf hinweisen, wie man das hätte besser machen können. Dabei hat sie ihr Leben lang nichts gekocht.

»Das ist aber ein Aufstieg, Wolff. Erster Hauptkommissar, in deinem Alter«, Harald meint das anerkennend und aufrichtig.

»Ja, das war heute eine echte Überraschung, das hätte ich ganz und gar nicht erwartet. Der Chef hat mich gerade noch einmal zur Seite genommen. Ich habe freie Hand, wie ich mein Team zusammenstelle. Und da muss ich gar nicht lange überlegen. Ihr zwei seid doch dabei, oder?«

»Da kannst du dich aber darauf verlassen, dass wir uns eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen. Richtig, Cem?«

»Aber hoppla. Da sind wir auf jeden Fall dabei, Wolff!«

»Das freut mich sehr, Kollegen. Ihr könnt euch natürlich denken, wer noch mitspielen wird.«

»Logisch, die alte Truppe mit Ilse und Herbert.«

»Richtig. Behaltet es bitte für euch, aber der Herbert wird am Montag zum Hauptkommissar befördert, endlich. Eigentlich zehn Jahre zu spät, aber besser als gar nicht.«

»Er hat es verdient, der alte Knochen.«

»Leute, wenn schon mal die Euphorie ausgebrochen ist, dann sollten wir das nutzen. Da gibt es doch so eine junge Kollegin bei der Sitte, so eine Dunkelhaarige mit Zopf, wie heißt die noch mal?«

»Du meinst vielleicht diese Hannah de Fries?«

»Ja, genau. Da habe ich nur Gutes gehört. Was meint ihr, soll ich mich für einen Wechsel von ihr in unsere neue Abteilung stark machen?«

»Auf jeden Fall. Wir hätten schon bei der Scheiß Politiksache Verstärkung gebraucht.«

»Und die sieht richtig gut aus!«

»Cem, sie soll ermitteln. Lass da mal deine Finger weg, auch wenn dir das schwer fallen sollte.«

Es ist ein richtig schöner Abend. Viele der Gäste sitzen draußen und Helmi kommt kaum nach, die Getränke zu servieren, obwohl er kurzfristig noch Personalverstärkung geordert hat. So gegen 2.30 Uhr lichtet sich die Hochzeitsgesellschaft aber merklich. Ich sitze mit Ilse vor der Wirtschaft, ihre Mutter hat sich schon länger in ihr Hotel verabschiedet.

»Wolff, haben wir das heute richtig gemacht?«

»Ilse, ich glaube, ich habe in meinem Leben keine bessere Entscheidung getroffen. Ich habe das Eheleben zu lange als den zweitbesten Weg betrachtet. Aber nachdem du in unsere Abteilung kamst, war ich mir dann nicht mehr so sicher. Ich habe halt lange gebraucht. Und wenn du da nicht nachgeholfen hättest, dann säße ich immer noch in meiner alten verranzten Bude und würde mir einreden, dass das Zusammenleben mit einer Frau ein Fehler ist. Aber das ist es nicht alleine. Ich habe mich hoffnungslos in dich verliebt und das ist der Grund, warum wir heute geheiratet haben.«

Ilse beugt sich vor, zieht meinen Kopf zu sich und gibt mir einen langen Kuss.

»Aber jetzt, junges Paar. Ist es nicht Zeit für die Hochzeitsnacht?«, Dr. Ruschka unterbricht uns, »dann geht mal schön nach Hause, ich verabschiede mich jetzt auch und bedanke mich für die ausgezeichnete Bewirtung!«

»Der Dank gilt vor allem Ihnen, Chef, und nicht nur fürs Kommen, sondern für ihr überraschendes Extrageschenk.«

Ilse umarmt den verdutzten Ruschka und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Der gute Sekt scheint zu wirken.

Die letzten Gäste verabschieden sich und wir sitzen nur noch mit Helmi vor seiner Kneipe. Die Lichter im Schankraum sind schon gelöscht.

»Dein Essen war ausgezeichnet, mein alter Freund, und die Bewirtung wie immer perfekt. Du hast uns einen schönen Abend genießen lassen.«

»Das ist doch selbstverständlich, Wolff. Vor einem Jahr hätte ich das nicht geglaubt, dass ihr beiden zusammenkommt. Ganz ehrlich, nie und nimmer. Ilse, da habe ich dem alten Mann hier schon gut zureden müssen.«

»Na, Helmi, ich denke, dass mein lieber Wolff irgendwann schon von selbst auf den Trichter gekommen ist.«

Helmi stellt noch drei Gläser mit schottischem Single Malt auf den Tisch.

»Meine Lieben, ich denke, wir nehmen noch einen Absacker, natürlich aufs Haus.«

*

Nach diesem letzten Drink machen auch wir uns auf den kurzen Heimweg. Es ist eine herrlich laue Nacht und wir schlendern Arm in Arm über den Hauptmarkt hinunter zur Pegnitz. Kurz vor der Fleischbrücke nehmen wir uns in die Arme und verweilen so wortlos eine ganze Weile.

Als wir dabei sind, kurz vor der Brücke nach rechts Richtung Winklerstraße zu gehen, stutzt Ilse und bleibt stehen. Es ist gegen halb vier und noch dunkel.

»Wolff, da, auf der Brücke, da liegt irgendwas, mitten auf dem Weg!«

Ich sehe nach vorne, kann aber nur eine Art dunklen Haufen sehen. Ich meine aber, die Umrisse eines Menschen erkennen zu können. Zwei der Straßenbeleuchtungen sind ausgefallen. Ich will auf dieses Ding, was immer es auch ist, zugehen, aber Ilse zieht mich zurück.

»Bleib hier, du weißt nicht, was das ist und vielleicht wartet da nur einer darauf, dass jemand vorbeikommt, den er dann niederschlagen und ausrauben kann. Du kennst doch diese Masche. Wir haben keine Dienstwaffen dabei.«

Ich rufe dennoch in die Richtung.

»Hallo, ist da jemand, brauchen Sie Hilfe? Bewegen Sie sich, wenn das möglich ist.«

Es folgt keine Reaktion.

»Wir sind von der Polizei, geben Sie uns ein Zeichen, wenn wir helfen sollen.«

Wieder nichts.

»Lass uns die Streife rufen, Wolff. Die sind doch sofort hier!«

»Und dann liegt da nur Müll rum und wir machen uns lächerlich. Warte mal, ich habe doch die kleine Taschenlampe eingesteckt für den Heimweg. Bleib du hier stehen, ich bin schon vorsichtig.«

Langsam bewege ich mich im Schein der kleinen Lampe auf das Objekt zu. Je näher ich komme, umso deutlicher werden die Umrisse. Es scheint tatsächlich ein Mensch zu sein.

Als ich kurz davor stehe und das schwache Licht direkt darauf fällt, fährt mir ein entsetzlich stechendes Gefühl in die Magengegend und ich erstarre. Alle Muskeln meines Körpers verkrampfen sich, ich kann mich kaum bewegen. Vor mir liegt der tote, verstümmelte, blutverschmierte Rest eines Menschen. Er trägt keine Kleidung. Es ist ein Mann, soviel wage ich zu vermuten. Der Körper liegt auf dem Rücken, aber die Beine fehlen. Bei näherem Hinsehen kann ich erkennen, dass der Rumpf auf den Beinen liegt, die irgendwie völlig unnatürlich nach hinten abgeknickt sind. Der Körper ist über und über mit Blut bedeckt, was auf entsetzlich grobe Verletzungen schließen lässt.

So etwas habe ich in meiner gesamten Polizeilaufbahn noch nicht gesehen.

Instinktiv drehe ich mich um, leuchte mich mit der kleinen Lampe an, so gut das eben geht, und gebe Ilse ein Zeichen, nicht näher zu kommen. Ich will ihr diesen Anblick ersparen. Ich knie mich hinunter. Diese Masse stinkt entsetzlich nach Blut, Schweiß und Fäkalien. Die Sehnen und Muskeln der Oberschenkel scheinen nahe am Hüftgelenk brutal mit einem Messer durchtrennt worden zu sein, nur so konnte der Täter die Beine nach hinten unter den Rumpf abknicken. Man sieht die Oberschenkelköpfe, die aus der Hüftpfanne herausgerissen sind und nach vorne herausragen. Täter. Ganz sicher. Das war kein Unfall.

Ich bin immer noch unter Schock, kann aber ein paar Schritte auf Ilse zugehen. Ich versuche ihr etwas zuzurufen, aber meine Stimme versagt. Endlich, nach mehrfachem Räuspern, bringe ich ein paar matte Worte heraus.

»Ruf’ die Streife, Ilse. Ruf’ die Spurensicherung. Ruf’ im Kommissariat an. Ruf’ alle an, die du erreichen kannst. Aber komm nicht näher. Ich pass’ auf, dass von der anderen Seite niemand herankommt. Du bleibst da stehen!«

»Wolff, was ist da? Du bist vollkommen verstört!«

»Jetzt nicht. Mir fehlt nichts. Aber bleib’ dort stehen. Versprich mir das!«

Mit diesen Worten gehe ich zurück zu der Leiche. Ich nehme die Lampe wieder zu Hilfe. Der Unterleib ist kreuz und quer aufgeschlitzt und Blut rinnt noch immer auf den Boden der Brücke, wo sich bereits eine Lache gebildet hat, die nur langsam in das poröse Pflaster einsickert. Dieser Fleischhaufen, aus dem die Gedärme herausquellen, liegt hier noch nicht lange. Die Arme sind der Länge nach aufgeschnitten und liegen neben dem Körper am Boden. Die Gesichtszüge sind bis zur völligen Unkenntlichkeit mit einem scharfen Gegenstand abgeschabt und liegen als blutiger, schleimiger Haufen neben dem Rest des Kopfes am Boden.

Die erste Streife ist in zwei Minuten vor Ort. Sie kennen mich und ich schildere die Sache mit ein paar Sätzen. Meine Stimme ist noch immer nicht vollständig einsatzfähig.

Einer der jungen Kollegen muss sich sofort übergeben, als er sich dem Korpus nähert. Er entleert sich über die Steinbrüstung der Brücke in die Pegnitz.

Nach und nach treffen Kollegen ein, die um diese Zeit Dienst haben oder erreicht wurden. Auch Hannah de Fries ist dabei. Nach ungefähr einer halben Stunde ist der Tatort abgesperrt und hell erleuchtet. Nach einer weiteren Stunde ist praktisch die ganze Altstadt abgeriegelt und alle verfügbaren Einsatzkräfte sind vor Ort.

Ilse hat Dr. Ruschka noch auf seinem Nachhauseweg erreicht und er orderte sofort ein Sondereinsatzkommando, um die Altstadt zu durchkämmen.

Die Stimmung am Tatort ist gespenstisch. Trotz der immensen Anzahl von Einsatzkräften herrscht eine bedrückende Ruhe. Zwei Kollegen von der Spurensicherung müssen aufgeben. Der Anblick dieses Verbrechensopfers geht über ihre Kräfte. Aber das ist mehr als verständlich. Es ist Sonnenaufgang und das Licht nimmt dem Geschehen etwas an Dramatik.

Dr. Ruschka nimmt Ilse und mich zur Seite.

»Dass euch beiden das widerfahren musste. Ausgerechnet in der Hochzeitsnacht. Ich muss gestehen, so etwas habe ich noch nicht erlebt. Da muss doch ein Wahnsinniger gewütet haben. Ihr geht jetzt nach Hause. Ich kann das hier mit den übrigen Kollegen übernehmen.«

»Meinen Sie, Chef, wir könnten uns jetzt auf unser Sofa setzen, gleich da drüben in der Winklerstraße, und noch einen Sekt trinken vor dem Schlafengehen? Der Anblick reicht mir für die nächsten zehn Jahre oder noch mehr. Ich bin da nicht so empfindlich, aber das übersteigt selbst meine Vorstellungskraft.«

»Sie haben nichts gesehen, also außer dem Toten?«

»Nein, wir waren mit uns beschäftigt, als wir über den Hauptmarkt gegangen sind. Aber ich denke, da war auch niemand außer uns, oder Wolff?«

 

»Nein, ich habe niemanden bemerkt. Aber lange kann das nicht her gewesen sein, das Blut lief noch aus den Wunden, wenn man überhaupt von Wunden sprechen darf. Nein, nein, auch als ich auf die Brücke gegangen bin, war da kein anderer.«

Der Chefpathologe aus Erlangen trifft gerade ein und macht sich an seine Arbeit. Ohne Rechtsmediziner darf die Spurensicherung die Leiche in so einem gravierenden Fall nicht abtransportieren, auch wenn sonst alle Spuren festgehalten und dokumentiert sind. Auch Staatsanwalt Gastner ist erreicht worden und kommt zu uns herüber.

»Meine Herrschaften, dass so etwas in Nürnberg möglich ist. Ich habe es schon gehört, Frau Merkel, Herr Schmitt, sie hätten sich den Ausklang dieser Nacht auch anders vorgestellt. Es gibt keine Hinweise oder Anhaltspunkte?«

»Gar nichts, Gastner, tut uns leid. Wir haben nur im Dunklen auf der Brücke etwas wahrgenommen und ich habe mir das natürlich näher ansehen müssen. Aber wir haben sonst niemanden beobachtet. Es war, ja, wie soll ich es sagen, totenstill um diese Zeit.«

Der Chef kommt mit dem Pathologen Dr. Rosser zu uns herüber.

»Ja meine Herren, die Dame, das ist das Entsetzlichste, was mir in meiner ganzen Laufbahn untergekommen ist. Ich hatte schon die schlimmsten Opfer, vor allem Unfallopfer. Aber dass das jemand vorsätzlich getan hat, ist unvorstellbar, aber leider wahr. Wann sagten Sie, haben Sie die Leiche gefunden?«

»Das war so kurz nach halb vier, richtig Ilse?«

Sie nickt mir zu.

»Dann haben Sie den oder die Täter nur kurz verpasst. Ich schätze mal, dass das nicht früher als so um drei geschehen ist. Genaueres kann ich erst im Institut feststellen. Ich kann mir hier nur ein grobes Bild von der Situation machen, was aber wichtig für die nachfolgenden Untersuchungen ist. Und ich muss Ihnen gestehen, mein Magen war kurz davor …!«

»Vorausgesetzt, es ist hier auf der Brücke passiert.«

»Eher ja. Wie gesagt, ich muss das alles genau untersuchen, aber die Blutspuren auf dem Pflaster sprechen dafür. Außerdem wäre es eine logistische Meisterleistung gewesen, diesen so zugerichteten Körper hierher zu transportieren.«

»Es war ein Wahnsinniger?«

»Kann man nie wissen. Es gibt Täter, die so emotional überfordert sind, dass sie einfach völlig die Kontrolle verlieren. Aber es spricht einiges für ein pathologisches Tätermuster.«

Herbert Wagner kommt zu Fuß um die Ecke. Er hat hier in Nürnberg in der Nähe der Burg eine schöne Zweizimmerwohnung, seine Frau starb schon vor einigen Jahren und so zog er vom Eigenheim auf dem Land lieber in die Innenstadt. Er hatte ebenfalls noch nicht geschlafen und war am Handy erreicht worden.

»Leit, Leit, wos muss ich do hör’n? So ein Massaker mitten in unserer schönen Stadt. Ich muss mer des anschaun.«

»Tu dir das nicht an, mein alter Freund. Das übersteigt unsere Vorstellungskraft.«

»Ach Wolff, ich hob in mein’ Leben scho so viel g’sehn, ich denk’, des schaff ich ah no. Außerdem, wenn ich mitermitteln soll, dann muss ich des g’sehn hob’n.«

Nach drei Minuten kommt Herbert schweigend zurück.

»Du host recht, Wolff, so wos glaubt ka Mensch. Und des wor auch ka Mensch, der des g’macht hot. Ich bin etz neunafuchzich, aber in meiner gesamten Laufbahn, na ja, bis zum Oberkommissar hob ich’s bracht, ist mir so wos net begegnet. Grausam. Unwirklich. Net vorstellbar.«

Dr. Ruschka nimmt mich am Arm beiseite und flüstert mir ins Ohr.

»Herr Schmitt, ich denke, wir werden am Montag anderes zu tun haben, als Beförderungen zu feiern. Und da Herr Wagner in ihre Abteilung kommt, wovon ich stark ausgehe, dürfen Sie ihm das eröffnen, auch wenn das jetzt ein völlig falscher Zeitpunkt ist. Aber der Mann braucht genau jetzt in diesem Moment eine kleine Stütze.«

Menschenkenntnis eben. Ich gehe mit Herbert ein paar Schritte zur Seite.

»Mein lieber, guter Herbert, dass uns so was vor die Füße fallen muss. Ich habe bei der Feier schon mit Cem und Harald gesprochen, wegen der neuen Abteilung. Du bist doch dabei, oder? Ich kann da einen erfahrenen Hauptkommissar gut gebrauchen.«

»No klor, Wolff. Do mach ich selbstverständlich mit. Aber du host a weng vill drunk’n. Ich bin immer no Oberkommissar, leider.«

»Ab Montag nicht mehr, Herbert. Der Chef hat mich gebeten, dir das heute noch zu sagen, weil am Montag im Kommissariat der Teufel los sein wird. Deine Beförderung zum Hauptkommissar ist bewilligt und liegt am Montag bei dir auf dem Tisch.«

Herbert sieht mich lange an, dann bemerke ich seine feuchten Augen. Er zieht mich zu sich und umarmt mich.

»Dass des doch noch geklappt hot. Des iss schee. Des gibt dann halt doch a weng a bessere Rent’n.«

»Bedank’ dich beim Chef, der hat sich für dich eingesetzt. Wir können froh sein, dass der zu uns gekommen ist.«