Allgemeinbildung in der Akademischen Welt

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Allgemeinbildung in der Akademischen Welt
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Impressum

Gerd Breitenbürger, „Allgemeinbildung in der Akademischen Welt“, Band 2

www.edition-winterwork.de © 2015 edition winterwork Alle Rechte vorbehalten Lektorat und Foto: Monika Knecht Umschlag: Berit Overhues Illustration von Tomi Ungerer Copyright © 1994 Diogenes Verlag AG Zürich

Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de

2. Auflage

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

Gerd Breitenbürger

Allgemeinbildung

in der

Akademischen Welt

Geistes- und Naturwissenschaften

Band 2

Phantasie und Genauigkeit

Das wissenschaftliche Fragen beginnt nach langer Vorbereitung in Philosophie und Theologie mit der Renaissance. Das Buch der Natur ist in Zahlen geschrieben, die Sterne, die noch zunächst nach astrologischer Sinngebung schicksalhaft interpretiert werden, werden in ihren Laufbahnen berechnet. Eine neue, zukunftsträchtige Methodik entwickelt sich. Der menschliche Geist hat eine neue Dimension erreicht, eine an Theoriebildung orientierte und zu ihr zurückführende Beobachtung. Experiment und das Aufstellen von Formeln machen fortan der Theologie und Philosophie Konkurrenz. Das exakte Denken erschließt eine neue Welt, die zum größten Teil die unsrige geworden ist. Zu ihr gehören das Bilden von Konstrukten und die Simulation, die beides, Phantasie und wissenschaftliches Denken, voraussetzen.

Die Aufgabe der Wissenschaften besteht darin, Fragen zu stellen und Antworten zu finden, die unser Wissen erweitern. Sie bedienen sich dabei je nach Fach spezieller Begriffe und Methoden, die man auch ihre Instrumente nennen kann. Manches dieser Instrumente kann aber jedoch in mehreren Fächern verwendet werden. So sprechen wir von einer kosmischen, einer anthropologischen oder kulturellen „Evolution“. Da möchte man wissen, was ist „Evolution“ eigentlich und seinem Wesen nach. Kann man diesen Begriff problemlos, wie hier, von Unbelebtem auf Belebtes übertragen? Wenn ja, ist es vermutlich nicht abwegig, fundamentale Strukturen der Welt anzunehmen, die überhaupt dem Geist erlauben, von einer zusammenhängenden Welt zu sprechen.

Die naturwissenschaftlichen Hypothesen sind Vermutungen und auch erste, kurz gefasste Antworten auf unsere Fragen. Sie bewegen sich im Möglichkeitsraum, in dem sich die menschliche Phantasie frei bewegt, bis sie Halt in einer Theorie findet. Mit allen Theorien zusammen nähern wir uns einer einzigen Welt. Wir haben sie im Kopf und wir bewegen uns in ihr.

Die „akademische Welt“ erschließt sich, soweit sie geistig erlebt wird, durch diese wesentlichen Bestimmungen. Sie ist eine lebendige Welt, da es in ihr Sicherheit und Ordnung nur um den Preis von Unsicherheit und Fragwürdigkeit gibt. Das gilt so für die naturwissenschaftliche Welt. Die des Geistes wird eher als Gegenwelt dazu gesehen: Luxurierende Phantasie, Emotion und Bildlichkeit, Sinn und Wesen, ästhetischer Genuss und Selbstgenuss sind aber Ergänzungen, die die exakten Wissenschaften nicht durch Überblendung verdunkeln, sondern durch Sinngebungen erhellen.

INHALTSVERZEICHNIS

Teil 1

1 HEURISTIK: PLAFONDS UND SCHEMATA

1.1 Standard: Spekulation/Hypothese/Theorie/Kritik

1.1.1 Spekulation

1.1.2 Spekulieren in concreto

1.1.3 Nachdenken im täglichen Leben

1.1.4 "Scampola"

1.2 Hypothese – Theorie – Kritik an einem Beispiel

1.2.1 ANALYSE: Anthropologie: Aggressivität

1.2.2 Kritische Fragen

1.2.3 Kooperation nach Strategien

1.2.4 Tomasellos „Koevolution“ und die Ameise

1.3 Die Plafond-Methoden

1.3.1 Plafond als Methode

1.3.2 Kompetenzplafond

1.3.3 Wissenspool

1.3.4 Plafond-Denken als Methode der Kritik

1.3.5 Der Wissenspool enthält die Paradigmata

1.3.6 Plafond: Indikator für die Intelligenz

1.3.7 Plafond: Beispiele

1.3.8 Die Kuddelmuddel-Falle

1.3.9 Die "Beerdigungsfüßchen"

1.3.10 Begriffshülsen

1.3.11 Das Unterschlagen von Begriffen

1.3.12 Parallaxe

1.3.13 Intelligenzplafond: Koryphäe

1.3.14 Der Wissenspool gibt Orientierung

1.3.15 Methoden im Wissenspool werden überprüft

1.3.16 Quien mucho abarca poco aprieta

1.3.17 Grenzen des Plafonds erkennen

Teil 2

2 METHODEN IM EINZELNEN

2.1 Von einfach bis genial

2.1.1 Revolutionen in den Naturwissenschaften

2.1.2 Das Methoden bewusstsein entsteht mit der Induktion

2.1.3 Methode hölzernes Eisen – Oxymoron

2.2 Basis-Methoden: Induktion und Formalismus

2.2.1 Schach

2.3 Behauptungen sind beliebt, aber fragwürdig

2.3.1 Behauptungen der Theologie

2.3.2 "Weil": Zauberwort der Wissenschaften

2.3.3 Behauptete Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte

2.3.4 Behauptungen in extremis

2.3.5 Che Guevaras letzte Behauptung

2.3.6 Behauptung sicher wie Treibsand

2.3.7 Revision der Behauptungen

2.3.8 Behauptungssätze sind die Welt

2.3.9 Behauptungen beanspruchen Zustimmung

2.3.10 Verneinung einer Behauptung

2.3.11 Frage als Gegensatz zur Behauptung

2.4 Ideologien sind pointierte Behauptungen

2.4.1 Methoden, ein Florilegium

2.4.2 Francis Bacons Methode

2.4.3 Beobachtung – Grundlage der Forschung

2.4.4 Das pralle Leben als Methode

2.4.5 Das Neue aus dem Alten

2.4.6 Zweck wird Ursache

2.4.7 Mit Archimedes die Kultur erklären

 

2.5 Reduktive Methoden in der Literatur

2.5.1 Satire und der reduzierte Rubens

2.5.2 Bibelrhetorik

2.5.3 Turmbau: Symbol und Metapher

2.5.4 Grenzwert, Intelligenzplafond

2.5.5 Dago, Feind oder Freund des Kapitalismus?

2.6 EXKURS: Methoden der Soziologen und Typenbildung

2.6.1 Modell, Konstrukt

2.6.2 Denkmodelle

2.6.3 Konstrukt ist Konstruktion mit Hilfe der Vorstellung

2.6.4 Terra incognita – Konstrukt

2.6.5 Szenarien für die Praxis

2.6.6 "Bild" der Wirtschaft: im Möglichkeitsraum

2.6.7 Methode: Wirtschaftliches Gutachten

2.6.8 Homo oeconomicus, ideal-klassisch oder fies

2.6.9 Idealtypen

2.7 Das Geäst als Vexierbild

2.7.1 Evolutionäre Erkenntnis

2.7.2 ANALYSE: Lucy und Aristoteles' Kategorien

2.7.3 Aus Biologie wird Philosophie

7.2.4 Assoziationen, Material für das Denken

2.7.5 Die Spontaneität der Assoziationen

2.7.6 Lucys Automatismen

2.8 Das Subjekt, das Individuum und seine Typologie

2.8.1 Plan – Mittel – Ziel

2.8.2 Das Subjekt unter Dauerbeschuss

2.8.3 Beobachtung und Experiment

2.8.4 Meister im Träumen: die Naturwissenschaftler

2.8.5 SPEZIELLE ANALYSE: Typologie und Aggression

2.8.6 Die Begriffe "Aggression" und "Aggressivität"

2.8.7 Analyse: Aggression

2.8.8 Begriffserklärung als elementare Methode

2.8.9 Falsches Bild – falsche Gedanken

2.8.10 Alles hat Methode, von Anfang an

2.8.11 Macht – Gewalt – Aggression

2.8.12 Unterscheidung von Synonymen erforderlich

2.8.13 Typenbildung

2.8.14 Ulcus, ein Preis für die Kultur

2.8.15 Typologien aus dem Labor

2.8.16 Kategoriale Typen und Idealisierung

2.8.17 Quasi-Allsätze

2.8.18 Etiketten

2.8.19 Methodenmix und Darstellungslust

2.8.20 Methoden steuern den Sinn

2.8.21 Methoden: Resümee

2.8.22 Experimentum crucis: Othello

2.8.23 Praeter hoc – propter hoc und die Korrelation

2.8.24 Psychometrie und der Geist

2.8.25 Gattungs- und Individualbegriffe

2.8.26 Gestaltpsychologische Wahrnehmung

2.8.27 Analyse – Synthese

2.8.28 Die Interpretation liebt und verrät ihr Objekt

2.8.29 Stilübungen mit Humor

2.8.30 Rhetorik und Bosheit

2.8.31 Schachspiel in der Weltpolitik.

3 UNIVERSELLER SCHLÜSSEL?

3.1 Spieltheorien

3.1.1 Spiel (Huizinga) gegen „Spiel“ (Eigen)

3.1.2 „Spiel“ als isomorpher Begriff in Natur und Kultur?

3.1.3 Spiel und Laune der Natur?

3.1.4 Elastizität (Mohr), Abwandlungsfreudigkeit, Laune (Eigen)

3.2 EXKURS: Formalismus im Möglichkeitsraum und Schach

3.2.1 Semantik: Auch der Formalismus benutzt sie

3.2.2 Schach – visualisierter Formalismus

3.2.3 Schach: Formalismus, sichtbar und als Spiel

3.2.4 Die Erfindung des Strukturgedankens in der Mathematik

3.2.5 Form ohne Inhalt heißt Formalismus

3.2.6 Schach ist Kalkül gegen den Zufall

3.2.7 Schach, Gott und die Weltformel

3.3 Abstraktion, nicht abstrakt, eher anschaulich

3.3.1 Formeln in der Chemie

3.3.2 Der Vater hinter dem Baum

3.3.3 Formalismus und Sinn: Gespenster-Homines

3.3.4 Formelhaftes in der Umgangssprache

3.3.5 Das Kind wird zum Formalismus genötigt

3.3.6 ANALYSE: Die Liebe und ihr starker Formalismus

3.3.7 Theorie und Metatheorie der Liebe

3.4 Deduktiv-hypothetische Methode I

3.4.1 Deduktiv-hypothetische Methode II

3.5 Genialität der Methoden

3.5.1 Transfer – Analogie – Assoziation

3.5.2 Die Natur kennt nur geglückte Methoden

3.6 Methoden im Windkanal

3.7 Interpretieren

3.7.1 Interpretieren kann man nur, was man kennt

3.7.2 Die Interpreten und ihr Publikum

3.7.3 Interpretiertes interpretieren

3.7.4 Spekulative Interpretation

3.7.5 Ovids Liebestheorie und die 1000 Jahre

3.7.6 Methode: disambiguieren von Äquivokationen

3.7.7 Methodik der Avantgarde

Teil 3

4 INTERDISZIPLINÄRE STUDIE

4.1 Willensfreiheit und universeller Determinismus

4.1.1 Genetischer Determinismus

4.1.2 Urknall als Beginn des Determinismus

4.1.3 Lebendes Fossil - Determinismus pur

4.1.4 Zwillinge: Determinismus nicht ganz pur

4.1.5 Erkenntnis und Wahrheit in der Natur

4.1.6 Maturana: Autonomie, Stendhal, Numantia

4.1.7 Freier Wille: die Guillotine - lieber Determinismus?

4.1.8 Pythia, Haruspex, Zaudern, Fatum

4.2 Der Esel, der zuviel denkt, verhungert

4.2.1 Pico della Mirandola

4.2.2 19. Jahrhundert, Baudelaire, Balzac, Taine

4.2.3 Marx, Engels, Zille, Bakunin, Orwell, Gulag

4.2.4 Determinismus gleich Sicherheit

4.2.5 Karl Marx

 

4.2.6 Soziologie: Dialektik der Aufklärung

4.2.7 Determinanten, Noam Chomsky, Dadaismus

4.2.8 Nativismus

4.2.9 Psychoanalyse, Behaviorismus, Kognitivismus

4.2.10 Behaviorismus und Kognitivismus

4.2.11 Ratiomorpher Apparat

4.2.12 Manipulative Wahrnehmung

4.3 Determinanten/Naturgeschichte des Geistes?

4.3.1 Buridans Esel

4.3.2 Systemtheorie, der neue Mensch

4.3.3 Trasumanare

4.3.4 Libet: Hypothese und Kritik

4.3.5 Kornhubers und Libets Versuche

4.3.6 Plastizität des Gehirns

4.3.7 Vereinfachung der Gesellschaft

4.3.8 Emergenz

4.3.9 Die blinde Emergenz sieht nur der Mensch

Teil 4

5 HÖLLENSTURZ DER ÄSTHETIK

5.1 Die Hölle hat was

5.1.1 Das Naturschöne

5.1.2 Fata Morgana: Ist das Falsche wahr

5.1.3 Das Ästhetische bewerten oder beschreiben

5.1.4 Die Präzision der Kontingenz

5.1.5 Kunst und Langeweile

5.1.6 Kunst, Paradigmata und Avantgarde

5.1.7 Paradigmata der Subjektlosigkeit

5.1.8 Das blaue Pferd und die Logik

5.1.9 Eine Konstante in der Kultur: Manierismus

5.2 Freiheit im Stil bei selbstgewählten Regeln

5.2.1 Lakonie oder der enthymematische Stil

5.2.2 Die Ästhetik des Abwesenden

5.3 Metapher - Stil

5.3.1 Stil besagt viel

5.4 Akademischer Stil

5.4.1 Pointierungen zur Sinnverdeutlichung

5.4.2 Der wissenschaftliche Text

5.4.3 Informierende Texte

5.4.4 Begriffsprobleme

5.4.5 Dein Stil und alle schauen zu

5.4.6 Arbeit am Stil

5.4.7 Reduktion: Lakonie

5.4.8 Identität für jedermann

5.4.9 Rhetorik: Captatio benevolentiae

5.4.10 Metapher naheliegend oder gesucht

5.4.11 Lügt die Metapher?

5.4.12 Der Not gehorchend: Metaphern

5.5 Was heißt Leben. Paradigmatische Antworten

5.5.1 Die begriffliche Annektion

5.5.2 Kultur in der Natur?

Teil 5

6 EINZELNE FÄCHER: KOSTPROBEN

6.1.1 Theologische Fakultät

6.1.2 Philosophie

6.1.3 Rechtswissenschaftliche Fakultät

6.1.4 Volkswirtschaftslehre

6.1.5 Philologische Fakultät

6.1.6 Klassische Philologie: Griechisch

6.1.7 Klassische Philologie: Lateinisch

6.1.8 Lateinische Philologie des Mittelters: Wo steht die Erde

6.1.9 Literaturwissenschaft im Überblick

6.1.10 Literatur und Psychologie

6.1.11 Neurogermanistik

6.1.12 Romanische Philologie

6.1.13 Psychologie

6.1.14 Teildisziplinen der Psychologie

6.1.15 Soziologie

Teil 7

7 BLUE MOOD UND BLAUER ENZIAN

7.1.1 Der blaue Enzian

7.1.2 Glück - in akademischen Grenzen

7.1.3 Psychotherapie

8 STUDIUM GENERALE - BEGRIFFE

9 PLUS ULTRA IN DER AKADEMISCHEN WELT

Teil 1

1 Heuristik: Plafonds und Schemata
1.1 Standard: Spekulation/Hypothese/Theorie/Kritik

Auch Denken lernt man "by doing", indem man Fragen stellt und sich die Dinge überlegt. Descartes behauptet, weil er eine Frage hat: cogito ergo sum (auch cogito sum), ich denke, also bin ich. Wer sich selbst nur wahrnimmt, kann sich täuschen. Wo ist Sicherheit zu haben. Elvira fasst sich kürzer und bescheinigt Oskar und sich selbst, dass sie beide ein Bewusstsein haben: „Denkste“, sagt sie, wenn sie denkt, Oskars Gedanken gehen in die falsche Richtung. Phantasien und Assoziationen erschließen dem Denken neue Möglichkeiten. In der Meditation kommt es zur Ruhe. Wachsame Wahrnehmung der inneren und äußeren Welt ist eine wesentliche Voraussetzung, um in einer ungeordneten Datenfülle Ordnung zu stiften, mit Hilfe der Sprache und ihrem Medium, dem Bewusstsein. Denken ist möglich, weil Symbole und Zeichen Bedeutungen haben und Beziehungen eingehen können. Es kann spontan erfolgen oder kühl objektivierend, was dem wissenschaftlichen Stil entspricht. Beides sind Äußerungen des Temperaments bei unterschiedlichen Gelegenheiten und Temperaturen.

"Lernen" könnte man mit dem "Reagieren" im Sinne von Dressur beginnen lassen, das auf Impulse, d. h. auf jeweils einen bestimmten Reiz erfolgt. Der Behaviorist zirkelt eng um diesen Begriff herum: Es gibt Lernen und Verlernen, Umlernen, neu Lernen und den Besitz von Lernfähigkeit überhaupt. Wiederholungen eines Lernvorgangs sind ausschlaggebend, damit Strukturen, Schemata, Automatismen, kurz, aber nicht ganz zutreffend "Denkschemata" genannt, sich einschleifen. Das Üben am Klavier und die Elektro-Dressur des Plattwurms in der Glasröhre ergeben ein Verhalten, das anschließend abrufbar ist. Ein mechanisches Lernpensum ist relativ zuverlässig, anderes wird in den Situationen, in denen es abgerufen wird, frisch interpretiert und frei ausgestaltet. Examenswissen sollte nicht nur aus auswendig gelerntem Stoff bestehen. Man sollte darüber verfügen.

Wer sagen kann, "wer hätte das gedacht", weiß, dass Denken unvollkommen ist. Es ist immer ganzheitlich aber unvollkommen, man könnte sagen, „menschlich“. Das heißt, es wird von der Kategorie der Kontingenz, der Möglichkeit, bestimmt. Auch sie kann er nur denken, indem er die Notwendigkeit mitdenkt. Gott als Inbegriff aller Möglichkeiten kann also keine Kontingenzen haben. Eine Kategorie muss immer auch in ihrer Nullversion vorstellbar sein. Fehlerhaftes Denken ist Denken, das immer möglich ist, Fehler werden schon mal aufwendig gesucht, auch mit wissenschaftlichen Methoden und systematisch. Die Reissfestigkeit der Wand einer Weltraumrakete hängt auch von der grenzwertigen Außentemperatur ab. Nach einer Katastrophe, es war beim Start nur wenig kälter als erlaubt, fand man den Systemfehler in den Dichtungsringen. Man hatte die Möglichkeit nicht gesehen.

Klar ist, dass der Mensch schnell zu lernen in der Lage ist und dass er in bestimmten Situation überhaupt nicht zu lernen bereit ist. Es ist ein Geheimnis. Denn wenn man sagt, die Triebe lassen ihm durchaus die Wahl, nicht immer aggressiv in derselben groben Richtung Elvira schon im Sandkasten die Haare auszuraufen: Wieso denkt er sich nicht eine Kultur aus, in der alle freundlich miteinander sind in quasi familiären Verhältnissen. Was in mikrosozialen Gesellschaften möglich ist, wieso schafft der Künstler der Transfers, der homo sapiens, es nicht, es auf die Meso- und die Makrowelt zu übertragen. Die richtige Methode müsste doch zu finden sein, die einigermaßen funktioniert; denn sie würde von der Evolution doch üppigg belohnt werden.

In 2700 Utopien hat der Mensch seit der Antike tatsächlich diesem drängenden Wunsch Ausdruck verliehen. Aber eher tötet das Denken im wahrsten Sinne des Wortes als dass es die Utopie umzusetzen geneigt oder in der Lage wäre. Es könnte sein, dass die Evolution vom Philosophen Gottfrield Wilhelm Leibniz (gest. 1716) schon längst gültig interpretiert worden ist: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Das könnte zynisch gemeint sein, relativierend im christlichen Sinn, optimistisch oder pessimistisch. Auf jeden Fall hat man sich darüber lustig gemacht, weil die Qualität aller kontingenten Welten, für die Gott zuständig wäre und gebraucht würde, schon zu wünschen übrig ließe. Eine Welt ausdenken heißt nicht gleich gut denken, optimal denken, zu Ende gedacht haben. Wer innerhalb der Grenzen, auch der geistigen, einer Schreckutopie lebt, hält sie vielleicht für eine der besten aller Welten, nach Leibniz, und so ergeht es vielleicht auch uns. Es gab Menschen, die im Gulag als Opfer Stalins vom Väterchen Stalin schwärmten. Vielleicht ergeht es uns so und wir wollen es nicht merken. Mancher lebt in einer Schreckehe, einer Schreckfamilie und fühlt sich pudelwohl, weil er den Schrecken für normal hält. Der Barde Kreisler dichtet von der Zeit beim „Mütterlein“: „…glücklich war ich und neurotisch. Sorgenfrei und kriminell“. Es ist gar nicht schwer zu behaupten, die Gesellschaft, das Dorf, in dem man lebt, sei prima oder sei die Hölle. Daraus kann man ableiten: Vielleicht lebt der Mensch schon längst genau in der Utopie, die ihm zusteht, weil nur diese ihm möglich ist. Er ist an seinem Intelligenzplafond angelangt, einen Schritt weiter, und er ist seiner Wirklichkeit nicht mehr gewachsen. Dann müsste er sein ganzes Einkommen an den Staat abliefern (Staatsquote 100 %), was immerhin eine totale Entlastung vom Denken bedeutet. Er müsste es schaffen, schlagartig zu verblöden und das auch noch für erstrebenswert halten, so lange er noch kritisch unterwegs ist. Ganz wenige glauben, das sei schon alles bei einer Staatsquote von 4o % zu haben. Der Anarchist gönnt dem Staat überhaupt nichts, Staatsquote 0 % und verzichtet auf alle kollektiven Güter (Schule, Straßenbahn, öffentliches Schwimmbad, Straßenbeleuchtung). Glücklich, wer sie nicht braucht?

Alexander war der Große, weil er den besten Lehrer seiner Zeit, Aristoteles, hatte und in gediegenen Verhältnissen aufwuchs. Trotzdem war er unnötig grausam, nur um seine Ziele durchzusetzen. Die zwei Waisenkinder, die Friedrich II (gestorben 1250, König von Sizilien, deutscher Kaiser) isoliert, ohne jede Unterrichtung und ohne jeden Kontakt aufwachsen ließ, konnten gar nichts und mussten gnadenlos sterben. In ihrer kleinen Nirgendwo-Welt gab es nichts zu lernen. Dazwischen, zwischen dem sizilianischen Experiment und der akademisch-politisch-praktischen Welt des Alexander, liegen mehr als tausend Jahre, aber kein Zuwachs an Vernunft bei gebildeten Herrschern. Mit den Schulnoten hat das also wenig zu tun. Als Ernst Ferdinand Sauerbruch, (gest. 1951) der deutsche Lungenchirurg, seine Biographie Das war mein Leben (Auflage mehr als 100 000) veröffentlichte, war die erste Faksimile-Seite seinem Abiturzeugnis gewidmet. Er war offensichtlich stolz darauf, als gerade-noch-nicht-Analphabet und internationaler Thorax-Spezialist, der er dann wurde, mit der Durchschnittsnote 4,9999 das Abitur bestanden zu haben, praktisch alles "mangelhaft", nur Singen und Turnen "Genügend". Immerhin. Begründet stolz war er aber dann doch auf die nach ihm benannte "Sauerbruch'sche Kammer", mit der er die Lungenchirurgie begründete und Leben rettete.

Ganz offensichtlich ist es nicht ein schöner Bildungsstand, der uns auf den Weg zur Utopie setzen würde und ein mickriger, der uns von ihr abhält. Utopie kann man nicht lernen. Utopische Vorübungen haben, wie obiges Kreuzexperiment nahe legt, eine andere Quelle. Soziale Absicherungssysteme sind in Demokratien möglich, die den menschlichen Wert der Solidarität anerkennen, sie sind nicht möglich in solchen, die die Utopie zwar als Traum beschwören, aber sozialdarwinistisch konterkarieren.

Mit einem Wort, man kann die Utopie nicht lernen, nicht experimentell herstellen, nicht ausdenken. Was rätselhaft einem Individuum glücken mag, bleibt für die Gemeinschaft ein Nirgendort der Hoffnung.