Das Akkordeonspiel

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Das Akkordeonspiel
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Gerald Netsch

DAS AKKORDEONSPIEL

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Gedanken zum Buch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

Die Handlung des Buches beruht auf wahren Begebenheiten. Namen und Personen sind jedoch frei erfunden und die Orte des Geschehens wurden verändert. Jede Ähnlichkeit mit lebenden und verstorbenen Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.

Quellennachweis:

Die Ausführung zur Thematik Hirntrauma erfolgten unter Zuhilfenahme von

https://de.wikipedia.org/​wiki/​Schädel-Hirn-Trauma.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Gedanken zum Buch

Am Anfang des Wagnisses ein Buch zu schreiben stand mein Burnout-Syndrom und mit ihm kam zugleich die Erkenntnis: Ich muss mein Leben radikal ändern.

Um zu verstehen, warum ich so bin, wie ich bin, entschloss ich mich zu der psychotherapeutischen Maßnahme, in die Tiefen meines Lebens hinabzusteigen und meine Kindheit zu Papier zu bringen.

Kaum hatte ich die ersten Erinnerungen hervorgekramt, flossen die Gedanken und Ereignisse ohne Halt aus mir heraus, schneller oft, als ich schreiben konnte.

Am Ende lag ein dicker Stapel Papier vor mir und ich wusste, das war mehr geworden, als ich es beabsichtigt hatte. In meinen kühnsten Träumen hatte nicht der entfernteste Gedanke Platz, dieses, mein zum Buch gewordenes Werk, zu veröffentlichen.

Dennoch, oder gerade deshalb, unternahm ich das tollkühne Wagnis, einen Verlag zu finden, der mit mir auf Augenhöhe das Bündnis eingeht und zu fairen Bedingungen die Publikation ermöglicht.

An dieser Stelle sei Herrn Tino Hemmann mit seinem Engelsdorfer Verlagsteam Dank gesagt, ebenso geht mein Dank an Frau Heike Deschle, die das Lektorat und die Korrektur mit Leidenschaft vornahm. Meiner Frau habe ich schon mehrfach gedankt und tue es hiermit noch einmal, denn ohne sie wäre das Buch nie entstanden.

Dezember 2015

Gerald Netsch

1. Kapitel

Grau. Alles um mich herum ist grau. Neugierig geworden öffne ich die Augen. Grelles Licht blendet mich. Am liebsten will ich wieder in das beruhigende gefahrlose Nichts hinübergleiten. Aber zu neugierig ist mein Wille. Langsam, ganz langsam wird es klar um mich herum, nimmt mich die Wirklichkeit in Anspruch. Da sind die grauen Häuserfassaden gegenüber, mit den trostlosen verdreckten Fenstern der Wohnungen, die nicht mehr bewohnbar sind. Fäulnis und Taubenkot haben in ihrem Inneren Besitz ergriffen. Einige der wenigen sauberen Fenster, die teils bunte Gardinen zieren, gehören zu Wohnungen, die von einfachen Menschen mit wenig Geld gemietet sind, solchen, wie wir es sind. Hier hat man sich so gut wie möglich eingerichtet. Teils getauschte, teils vom Mund abgesparte Möbel lassen einen kleinen Wohlstand erkennen, der so wichtig ist nach der langen Zeit des Verzichtes.

 

Eine Frau am offenen Fenster mit gelbem Pullover, gelockten blonden Haaren und einer aus dem Dekolleté herausquellenden Brust ruft mit rauchiger tiefer Stimme:

„Hallo, Annemarie, hab dich lange nicht gesehen. Warst du krank? Oder etwa im Urlaub?“

„Ne, mein Alter hält mich an der kurzen Leine, seitdem wir das letzte Mal in der ‚Libelle‘ waren. Er fand es nicht standesgemäß, dass ich als Frau allein tanzen geh. Ich kann ja schließlich nichts dafür, wenn er so ein Muffel ist.“

„Recht haste! Den Männern muss man es richtig zeigen. Wir waren viel zu lange unterm Pantoffel. Ich habe meinen gleich nach dem Krieg, als er ’45 aus der Gefangenschaft kam, zum Teufel gejagt.“

Ein gelber Schmetterling setzt sich sacht auf meinen Mützenrand. Ich finde das Gelb von der dort im Fenster viel leuchtender und sauge mich mit den Augen an den riesigen Titten fest. Meine Mama, Annemarie, jagt mit einer Handbewegung den kleinen Gast auf meiner Mütze weg und damit auch meine kindlichen Gedanken an Brust, Brustwarzen, wohlige Wärme, weiche Haut und süßlich schmeckende Muttermilch. Mit meinen gut zwei Jahren halten sich die sexuellen Ausbrüche meiner Fantasie in klar abgesteckten Grenzen. Etwas schmollend, da des Einblickes beraubt – sie hat mich mit dem Kinderwagen einfach zur Straße gedreht – presse ich mich in mein weiches Lager und widme mich anderen, wenn auch weniger interessanten Dingen. Der böige Wind spielt mit den Tausenden von Staubkörnchen, jagt sie in die Luft, lässt sie im Kreis umherschwirren, zu Boden sinken, um sie im gleichen Moment wieder wie Langstreckenläufer davonzujagen, den Bordstein entlang. Der Himmel hat inzwischen sein leuchtendes Blau eingetauscht gegen graublaue fast schwarze Wolken. Es wird ein Gewitter geben mit Blitz und Donner und der Chance, mich bei Mama einzukuscheln, Geborgenheit zu fühlen, die Angst vor dem Grollen des bösen Gottes zu vergessen. Das schrille Pfeifen der Schwalben schreckt mich auf. Sie jagen tief zwischen den Häusern nach Insekten. Ihre Eile, ihr unsteter Zickzackflug geben den Anschein, als würden sie schnell noch Vorrat schaffen, bevor die Welt gänzlich untergeht. Die rauchige tiefe Stimme der Frau im Fenster fordert meine ganze Aufmerksamkeit.

„Bring doch einfach am Wochenende deinen Mann mit zu mir. Wir feiern meinen Geburtstag nach.“

„Oh entschuldige, Eva, nachträglich noch alles Gute. Wie alt bist du denn geworden?“

„Es sind 26 Jahre, die ich auf Erden verweile.“

„Toll, dann bist du ja auch Jahrgang 1929, wie ich. Bist du in Chemnitz geboren, oder kommst du von woanders her?“

„Ich stamme von Leipzig, bin aber schon vor dem Krieg hierhergezogen. Hab Glück gehabt. Das ist noch die Wohnung von meinen Eltern, mit allem drin, sind ja nicht ausgebombt gewesen. Nachdem sie gestorben sind, bin ich einfach in der großen Wohnung geblieben. Man kann ja nie wissen, vielleicht kommt mal noch ein fescher General, der mich vom Fleck weg heiratet und mir ein Halbdutzend oder mehr Kinder macht. Ich hab das auch der Behörde gesagt, weil die mir doch eine Flüchtlingsfamilie unterschieben wollten. Kein Stück an Möbeln werde ich rücken und auch keinen Zentimeter Wohnung freiwillig hergeben, hab ich denen gesagt. Ich habe den Bürohengst gut eine Stunde vollgegeifert, bis er von dannen gezogen ist. Und weißt du, Annemarie, dann treffe ich den doch vor einigen Monaten im ‚Ballhaus Mollinger‘. So wie zufällig schiebe ich mich mit meinem Vorgarten an ihm vorbei, bleib natürlich stehen und frag, wie es geht. Lädt der Kerl mich doch zu einem Glas an der Theke ein und nach gut drei Stunden lieg ich mit ihm in der Kiste. Einfach so. Hab seitdem nie wieder etwas von dem gehört oder gesehen. Der war bestimmt verheiratet und hat jetzt ein schlechtes Gewissen.“

Ein langes rauchiges, von Hustenanfällen unterbrochenes Lachen, laut und von tief innen heraus, schallt durch die Häuserzeile. Zwei Frauen auf der anderen Seite der Straße schauen erschrocken herüber. Dann stimmt auch Mama wie ein Weihnachtsglöckchen in den Lachgesang ein. Schließlich ebbt das Lachen allmählich ab, wie die Glocken in der Kirche nach dem Gottesdienst. Gerade noch rechtzeitig fange ich den Gesprächsfaden wieder auf.

„Also bis Samstag um acht. Ich bring eine Erdbeerbohle mit. Hab die Früchte gestern von den Schwiegereltern gekriegt, die haben einen Garten.“

Die rauchige Stimme mit einem Schuss Bronchialhusten erwidert:

„Dann können wir ja deinen Walter mal so richtig aufheizen. Vielleicht wird es dann doch noch etwas mit dem Tanzengehen.“

Das schrille Weihnachtsglöckchen kichert.

„Wir werden dran arbeiten. Ich freu mich, bis dann.“

Rappelnd setzt sich mein fahrbarer Untersatz in Bewegung. Mama hält das Ding in allen Ehren, es soll viel Geld gekostet haben mit seinem geflochtenen Korb, den gummibereiften Rädern, die dann und wann laut quietschen. Nicht zu vergessen die geklöppelte Spitze rundherum, an der sich so herrlich zupfen lässt. Langsam wird es grau. Alles um mich herum ist grau. Die Stimmen verstummen. Ich falle tief, immer tiefer und tiefer. In mir dreht sich alles. Mein Kopf will sich auseinandersprengen, Beine, Brust und Arme sind ohne Gefühl. Wie bei einem Plüschteddybär schlägt alles an mir herum. Nein, ich will nicht auseinanderfallen. Bitte lass mich leben, leben, leben …

2. Kapitel

Der endlose Fall und seine kaum zu ertragenden Drehbewegungen verlangsamen sich allmählich. Ich fühle mich eingeschnürt wie ein Paket, unfähig, aus dieser Hülle herauszukommen. Ich höre um mich herum Stimmen. Kurze klare Kommandos. Armee? – bin ich wieder bei der Armee? Ist Krieg? Bin ich verwundet? Vielleicht fehlen mir Arme und Beine? – weggesprengt? Oder mein Kopf sieht aus wie ein Kürbis, den man mit einem Stein auseinander geschlagen hat? Was ist das? Warum sagt mir keiner etwas, redet doch mit mir – bitte. Ich flehe euch an, tut mir nichts. Ich will leben, leben …

In der Notaufnahme des Klinikums herrscht Hektik. Jeder der Ärzte und Schwestern weiß, was zu tun ist, der Ablauf ist hundertfach erprobt, nach strengen Ablaufschemas eingeteilt und abzuarbeiten.

Der erste Diagnosebericht des Notarztes am Ort des Unfallereignisses ist typisch für Verkehrsunfälle dieser Schwere: „Offene Beinfraktur linker Unterschenkel, Hautschädigungen an Händen, der linken Schulter und im Gesicht, Schädel-Hirn-Trauma mittleren bis schweren Grades verursacht durch Aufschlag der linken Kopfhälfte auf die Fahrgastzelle, seitlich wie auch frontal. Der Patient ist ohne Bewusstsein aufgefunden und reanimiert worden.“ Die Anspannung des Notaufnahmeteams ist deutlich zu spüren.

Der Unfall birgt potenzielle lebensbedrohliche Mehrfachverletzungen, bei denen erst jetzt nicht erkennbare weitere schwere Verletzungen, meist im Brust- und Bauchbereich, offensichtlich werden. Der alles entscheidende Faktor Zeit bestimmt die Prioritäten der Notfalleingriffe. Es ist der Kampf um Leben oder Tod des Patienten. Übel hat es ihn erwischt. Trotz der nur 120 Stundenkilometer auf der Autobahn Richtung Rosenheim hatte er keine Chance gegen den Geisterfahrer, der ihm an der Anschlussstelle Brannenburg wie aus dem Nichts entgegen kam. Aus – für den Einen die Erfüllung seines Wunsches, tot zu sein, für den Anderen der seidene Faden, an dem sein Leben jetzt zu hängen scheint. Es ist ein Stunden währender Kampf. Aufbäumend und an Stärke zunehmend ist die Kraft des Sensenmannes, der diese Schlacht für sich zu gewinnen sucht. Eisern und unerbittlich die Gegenwehr, das Ringen, dieses Leben den Krallen des Todes zu entreißen. Nach einer vierstündigen Notoperation, stabilisierenden Schrauben, Platten und Stiften, die aus dem Körper wieder einen Körper machen sollen, ist das Schlimmste des sichtbaren Schadens versorgt und der Patient stabilisiert.

Ihm, Karl Nebel, konnten die Ärzte das Leben erhalten, doch die speziellen Untersuchungen haben das schwere Schädel-Hirn-Trauma bestätigt. Die operative Entlastung des Hirndrucks und die Verödung von Blutungen im Schädel waren erforderlich. Alles ist soweit erfolgreich verlaufen. Doch niemand weiß, ob dieser Karl Nebel je wieder aus dem Koma erwacht, und wenn, ob es ein Leben, ein lebenswertes Leben dann sein wird.

Von der schlimmen Nachricht informiert, versuchen seine Frau Susanne sowie die Töchter Veronika und Liesa vom leitenden Oberarzt das zu erfahren, worauf sie am meisten hoffen: Ja – es gibt Hoffnung. Dazu wird sich aber Dr. Meissner nicht verleiten lassen. Zu umfassend ist sein Wissen in solchen Fällen, zu unterschiedlich die Verläufe, zu ungewiss deren Ausgang. Die Medizin kann vieles tun, jedoch keine Wunder vollbringen. So bleibt den Dreien nichts weiter übrig als zu warten, zu hoffen, und ja, auch heimlich zu beten. Erst gemeinsam, dann nach Tagen, auf Anraten des Arztes, nur noch Susanne. Immer ist die Hoffnung präsent: Es wird ein eindeutiges Zeichen geben für den Weg zurück ins Leben, ins lebenswerte Leben.

Susanne sitzt weinend, in sich zusammengesunken an seinem Bett. Sie scheint in den wenigen Stunden seit der Nachricht um Jahre gealtert. Tiefe dunkle Schatten haben sich unter den Augen gebildet. Lidschatten und Wimperntusche haben vom vielen Weinen eine breite Spur auf die Wangen gezeichnet und sich auf der weißen Bluse verewigt. Sanft hält sie Karls Hand, streicht ab und zu über seinen Handrücken in der Hoffnung, wenigstens ein kleines Zucken zu spüren. Reglos liegt er im Krankenbett, aufgebart wie für den letzten Gang hinüber in die Ewigkeit.

„Bitte verlasse mich nicht“, flüstert Susanne leise und verzweifelt. „Wir haben doch erst jetzt richtig angefangen zu leben. Wir haben noch so vieles Gemeinsames vor. Wir wollten mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren, eine Reise nach Südafrika unternehmen. Du hast es mir fest versprochen. Hörst du? Hör doch! Das kannst du doch nicht machen, dich so einfach aus unserem Leben stehlen. Ich liebe dich doch. Wach bitte auf, bitte, bitte!“

Ein herbeieilender Pfleger zieht Susanne sanft zurück.

„Frau Nebel, das hat keinen Sinn. Er wird so nicht aufwachen. Geben Sie ihm Zeit. Reden Sie mit ihm über die schönen Dinge, die Sie gemeinsam erlebt haben. Geben Sie ihm das Gefühl, dass Sie für ihn da sind, dass Sie auf ihn warten, da sein werden, wenn er zurückkommt.“

„Ich will ja geduldig sein. Es ist nur so furchtbar schwer.“

„Ich weiß, viele Komapatienten und deren Angehörige habe ich hier erlebt. Schicksale, die unterschiedlich endeten. Eines kann ich Ihnen aber versichern, es gab sehr viel mehr Komapatienten, die den Weg zurückfanden. Sie brauchen Mut, Frau Nebel, an das mögliche Wunder zu glauben. Teilen Sie sich ihre Kräfte ein, nutzen Sie Verschnaufpausen, um neue Kraft zu tanken. Wenn Sie Angehörige haben, die diesen Weg begleiten können, so nehmen Sie deren Angebot an. Ich werde für Sie und Ihren Mann beten.“

Susanne ist wieder mit Karl allein. Lange denkt sie über die Worte des Pflegers nach. Er will uns in seine Gebete einbeziehen? Uns, die wir nie an Gott geglaubt haben! Vorsichtig beugt sie sich über das Gesicht von Karl, streichelt es behutsam, liebkost die Stirn, die Augen, den Mund. Sie spürt den salzigen Geschmack der Haut, die Wärme der Lippen. Sie nimmt wahr, dass Leben in ihm ist. Ein fast unmerkliches Lächeln huscht über ihr Gesicht.

„Ich habe den Mut, an das Wunder zu glauben“, flüstert sie ihm ins Ohr.

Ganz vorsichtig legt sie ihren Oberkörper auf den seinen. Sie will ihm nah sein, so nah wie nur möglich. „Ich darf ihm nicht wehtun“, ermahnt sie sich.

3. Kapitel

Es ist so schön warm in der Sonne. Der gelbe Schmetterling wärmt seine Flügel an ihren Strahlen, der Wind spielt mit den tanzenden Staubkörnern, die verweht werden so wie das Leben. Nein, Leben verweht nicht. Leben lebt, pulsiert, ist spürbar. Ich spüre nichts. Lebe ich? Was ist mit mir? Grau. Alles um mich herum ist grau. Da ist es wieder, dieses absurde Gefühl, die kindlichen Gedanken an Brust, Brustwarzen, wohlige Wärme, weiche Haut und süßlich schmeckende Muttermilch. Ich suche die Geborgenheit in meinem Reich, begrenzt von geklöppelter Spitze, weicher Decke, einem Kopfkissen mit echten Daunen und der Festungsmauer aus geflochtenem Korb. Hier bin ich sicher, hier ist mein Reich. Abrupt werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Mama hebt mich heraus aus meinem Reich, klemmt mich unsanft unter den Arm und steigt die Treppen bis ins vierte Obergeschoss hinauf. Ich fühle mich unwohl. Wo ist die Wärme und Geborgenheit hin? Warum schmiegt sie mich nicht an ihre weiche kleine Brust? Ich beginne zu weinen, will ihr sagen:

 

„Drück mich an dich, an deine Brust – hab mich lieb.“

In der Wohnung werde ich im Kinderbett zwischengeparkt. Mir selbst überlassen weine ich leise vor mich hin. Mama soll nichts mitbekommen von meiner Traurigkeit, sie nicht. Ein männliches Gesicht, leicht verschmutzt, mit vereinzelten Bartstoppeln, die zu einem gescheiten Bart nie reichen werden, beugt sich über mich, lächelt kurz und verkrampft. Eine ebenso schmutzige, nach Maschinenöl riechende Hand streicht über mein Haar. Ende der Zärtlichkeit. Der alltägliche Zank um Kind, Geld, Arbeit und dem Sinn des Lebens mit all den nie in Anspruch genommenen Annehmlichkeiten wie Geselligkeit, Vergnügen, ausgelebtem Sex geht in die erste Runde. Zur Unterstützung der Argumente werden Zimmertüren lautstark ins Schloss geworfen, Stimmen heben sich wie beim Marktschreier, wenn er seine Waren feilbietet. Stille. Mama schluchzt. Eine Kanonade von Schimpfwörtern aller Art und Deftigkeit pfeift durch Raum und Zeit. Wie so häufig beendet der mit den Bartstoppeln im Gesicht und den ölverschmierten Händen den Disput auf seine Art: schlagkräftig und durchgreifend. Nach einer geraumen Zeit erinnert man sich daran, dass ich nur zwischengeparkt bin, noch zu essen brauche, gebadet und gewindelt werden muss und schließlich ins Bett, das für den heutigen Tag die Endstation ist. Insgeheim freue ich mich, dass ich rein durch meine Anwesenheit – oder anders, durch mein Sein – zur Unterbrechung des Zwistes beigetragen habe. Waffenstillstand!

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie sich ein solcher Abend in der Familie im Weiteren gestaltet. Kriegt man die Kurve und die handgreiflichen Auseinandersetzungen werden für beendet erklärt, dann kann es schon noch richtig nett werden. Gewöhnlich genehmigt man sich eine Flasche ‚Lockwitzer Mehrfruchtwein‘ für 2,75 Mark. Nach dem ersten, spätestens dem zweiten Glas fällt man übereinander her, anders als zuvor beim Streit. Nach kurzem Kraftaufwand, man hat schließlich den ganzen Tag gearbeitet, lässt man voneinanderab. Der mit den Stoppeln im Gesicht und den ölverschmierten Händen setzt sich in der Küche Wasser auf, um sich, zumindest oberflächlich, zu waschen. Ab ins Bett. Ein Blick ins Kinderbett ist nicht mehr notwendig, denn ich schlafe ja schon, denken sie. Mama, die noch lange nicht schläft, denn sie hat auch nicht den ganzen Tag gearbeitet, sitzt zusammengekauert, die Beine ans Kinn gezogen, auf dem Sofa, wippt sanft hin und her. Wie eine Schlange, die ihre Beute fixiert und zum Fliehen unfähig macht, haftet ihr Blick am ‚Lockwitzer‘, der noch einen kleinen Rest zum Genuss bietet. Mit dem Glas, das noch zur Hälfte gefüllt ist, lässt Annemarie die letzte halbe Stunde, die mit dem Sex, Revue passieren. Verbitterung breitet sich in ihren Gesichtszügen aus. War es das mit 26 Jahren? Soll das alles gewesen sein – Kind, Mann, Sex, wenn er es will oder ich es mir hole?

Ihre Gedanken gehen auf Zeitreise. Es ist das Jahr 1947, sie ist 18 Jahre jung, frisch verliebt in einen starken gutaussehenden Mann, braungebrannt, mit einem bestimmten Charisma, eben der Frauenkenner. Harald, Bauingenieur, von der Front verschont, da er wichtige Aufgaben im deutschen Hinterland zu erfüllen hatte. Ein Bild von einem Mann. Es dauert keine zwei Monate, bis ein schöner goldener Ehering ihre rechte Hand schmückt. Sie hat es ihm nicht einfach gemacht. Sie, die so kindlich wirkt, mit den kaum vorhandenen Brüsten, den unschuldigen Lenden, den straffen Schenkeln, den schlanken Waden und den langen, pechschwarzen lockigen Haaren. Eine Kindfrau wird sie genannt. Stolz zieht sie mit ihrem Harald durch die Bars, lässt sich zuprosten, saugt die geilen Blicke anderer in sich hinein. Sie fühlt sich stark in diesen Männerrunden, in denen sie, nur sie der Mittelpunkt ist. Sie kokettiert, wirft gierigen Mannsbildern, die sie mit den Augen ihrer Hüllen berauben, verstohlene Blicke zu. Blicke, die so manchem Kerl das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, das als Sabber aus den Mundwinkeln tropft. Aber eins ist klar: Außer Harald darf sie keiner anfassen. Seht her, ihr Neider, das ist mein Harald, mein Mann, der gehört mir, mir allein – hämmert es in ihren Gedanken.

Ihn, Harald, schert das wenig. Wollüstig leckt er der einen oder anderen Dame beim Tanz den Hals entlang, beißt sie ins Ohr, drückt ihren Schoß an seinen Freudenspender, der deutlich durch die Hose zu spüren ist. Sein Verhalten hat Methode. Es klappt bei fast allen Frauen, zumindest bei allen, die sich in solchen Bars herumtreiben und denen auf der Stirn geschrieben steht: „Ich will Abenteuer – ich bin heiß vor Verlangen.“

Annemarie fühlt sich zur gleichen Zeit durch den Genuss ihres Ruhmes im Umgang mit Männern berauscht. Sie ist so auf ihr Tun fixiert, dass alles andere um sie herum unwichtig wird. Auch, dass Harald mit dem Barkeeper seit Langem ein stillschweigendes Abkommen hat, für das er ihn gut bezahlt, damit er im Gegenzug das als Liebesnest umfunktionierte Büro im hinteren Trakt nutzen kann. Wenn Harald diesen Rückzugsort mit einer neuen Eroberung in Anspruch nimmt, genügt ein kurzes Zeichen, ein Blickkontakt mit dem Barkeeper, der sodann dafür sorgt, dass Annemaries Sektschale nie leer wird.

An vielen solchen Abenden mit immer diesem Ritual auf allen Seiten ist bisher alles glatt gelaufen. Hat Harald sein „Geschäft“ erledigt und kehrt befriedigt an die Bar zurück, nimmt er Annemarie in den Arm, drückt ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund und erklärt den Herren drum herum, dass es nun Zeit ist, mit seiner Frau nach Hause zu gehen. Nur am 16. August 1947 ist alles anders, erinnert sich Annemarie mit Tränen in den Augen und der Film läuft ab, so, als würde es gerade jetzt passieren.

An diesem Tag, er hat sich in ihre Seele tief eingebrannt, lässt sie sich vorerst wie immer von der Männerwelt betören. Einer der Kerle, den sie von Anfang an nicht leiden kann und der sie ständig eklig anmacht, greift ihr auf dem Barhocker unverhofft zwischen die gespreizten Schenkel, am Slip vorbei, mitten rein in die nasse Vagina. Das geschieht so schnell, dass Annemarie im ersten Moment nicht reagieren kann. Mit seinen Fingern fährt er die Schamlippen entlang und massierte sie. Dann zieht er die Hand zurück, so schnell wie sie zuvor auf Erkundung gegangen ist. Er leckt sich mit der Zunge die Lippen, feuchtet sie an, um im gleichen Moment seine bösen Finger dazwischen verschwinden zu lassen. Wie berauscht scheint er sich am Liebessaft zu erlaben. Das ist zu viel für Annemarie. Mit ihrer kleinen Faust schlägt sie ihm eine Gerade mitten zwischen die Augen, ohne zu überlegen, nur dem Impuls folgend. Man hat sie zutiefst gekränkt, nicht durch die Tat an sich, sondern weil sie es nicht bestimmen durfte. Ihr Gegenüber fällt wie ein nasser Sack vom Barhocker und bleibt regungslos am Boden liegen. Daraufhin erfasst sie Panik. Nur schnell weg hier. „Harald, wo bist du?“, denkt sie noch, als sie mit starrem Blick in Richtung Wirtschaftstrakt läuft. Dort angelangt und vermeintlich in Sicherheit, reißt sie eine der letzten Türen auf, um sich zu verstecken. Unvermittelt steht sie in einem spärlich beleuchteten Raum, der neben einer dürftigen Büroausstattung noch mit einem riesigen Bett versehen ist. In Gedanken wundert sie sich noch über diese eigenartige Konstellation: Was nun, Büro oder Schlafzimmer? Mehr an Gedanken lässt ihr Gehirn nicht zu. Jetzt hat sie die beiden nackten, in sich verschlungenen Körper bemerkt.

„Harald, nein, das darf nicht sein!“, bricht es aus ihr heraus.

Er liegt auf seiner Gespielin, hat die Lippen in ihr vergraben. Sie verbirgt ihren Kopf zwischen seinen Beinen, scheint das dazwischen Befindliche förmlich zu verschlingen. Durch Annemaries Aufschrei lässt er kurz von seinem Tun ab, blickt auf und schreit sie mit erregter Stimme an.

„Hab dich nicht so, bist doch sonst nicht so prüde, komm her und mach mit oder verschwinde.“

Langsam dreht sich Annemarie um, geht auf den Gang hinaus, schließt ganz behutsam und leise hinter sich die Tür.

Sie hat Harald immer geliebt, hat ihm bedingungslos ihre Liebe zu Füßen gelegt, hat mit sich willig alles machen lassen. Sie war unerfahren in Liebesdingen und dankbar für jede Minute, die Harald sie begehrte. An diesem Tag bricht für sie eine Welt zusammen. Nichts ist mehr wie zuvor. „Aus, es ist aus, das Leben ist nicht mehr lebenswert“, denkt Annemarie und schleppt sich zutiefst gekränkt nach Hause. Sie weiß nicht mehr weiter, nur eins ist ihr klar: Sie will nicht mehr leben. Ihr Ausweg sind die vier Griffe am Gasherd.

Sie erinnert sich nicht mehr, wie lange sie mit dem Kopf in der Backröhre kauert. Eine feste, starke Hand ergreift ihr Haar, zerrt sie über den Fußboden hin zum Ausguss. Harald reißt den Körper hoch, drückt den Kopf in das Becken und lässt mit vollem Strahl kaltes Wasser über den Kopf laufen. Der Abfluss schafft den Wasserschwall nicht so schnell wie neues zuläuft. Immer höher steigt der Pegel. Annemaries Gesicht ist unter ihm verschwunden. Mit letzter Kraft ringt sie um Luft zum Atmen. Ihre Lebensgeister kommen langsam wieder. Harald dreht das Wasser ab, lässt sie auf den Boden sacken.

„Ich lasse mich scheiden“, sind seine letzten Worte, bevor er die Wohnung verlässt.

Wenige Tage später erfährt Annemarie, dass sie im dritten Monat schwanger ist. Wieder erfasst sie Panik. Harald hat sich seit ihrem Suizidversuch nicht mehr sehen lassen. In Verzweiflung, weil sie mit einem Kind vollkommen überfordert ist, so meint sie, bleibt ihr nur der Abort, ein Kindsabtrieb. Sie weiß aus dem Elternhaus, wie ihre Mutter das mehrfach erfolgreich angestellt hat. Fest entschlossen, nicht noch ein Kind zu bekommen, trifft sie alle Vorkehrungen. Aber weder heißer Rotwein mit Nelken noch Sprünge vom Küchentisch oder eine Klistierspritze, die sie sich bis zum Gebärmuttermund schiebt, zeigen Wirkung. Auch ein Gesprächsversuch mit Harald ändert nichts an der verfahrenen Situation. Er habe die Scheidung bereits eingereicht, das Kind sei ihm wurscht, so sagte er, Alimente würde er zahlen, aber eine verbotene Abtreibung zu arrangieren, käme für ihn nicht infrage. Er ließe sich sein Leben nicht verpfuschen. Sie solle selber sehen, wie sie zurechtkäme, aber ohne ihn. Schließlich gibt sie den Versuch auf, sich gegen die Natur zu stemmen. Vier Tage zu früh gebärt sie einen gesunden Sohn, Wolfgang nennt sie ihn, und ist nun alleinerziehende Mutter. Die Scheidung ist durch, sie erhält fünfundvierzig Mark monatlichen Unterhalt, und das Leben geht weiter.

Tränen rinnen über ihre Wangen. Längst hat sie auch die eiserne Reserve „Lockwitzer“ zur Hälfte in sich hineingeschüttet. Verbitterung hat sie in Besitz genommen, beeinflusst sie, macht sie zum willenlosen Spielball ihrer Gefühle. Sie denkt an ihre Eltern, an ihre Kindheit. Sie, das ungewollte Kind, zur Welt gekommen mit pechschwarzen Haaren, hellbrauner Haut und dunklen großen Augen. Der Vater hatte sich von der Wiege abgewandt und vor sich hingesagt „Zigeunerkind“. Das war das Brandmal auf der Haut ihrer Seele. Das ungeliebte Kind, zum Achtel abstammend vom Ururgroßvater, Italiener, Zigeuner.

Durch all die Jahre der Kindheit hat sie dieser Makel begleitet. Die Brüder werden vom Vater hochgehalten. Die dürfen so gut wie alles. Die Mädchen, und insbesondere Annemarie, stehen hinten an. Sie ist die Drittälteste der Geschwister und das erste Mädchen in der Großfamilie. Vielleicht deshalb war die Enttäuschung beim Vater so groß, die Verachtung so spürbar. Sollte es doch der dritte Junge werden, und dann das: eine Zigeunergöre. Insgesamt siebenmal probt er noch die Zeugungsfähigkeit, einmal war es eine Totgeburt. Seine Frau hat schon immer Angst, wenn es mit ihm mal wieder durchgeht. Dann hängt Vaters Unterhose über dem Bettende und sie muss fügsam sein, gehorsam und willig. Im Geheimen hofft sie von Monat zu Monat, dass der Kelch an ihr vorübergeht, sie nicht schon wieder schwanger ist. Einige Male muss sie zur „Kräuter-Erna“ gehen, mit Brot, Wurst und Eiern, was doch zuhause kaum entbehrlich ist. Sich krümmend vor Schmerz kommt sie dann am späten Abend zurück mit blutverschmierten Schenkeln. Das sind im Leben der Großfamilie die einzigen Tage, an denen der Vater sich um die Kinder kümmert, sie versorgt und ins Bett bringt. Still, ohne Worte funktioniert die Verständigung zwischen den Eheleuten.