Das Akkordeonspiel

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Annemarie wird mit 14 Jahren aufs Land verschickt. Zur Entlastung der deutschen Mutter, deren Mann an der Ostfront kämpft. Das sind zwei gute Jahre. Die Bauern sind freundliche Ersatzeltern, kinderlos, mit kleiner Wirtschaft. Ein Dutzend Hühner, drei Gänse, zwei Schafe und die Milchkuh „Paula“, so hat Annemarie sie heimlich getauft. Sie geht den beiden zur Hand so gut es geht. Sie putzt das Haus, füttert die Kleintiere und zieht mit auf das Feld, um Rüben zu stechen. Zu essen gibt es reichlich, man ist Selbstversorger. Alles, was die Wirtschaft nicht hergibt, wird getauscht, gehandelt oder erworben, indem Familienschmuck, Möbel oder Gerätschaften den Besitzer wechseln. Kurz vor Kriegsende, als die Amerikaner immer näher rücken, muss Annemarie mit einem der letzten Züge zurück nach Chemnitz. Dort wird sie wieder in die Familie aufgenommen, ohne Frage, wie es ihr ergangen ist. Sie spürt die Blicke der Geschwister, die nun das wenige Essen auch noch mit ihr teilen müssen. Sie ist unerwünscht, ungeliebt von der Mutter, vom Vater, der weit weg ist. Vielleicht ist es aber auch die Zeit, die Umstände, das Leben selbst, wovon man nicht so viel erhoffen kann, in den Jahren der Not, stets umgeben vom Tod, dem täglichen Kampf ums Überleben. Was kann man da schon erwarten? Annemarie fügt sich ihrem Schicksal und hofft sehnsüchtig auf bessere Zeiten. In Gedanken ist schon alles vorgezeichnet. Sie will ausbrechen aus diesem düsteren, stinkenden Milieu, begehrt werden von Männern, auf Händen getragen werden. Vermögend, ja, das wäre gut. Ein Ehemann, der erfolgreich ist, sie liebt, verwöhnt, ihr schöne Sachen kauft, mit Schmuck beschenkt. Kinder – nein! Sie will keine Kinder. Das ist Ballast. Das ist eine Last, die sie nicht zu tragen gewillt ist. Tief im Inneren spürt Annemarie wieder die Verachtung, die ihr die Kindheit zur Hölle machte. Sie ist stumpf, ohne Gefühl, verbittert, ausgegrenzt aus dieser Welt. Ja, eine Ausgestoßene, das trifft es.

Mit letzter Kraft setzt sie das Glas an die Lippen, schluckt hastig. Wie eine Verdurstende schlingt sie den Rest „Lockwitzer“ in sich hinein. Dann fällt das Glas zu Boden, hinterlässt auf dem Teppich einen dunklen Fleck, der sich rötlich in die vorhandene Fleckenlandschaft einfügt. Annemarie ist nicht mehr fähig, sich in ihrem Schicksal zu bemitleiden. Die Kraft ist ausgegangen. Heute will sie nicht mehr kämpfen, sich nicht mehr im Streit mit ihrem Ehemann behaupten. Sie will nur noch ihre Ruhe finden, sie, das Zigeunerkind.

4. Kapitel

Irgendetwas flackert vor meinen fest geschlossenen Augen. Die Grautöne verändern sich. Ich will mich darauf konzentrieren, aber es funktioniert nicht. Je intensiver ich versuche, das Geschehen zu deuten, desto mehr sacke ich ab in den unendlichen Raum, beginnt mein Körper zu kreisen. Immer schneller werden die Bewegungen um meine eigene Achse. Mal kopfüber, dann seitlich mit schlapp herabhängenden Gliedern, einem gefühllosen Rumpf, so geht es immer weiter in den endlosen Abgrund. Ich kann nichts aufhalten, nichts beeinflussen. Ich bin schutzlos ausgeliefert. Ich ergebe mich dem Schicksal.

Grelles Licht blitzt auf, die warme Augustsonne brennt auf der Haut. Ich fühle das Leinenhemdchen auf dem Oberkörper, spüre, wie die Hitze sich darunter breitmacht. Aus meiner Festung heraus, umgeben von geklöppelter Spitze, beginne ich zu erkunden. Mama sitzt auf einer Bank, neben ihr die rauchige Stimme mit dem Bronchialhusten.

„Stell dir vor, Anni, hat mich doch gestern ein Kerl angesprochen und nach dir gefragt“, informiert Eva geheimnisvoll.

„Und weiter?“, fragt Annemarie neugierig.

„Na, er würde dich gern treffen. Er hat uns letzte Woche gemeinsam gesehen. Er ist so abgefahren auf dich, Wahnsinn, eben Südländer. Sieht übrigens aufregend aus, schwarze gelockte Haare und Augen, sag ich dir, wie ein Stier.“

Mit den Fingern bildet Eva Kreise um die Augen, schaut hindurch und ein Lachen, begleitet von kleinen Hustern, deutet die Zwiespältigkeit ihrer Aussage an. Annemarie hat verstanden, denkt: „Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder. Das geht nicht.“

„Hast du ihm gesagt, dass ich gebunden bin und Kinder habe?“, fragt sie mit einer Prise Entrüstung.

„Dass du verheiratet bist, schon. Dass du Kinder hast, muss er ja nicht unbedingt wissen. Also, organisieren wir ein Stelldichein oder nicht?“

„Ist ja gut“, gibt Annemarie zurück, „und wie soll das abgehen?“

„Ganz einfach. Du triffst dich mit ihm in der ‚Libelle‘ am Samstag, nachdem wir deinen Mann k. o. gesetzt haben. Du hast selbst gesagt, er verträgt wenig. Wenn er genügend intus hat, schlummert er friedlich ein und wird durch nichts mehr wach.“

„Das stimmt schon, aber ‚Libelle‘ scheidet aus. Da bin ich bekannt wie eine Straßennutte. Dort bringt mich keiner mehr rein“, resümiert Annemarie mit einem keuschen Augenaufschlag.

„War ja nur ein Vorschlag. Pass auf, ich hab’s“, sprudelt es aus Eva heraus. „Wir drehen die Party einfach um. Ich komme zu euch, bring vorsichtshalber noch Hochprozentiges mit, und wenn dein Mann in die ewigen Jagdgründe entschwunden ist, gehen wir einfach zu mir“, triumphiert Eva, sie ist sich sicher, den perfekten Plan entworfen zu haben.

„Und was ist mit den Kindern?“, fragt Annemarie besorgt.

„Und was ist, wenn der Topf aber nun ein Loch hat, lieber Heinrich, lieber Heinrich?“, äfft Eva sie nach.

„Tut mir leid, aber ich hab so etwas noch nie gemacht, ehrlich“, rechtfertigt sich Annemarie. „Ich habe noch nie einen Mann betrogen.“

„Hattest ja nur zwei, oder hast du mir was verschwiegen?“

„Nein, nein, ich hatte wirklich nur zwei“, erwidert Annemarie kleinlaut.

„Da wird es aber Zeit, mein Mädel, sonst wachsen dir noch Spinngewebe an deiner Muschi“, lästert Eva.

„So ist es nun auch nicht. Paul besorgt es mir schon, wenn auch nur ab und zu. Aber mir reicht das“, verteidigt sich Annemarie und merkt im selben Moment, dass sie sich soeben belogen hat.

Wie oft lag sie heiß zwischen den Beinen neben ihm, hat ihn berührt, dort, wo es bei jedem Mann sofort funkt. Aber da passierte nichts, außer seinem Kommentar, dass er müde wäre und schließlich zeitig raus müsse. Mit Harald war es anders gewesen. Der hatte sie richtig genommen, von allen Seiten, hatte ihr förmlich die Seele aus dem Leib gestoßen. Oh, oh, hatte sie da schlimme Sachen mit sich machen lassen. Dafür schämte sie sich heute noch, erkennt Annemarie in Erinnerung versunken.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, fragt Eva und rüttelt sie kräftig am Arm.

„Du tust mir weh“, wehrt Annemarie ab, weil sie sich ertappt fühlt.

„Also noch einmal: Wir feiern bei euch, füllen Paul ab, und wenn er schläft, gehst du zu mir rüber. Ich bleibe bei euch, wegen der Kinder. Wenn Paul wach wird, sag ich ihm, dass du dich über seine Besoffenheit geärgert hast und für ein Weilchen das Tanzbein schwingst. Dagegen kann er nichts machen, das hat er sich doch selber eingebrockt. Wenn ich den Typen treffe, vereinbare ich euch für Samstag ab elf Uhr in der Nacht. Ist das ein Wort, mein Mädel?“

Ohne eine Gegenwehr zuzulassen, redet Eva sofort weiter auf ihr Patenkind ein. Sie ist sich sicher, Anni jetzt am richtigen Nerv gepackt zu haben. Gleichwohl fühlt sie sich wie die Meisterin, die der hörigen Schülerin die Flötentöne beibringt.

„Lass es dir doch mal gut gehen. Glaube mir, die Männer verdienen es nicht anders. Hast doch selbst deine Erfahrungen gemacht, mit Harald, meine ich, und wie er dich betrogen hat. Zahl es der Männerbagage heim, die verdienen es nicht anders“, ereifert sich Eva.

Sie merkt, wie der Widerstand stückchenweise bricht.

„Komm, Anni, lass es uns wenigstens ausprobieren. Wenn’s dir nicht taugt, lässt du es eben. Aber einmal musst du das erleben, mein Schätzchen, so richtig fremdgevögelt zu werden – das ist knorke.“

„Ich habe Angst, dass etwas schief geht. Ich würde mir ein Leben lang Vorwürfe machen“, wimmert Anni leise.

In Innersten brennt aber bereits das Feuer. Lichterloh schlagen die Flammen der Begierde, der Lust am Verbotenen in ihr auf. Wie in Trance wendet sie sich Eva zu und küsst sie zärtlich auf den Mund. Erschrocken fährt sie zurück, tut, als ob nichts geschehen wäre. Aber Eva hat den Impuls sofort erkannt. Ihr Mädel ist reif, sie ist nur noch zu pflücken. „Das wird eine schöne Zeit“, denkt sie und gibt Annemarie ein Freundschaftsküsschen auf die Wange zurück.

Mit der Verabschiedung werde ich aus meiner Entdeckertour gerissen. Ich habe wohl gehört aber natürlich nicht begriffen, doch irgendetwas Geheimnisvolles, Schönes musste es sein. Ich sehe es deutlich an dem Gesichtsausdruck von Mama, so strahlend, in den Augen leuchtend habe ich sie noch nie gesehen. Etwas ganz Großes bahnt sich an. Was nur hat eine solche Veränderung in Mama bewirkt? Im Hausflur nimmt sie mich behutsam aus meiner Festung mit dem geklöppelten Spitzenrand. Sie drückt mich an ihre kleine Brust, gibt mir einen Kuss auf die Stirn, streicht mir mit der freien Hand sachte über den Kopf. Ich verspüre Angst. Was ist nur geschehen? Ich empfinde plötzlich ihre Zärtlichkeit als Schmerz, als ein tief von innen kommendes Brennen. Sie liebkost nicht mich, sondern die Erwartung auf das Unheimliche, das Geheimnisvolle, das Große. Vor Beklemmung beginne ich zu weinen, laut, angstvoll, in Verzweiflung dessen, was geschehen wird, von dem ich weiß, es ist außergewöhnlich, noch nie da gewesen, etwas, was meine Vorstellungskraft übersteigt. Was nur ist das Unabwendbare, Zerstörerische, vor dem ich eine solche unsagbare Angst habe?

Ich spüre, dass heute die Zeit sein muss, da das Unvermeidbare geschehen wird. Mama ist aufgeregt, mit den Gedanken weit fort. Der mit den Bartstoppeln und den ölverschmierten Händen hat sich gebadet, in der Blechwanne in der Küche, mit in großen Töpfen auf dem Gasherd erwärmtem Wasser. Ich habe mit ihm gemeinsam gebadet. Nachdem die Haut aufgeweicht ist, hat er die ölverschmierten Hände mit einer Bürste und viel Seife geschrubbt. Danach, vor dem Spiegel, geht es den Bartstoppeln an den Kragen. Mit Schaum und einer scharfen Klinge haben sie keine Chance. Nun passt die Bezeichnung nicht mehr: „der mit den Bartstoppeln und den ölverschmierten Händen“. Ich erinnerte mich, dass meine Mama öfters Paul oder auch Papa zu ihm gesagt hat. Also ab sofort Papa, zumindest so lange, bis wieder Bartstoppel und ölverschmierte Hände zutreffender sind. Mama nimmt in dem Rest Warmwasser ihr Bad, wäscht sich gründlich und in Gedanken versunken, reibt sich mit dem Waschlappen ihre kleine Brust, den Bauch, die Lenden. Langsam und intensiv gleitet die Hand mit dem Lappen zwischen die Beine, über die straffen Schenkel, fährt über die Pobacken, die prall und rund geformt sind. Sie genießt das Bad. Dabei ist es ihr vollkommen gleich, dass ihr siebenjähriger Sohn Wolfgang das Treiben mit tiefrotem Gesicht und Stielaugen, die man mit der Hitsche abschlagen könnte, beobachtet. Sie ist weit weg, in einer anderen Welt, die voller Erfüllung, bunt schillernd und ohne Sorgen und Probleme ist.

 

Wir werden zeitig zu Bett gebracht. Mama singt uns ein Schlaflied vom Schaf, was sie noch nie getan hat, Papa, der ohne Bartstoppeln und ölverschmierte Hände, steht im Türrahmen und sieht irgendwie anders aus. Er lächelt, macht Bewegungen so ausladend wie ein Dirigent vor einem hundertköpfigen Orchester. Behutsam schließt sich die Tür und es zieht Ruhe ein.

In der Nacht erwache ich. Mein Bruder schnarcht leise vor sich hin und ich lausche auf das, was im Nebenzimmer, der Wohnstube, zu hören ist. Die mit der rauchigen Stimme, heute ohne Bronchialhusten, dominiert die Runde bestehend aus ihr, meiner Mama und, ah ja – Papa.

„Ich finde es super, wie ihr euch eingerichtet habt. In so kurzer Zeit. Ihr seid ja erst, wenn ich richtig gerechnet habe, knapp drei Jahre verheiratet. Respekt – tolle Leistung“, lobt Eva.

„Darauf müssen wir einen trinken. Prost, Paul, ich heiße Eva, lass uns Brüderschaft anstoßen.“

Ein Klirren, dann Stille. Bis das Gespräch wieder aufgenommen wird.

„He, lass von Eva ab. Du sollst sie nicht gleich verschlingen. Musst ihr keinen Zungenkuss geben“, höre ich meine Mama sagen.

„Jetzt hab dich nicht so, Anni. Einen Kuss in Ehren kann keiner verwehren. Ich will außerdem nur testen, ob dein Mann wirklich so ein flotter Feger ist, wie du immer sagst“, kontert Eva.

„Hab ich nie gesagt.“

„Doch, hast du gesagt.“

„Nein, hab ich nicht gesagt“, frotzeln die Frauen miteinander.

Sie wissen genau, was das Ziel dieses Disputes ist. Paul schwillt der Kamm. Er fühlt sich als Hahn im Korb und lässt sich von den Damen unbemerkt abfüllen. Zuletzt, bevor er ins Alkoholkoma fällt, knutscht er beide Frauen abwechselnd, jedoch mit nachlassender Intensität. Der Alkohol hat seinen Dienst erbracht. Mit einem Turm in der Hose ist er an den prallen Brüsten von Eva eingeschlafen, tief und fest.

Jetzt ist die Zeit für Annemarie gekommen. Ihr Herz pocht bis zum Hals. Sie hat feuchte Hände vor Aufregung. Im Kopf fahren die Gedanken Karussell. Sie will das alles nicht, sie will nur Paul, eine gute Mutter sein, treu, ergeben, aufopferungsvoll, leidenschaftlich. Nein, sie will nicht mehr willig sein, bereitwillig, wenn es dem Mann danach ist. Sie will ab sofort selbst bestimmen, was geht und was nicht geht. Sie mag nicht mehr nur ein williges Stück Fleisch sein, dem Willen des Anderen ausgeliefert. Ab sofort will sie beherrschen, die Richtung bestimmen. Sie wird sich von keinem mehr in ihr Leben hineinreden lassen.

Annemarie bündelt alle Kraft, fasst das letzte Quäntchen Mut, um den Sprung über den Graben, den inneren Schweinehund zu schaffen. Sie schafft ihn. Von sich selbst gelobt über den Mut schreitet sie zur Tat. Jetzt ist es nicht mehr schwierig, jetzt sind alle Skrupel beseitigt. Nur noch frei sein. Selbst bestimmen, das Leben in vollen Zügen genießen, das ist wichtig.

Mit schnellen Schritten erreicht sie die gegenüberliegende Häuserzeile. Den Schlüssel fest umklammert, voller Erwartung dessen, was da kommen wird, eilt sie zum Hauseingang. Ein leiser Pfiff gibt ihr die Richtung. Ihr Auserwählter, der alles Verändernde steht bereit. Es bedarf keiner Begrüßung. Lautlos überwinden die beiden die wenigen Meter bis zum Himmel, oder besser bis zur Hölle. Wie wilde Tiere fallen sie über sich her, reißen sich die Sachen vom Leib. Annemarie denkt im Moment nicht daran, dass sie es wird erklären müssen, wenn sie mit einem Kleid ohne Knöpfe zurückkehrt. Wichtig ist ihr nur noch der Moment. Sie spürt seine Umarmung, die Liebkosung vom Hals abwärts bis ganz nach unten. Sie vibriert, verbiegt sich unter der Last der Gefühle, die sie so intensiv noch nie erlebt hat. Sie schwebt auf einer Wolke aus Wollust. Gierig gleitet sie an ihm herab, ihm Gleiches bereitend. „Komm, nimm mich“, gibt sie ihm zu erkennen. Mit brachialer Gewalt, ungestüm und von dem Drang besessen, den finalen Schuss zu setzen, dringt er in sie ein. Ihr Leib bäumt sich auf, ein Schrei der Begierde löst sich aus ihr. Im Rhythmus der Stöße gibt sie laute Schreie von sich. Er hält ihr den Mund zu, presst sie an seinen Körper, stößt immer fester zu, bis ihr Schreien verstummt und nur noch ein Beben zu verspüren ist. Zum zweiten Mal strömt der Liebessaft tief in sie hinein. Keine Verhütung kann den Strom verhindern. Annemarie ist es egal. Sie genießt das berauschende Spiel der Gefühle. Selbst Harald war ein Anfänger im Vergleich zu diesem Mann. Jetzt erst, etwas abgeklungen, merkt sie, dass sie nicht einmal seinen Namen weiß. Von nun an, so beschließt sie, soll er Herkules heißen. Die griechische Sage kennt sie nicht, aber sie ist sicher, er muss es sein, der mit dem riesigen Glied.

Als es hell wird, räumen sie das Liebesnest. Höflich verabschieden sie sich mit dem Versprechen, in Verbindung zu bleiben. Annemarie ist klar, dass es kein zweites Mal geben wird. Die Gefahr entdeckt zu werden ist einfach zu groß.

Irgendetwas tut sich nebenan. Gedämpftes Licht breitet sich im Wohnzimmer aus. Paul liegt auf dem Sofa, hat die Augen halb geschlossen, und ergibt sich dem Tun von Eva. Ihr ist es zu langweilig geworden, nur darauf zu achten, ob eines der Kinder wach wird. Vielmehr hat sie Interesse, Paul wach zu bekommen. Nur so ist es ihr möglich, sich von ihm zu nehmen, wonach sie Verlangen hat. Ihre prallen Brüste sind entblößt, sie reibt sie auf Pauls nacktem Bauch. Von meiner plötzlichen Anwesenheit aufgeschreckt, lässt sie von dem willigen Opfer ab, ergreift mich derb am Arm und bringt mich dorthin, wo ich hergekommen bin – ins Bett. Leise, aber doch sehr deutlich zischt sie:

„Unterstehe dich, noch mal rauszukommen. Ich dreh dir den Hals um.“

Ich begreife zwar nicht, was sie damit meint, aber ich empfinde es als sehr bedrohlich. Deshalb bleib ich, wo ich bin und vernehme nur aus der Ferne, was geschieht, als Mama in das Geschehen eingreift.

„Was ist denn hier los?“, höre ich Mama empört fragen.

„Ihr Schweine, müsst ihr hier rumvögeln? Das glaube ich nicht. Von dir, Eva, als meine beste Freundin, hätte ich etwas anderes erwartet. Schäm dich. Und du Bock, sieh zu, dass du wegkommst, sonst erschlage ich dich.“

Annemarie spielt die Rolle perfekt und glaubwürdig. Aber ist es überhaupt Spiel, ist es nicht doch ehrliche Entrüstung über die Entgleisung der beiden? Ist sie zurückgekehrt zu ihrer Moral, eine gute Mutter zu sein, treu und ergeben, aufopferungsvoll, leidenschaftlich und brav?

„Lass es gut sein. War’s denn wenigstens schön?“, höre ich die rauchige Stimme sagen.

„Raus, raus alle beide!“, schreit Mama, dann wird es still.

Nach einer Weile setzt ein Wimmern ein, leise, dann lauter. Schluchzen, Schreie, ein Dröhnen und Poltern. Markerschütternd, und bedrohlich zugleich. Meine Neugierde treibt mich wieder aus dem Bett. Vorsichtig öffne ich die Tür zur Wohnstube. Mama sitzt auf dem Sofa, trommelt mit ihren kleinen Fäusten auf die Tischplatte, hat soeben den Leuchter vom Tisch gefegt, der in die Ecke unter dem Fenster kullert, als wollte er sich aus dem Schlachtfeld stehlen. Mit leerem Blick und tränenüberströmt schaut sie zu der offenen Tür. Beide Arme strecken sich in die Richtung aus. Für mich die eindeutige Aufforderung, zu ihr zu kommen. Langsam, verängstigt und unsicher überwinde ich den kurzen Weg. Mama schlägt die Arme um meinen Körper, lässt sich zur Seite fallen und bedeckt mich mit ihrem Leib. Wie eine Wölfin das Junge, so hält sie mich fest, drückt mich an ihre bebende schluchzende Brust.

5. Kapitel

Nein, ich will diese Nähe nicht! Lass mich los, gib mich frei, du tust mir weh! Mein Körper ist regungslos, wie in Beton gegossen. Ich kann mich dieser Nähe nicht entziehen. Warum hilft mir keiner? Hilfe, Hilfe, Hilfe …

Ein besorgter Pfleger der Intensivstation blickt auf die Geräte, die Karl Nebel umgeben. Er regelt etwas nach, wendet sich Susanne zu und gibt ihr durch ein kurzes Nicken zu verstehen, dass alles in Ordnung ist. Am Bett sitzend wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Soeben hat sie begonnen, Karl die Geschichte ihres Kennenlernens zu erzählen.

„Weißt du noch, wie wir uns das erste Mal im Hausflur begegnet sind. Ich war mit meiner Familie von Sachsen-Anhalt nach Sachsen umgezogen, in die kleine Zweizimmerwohnung, obwohl die Tochter schon acht Jahre alt war. ‚Eine Wohnung mit Kinderzimmer haben wir nicht, müsst halt so zurechtkommen‘, hatte der Oberleutnant vom Stab gesagt, der für die Wohnraumvergabe verantwortlich war. Du warst seit mehreren Monaten gegenüber beschäftigt, so hatte ich gehört, Löcher in die Wände zu bohren. Ich konnte nicht begreifen, warum die Dreizimmerwohnung nutzlos leer stand und wir nebenan eingepfercht waren. Na gut, ich erfuhr später, dass deine Frau ihre Tochter mitgebracht hatte. Aber ungerecht war es trotzdem. Ich stehe also so vor der Tür, du gegenüber, bewaffnet mit Schrubber und Eimer, im Begriff die Treppe zu wischen. Weißt du noch, was du geantwortet hast, als ich dir meine Hilfe bei der Hausordnung anbot? Ja, mein Lieber, ohne mich anzusehen kam: ‚Das kann ich selber‘, mehr nicht. Was für ein kotzüberheblicher Heini, habe ich damals gedacht. Das habe ich dir aber auch schon ein paar Mal erzählt.“

Susanne hält inne, als warte sie darauf, dass Karl ihr antwortet. Aber er liegt noch immer im Koma und die Ärzte geben keine Prognose. Dass es dauern könne, hat sie nur erfahren, als sie besorgt nachgefragt hat.

Wieder wischt sie sich Tränen vom Gesicht. Sie kann einfach diesen ständigen Fluss nicht unterdrücken. Nach Tagen hat sie es aufgegeben, ihre Weinanfälle zu bekämpfen. Irgendwie erleichtert das auch.

„Ach ja – warst du damals arrogant. ‚Guten Tag‘, das war alles, was man aus dir herausbekam. Es reizte mich schon, dich Muffel umzukrempeln, aber dazu war ich noch nicht bereit. Ja, ich weiß, was du sagen willst: ‚Hast andere Kerle im Kopf gehabt, später jedenfalls.‘ Nein, mein Lieber, da war nichts, ich war brav wie ein Rehkitz. Ich musste mich um eine Arbeit kümmern, in dem Nest, dem trostlosen Dorf. In der Heimatstadt hatte ich eine Stelle bei der Reichsbahndirektion gehabt. Und dann ziehe ich mit meinem Mann und Töchterchen Liesa in dieses Kaff, weil er von der Dienststelle einen Zivilposten in der Kfz-Werkstatt bekommen hatte. Oh, war ich damals doof. Aber etwas Gutes hatte es sonst hätte ich dich, mein Schatz, nie kennengelernt.“

Ein flüchtiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.

„Nach einigen Wochen seid ihr dann eingezogen. Mit deiner Frau kam ich sofort ins Gespräch. Manchmal saßen wir auf der Bank vor der Tür, im Schatten der kleinen Birke, weißt du, und sie erzählte mir, wie fleißig du als Hauptfeldwebel warst. Um alles hast du dich kümmern müssen, bis spät in die Nacht hinein, du warst die ‚Mutter der Kompanie‘, erzählte sie immer sehr stolz. Ja, mein Lieber, sie hat dir geglaubt, hat ein unendliches Vertrauen gehabt. Dabei, du Mistkerl, bist du da schon meterweise fremdgegangen. Jeder im Haus wusste es, oder argwöhnte es zumindest. Deine Frau war ahnungslos. Ein guter Schauspieler warst du ja, darauf kannst du dir was einbilden. Nach außen immer der liebe, fürsorgliche Ehemann. Da fällt mir ein, auch deine Schwiegermutter hatte dich in den höchsten Tönen gelobt. Deshalb kam sie auch jeden Früh, euch zu wecken. Ich habe das nie begriffen, dass diese Frau morgens mit dem Fahrrad zu euch geradelt kam, um ans Schlafzimmerfenster zu klopfen, bis drin das Licht anging. Ich hätte euch schlafen lassen. Spätestens nach dem dritten, vierten Mal Zuspätkommen hätten sie dich in der Kaserne behalten. Wie hieß das bei euch, ‚Kasernenarrest‘?“

 

Susanne hält inne, horcht auf einen Widerspruch aus dem Bett, eine kleine Regung wenigstens. Nichts. Die Apparate summen monoton vor sich hin. Die Kurven auf den Displays sind gleichmäßig. Auch ohne den prüfenden Blick des Pflegers weiß sie, es ist alles in Ordnung. „Nein, in Ordnung ist nichts“, widerspricht sie sich in Gedanken selbst. „Was soll ich tun?“, grübelt sie. „Es ist so schön in letzter Zeit gewesen. Endlich bist du zur Ruhe gekommen, hast deine ständige Hektik abgelegt, dich auf uns, auf mich, die Kinder und Enkelkinder konzentriert. Hast begonnen, zu dir selbst zu finden, nachdem du diesen verfluchten Job gekündigt hast. Ich war so stolz auf dich. Endlich war der Teufelskreis aus Arbeit, Firma, Arbeit, Firma und ganz zum Schluss wir, durchbrochen. Endlich hast du das Wichtigste voran gestellt: deine Familie. Du kannst dich nicht so einfach davonschleichen!“, schreit sie Karl lautlos an. „Du hast gefälligst zu leben. Hast du verstanden? Zu leben!“

Erschrocken zieht sie ihre Hand von seinem Arm zurück. Sie hat ihn geschüttelt, hat ihre Fingernägel tief in das reglose, gefühllose Fleisch vergraben. Wie zur Wiedergutmachung streicht sie ihm zärtlich über die vom Zugriff gekennzeichnete Stelle. „Du darfst uns nicht wegsterben“, signalisieren ihre weichen Fingerspitzen. Nach einer Weile wiederholt sie diese Prozedur, dann tut ihr der Arm weh. Leise steht sie auf, geht zum Fenster. Es hat angefangen zu regnen. Der Wind, der die Regentropfen an die Scheibe drückt, hat sich zu gleicher Zeit auch die große Buche gegenüber dem Fahrweg vorgenommen. Mit ungebändigter Kraft rüttelt er an den Ästen. Bricht hier und da ein Zweiglein ab, kann aber dem Baum nichts antun. Mit ihrem starken Stamm steht sie da, die sturmerprobte Buche, und trotzt dem Spiel der Natur. Susanne nickt unbewusst mit dem Kopf, sie hat Karl mit diesem Baum verglichen. „Bleib standhaft, widersetze dich dem Gevatter Tod. Du schaffst es, da bin ich mir sicher“, beschwört sie ihn lautlos.

Jetzt ruhiger geworden geht sie im Zimmer auf und ab, langsam vom Bett zum Fenster, von da zur Tür, am Geräteturm vorbei und wieder zum Bett. Sie umrundet es und beginnt den Weg erneut. Unzählige Runden vollzieht sie. Es ist inzwischen fast dunkel geworden, die Gegenstände im Zimmer beginnen, ihre Position nur noch schemenhaft preiszugeben. Sie entschließt sich, für heute den Besuch bei ihrem geliebten Mann zu beenden. Die Müdigkeit ergreift Besitz von ihr. Ihre Beine werden schwer. Flüchtig verabschiedet sie sich von Karl, gibt ihm einen zärtlichen Kuss auf seine Stirn und dreht sich in Richtung Tür. Es ist nur ein Abschied für einen kleinen Moment, denn morgen, ja, morgen wird sie ausgeruht wieder zu ihm kommen.

Susanne hat sich am nächsten Tag ihren Lieblingsrock, den weiten braunen aus Italien, und darüber eine leichte rote Leinenbluse, lässig geschnitten, angezogen. Sie liebt diese Art von Bekleidung. Sie mag keine engen Röcke und Blusen mehr, auch keine Schuhe mit hohen Absätzen. Die Zeit ist vorbei.

Im Zug nach Rosenheim hat sie Zeit, darüber nachzudenken: Wie hat sie doch die engen, figurbetonten kurzen Röcke und die etwas keuschen Blusen geliebt. Aber auch lange Kleider, meist ohne Halter um die Brust, dafür breite Gürtel aus Lackleder. Dazu hohe Schuhe, die Haare als Pagenschnitt und blond gefärbt. „Das waren noch Zeiten“, denkt sie vor sich hin und kann ein Lächeln nicht verbergen. „Damals, als ich bei der Stadt angefangen habe, konnte ich mich erstmals richtig ausprobieren, immer der Mode etwas voraus. Ich habe ja gut verdient und mein damaliger Mann brauchte wenig, lief sowieso meist in Schlossersachen herum.“

Susanne wird aus ihren Gedanken gerissen. Der Zug fährt ein und um ein Haar hätte sie das Aussteigen verpasst. Schnell greift sie die, wie immer zu große, Handtasche und den Beutel mit gewaschenen Schlafanzügen und eilt zur Tür. Kaum steht sie sicher auf dem Bahnsteig, schließen sich die Türen und der Zug fährt Richtung München weiter. Es ist noch viel zu zeitig für den Krankenhausbesuch. Sie schlendert durch die Bahnhofshalle, schaut am Zeitungsstand nach einer Illustrierten, um sich nach kurzer Zeit wieder abzuwenden von der schillernden Prominentenwelt, die so gar nicht ihr Interesse weckt. „Kaffee trinken, hier nebenan, das ist eine Idee“, denkt sie und läuft entschlossen in die Richtung.

Am Tisch nimmt sie zwei kleine Schlucke von dem frisch gebrühten Getränk. Ihre Hand gleitet in den Beutel mit den Pyjamas und nach einigem Hin und Her zwischen den Wäschestücken fördert sie das Gesuchte heraus. Sie legt den kleinen Stoffteddy mit dem Verband am Kopf und dem Hemd mit der Aufschrift „Komm bald wieder heim“ vor sich auf den Tisch. Sie hat sich heute früh an dieses Ding erinnert, was seit langer Zeit am Kleiderständer im Wirtschaftsraum sein Dasein fristete. Genau den Teddy hatte Karl vor fast vier Jahren in der Klinik von den Enkelkindern geschenkt bekommen.

Damals hatte er schon einmal auf der Schippe des Todes gesessen. Bei ihm hatten die Ärzte ein Prostatakarzinom diagnostiziert. Viel Zeit wäre ihm nicht mehr geblieben, wenn er nicht sofort operiert worden wäre. Mit aller Kraft hatte er damals den Weg ins Leben zurückgefunden, hatte eisern an seiner Genesung gearbeitet. „Er wird es auch diesmal schaffen“, denkt Susanne und ist sich dessen ganz sicher. Sie umschließt den Teddy mit der Hand, drückt ihn, als wollte sie prüfen, ob er weich genug ist. Sie gibt ihm einen Stups auf die Nase und schaut ihn prüfend an. In Gedanken verabschiedet sie sich von ihm: „Bitte mach deine Sache gut“‚ und legt ihn lächelnd zurück in den Beutel.

Sie lässt sich Zeit für den Weg ins Klinikum, macht noch einen Umweg über den Friedhof. Sie geht zielsicher die Wege zwischen den Grabreihen entlang, biegt um die Mauer mit den Wandgräbern und weiter bis zu dem einen Grab. Hier liegt er, der ehemalige Seniorchef von Karls letzter Firma. Er hatte aus dem Nichts die Firma aufgebaut, sie durch Höhen und Tiefen geführt bis zu seinem Tod mit 89 Jahren. Unermüdlich hatte er gewirkt. Er war stets ein Vorbild für Karl gewesen. Karl hatte ihn gemocht, auch wenn der alte Herr oft keine andere Meinung hatte gelten lassen. Dafür war er Chef gewesen, hatte die Verantwortung für das Ganze getragen. Susanne blickt auf das Bild auf der Grabplatte und leise spricht sie das Abbild an:

„Bitte helfen Sie Karl von da oben, wo Sie jetzt sind. Ich bin so verzweifelt. Tun Sie etwas.“

Eine Weile steht sie vor dem Grab, als warte sie auf eine Antwort von ihm. Ein Spatz setzt sich auf das hölzerne Kreuz vor der Mauer, hüpft aufgeregt auf dem Balken hin und her. Dann hält er inne, legt sein Köpfchen zur Seite und zirpst ein paar Mal. Soll vielleicht heißen: „Hab Mut, es wird alles gut“, redet sich Susanne insgeheim ein. Sie ist in die Realität zurückgekehrt. Mit festem Schritt eilt sie nun den Weg entlang, nimmt direkt Kurs auf die Klinik.

In den verwinkelten Gängen mit den roten, grünen, gelben und blauen Richtungslinien kennt sie sich inzwischen aus. Jede Linie steht für ein bestimmtes Haus, eine bestimmte Station. Einer folgend, mit dem Aufzug zwei Etagen bewältigend, kommt sie leicht außer Atem am Ziel an. Sie muss sich erst konzentrieren auf die Situation, wie sie ihr nun wieder vor Augen treten wird. Da hinter der Glastür mit der Ziffer 312 liegt er, ihr geliebter Mann, nachdem er vor einer Woche innerhalb der Intensivstation hierher verlegt wurde. Nachdem sie sich ein wenig gesammelt hat, geht sie das letzte kleine Stück und öffnet leise die Tür zum Zimmer mit dem Bett von Karl und rundherum den Gerätetürmen, die monoton die Signale in die Welt abgeben. So wie sie das auf den ersten Blick erkennen kann, scheint alles in Ordnung.