Das Akkordeonspiel

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14. Kapitel





„Ich will tot sein und begraben in der Erde. Mama ist nie mehr meine Mama. Sie ist nun die Mutter, die mich nicht verdient hat. Sie wird am Grab sitzen und weinen, wie ich jetzt, und niemand wird sie trösten. Ihr Karl liegt da unten und kommt nie wieder, nie mehr“, denke ich voller ohnmächtiger Wut. – Nur, wie ist man tot? Darauf finde ich keine Antwort, auch wenn ich zum zweiten Mal das Szenario abspiele.



Auch wenn ich ohne Erklärung bleibe, so geht doch das Leben weiter, und wie es weitergeht. An diesem selben Tag, an dem ich die Niederlage hinnehmen muss und den herben Verlust des Metallbaukastens, brodelt und rumort es zwischen Mutter und Papa unaufhörlich wie vor dem Ausbruch des Ätna auf Sizilien. Indirekt geht es um meinen Metallbaukasten, direkt ist die Auseinandersetzung zwischen den beiden bereits auf einer völlig anderen Ebene.



„Kannst dem Seppel nicht einfach den Kasten wegnehmen, schließlich hat er ihn von Vater geschenkt bekommen“, eröffnet sich der Streit.



„Beruhige dich bloß, was kann Wolfgang dafür, dass deine Eltern ihn ständig ignorieren, nur weil es mein Sohn ist. Die haben ihm noch nie etwas geschenkt, für die ist er Luft. Aber das ist ja typisch bei Nebels, ihr Sohn ist der Beste, nur ich bin die Verruchte, die mit einem Kind dahergekommen ist, die ihrem anständigen Paul den Kopf verdreht hat und sich schwängern ließ, um ein Dach übern Kopf zu haben“, faucht Mutter.



Der erste Lavastrom ist ausgebrochen. Wir werden ins Bett gejagt, damit man sich so ungestört weiterstreiten kann. Mitten in der Nacht rüttelt jemand an meinem Arm. Verschlafen drehe ich mich im Bett herum. Als ich Wolfgang mit noch halb geschlossenen Augen erkenne, raunze ich ihn an:



„Lass mich schlafen, du Arsch.“



Zu spät. Der Lärm, der aus zwei Zimmern Entfernung in das Ohr dringt, lässt mich vollends erwachen. Wie von einer fremden Macht gesteuert, verlasse ich das Bett, wandere barfuß durch das Schlafzimmer bis hin zu der Tür, hinter der sich meine Eltern prügeln.



„Lass mich los, du Schwein, ich kratz dir die Augen aus“, brüllt Mutter.



Darauf folgt ein Spuckgeräusch.



„Du alte Sau“, schreit Papa. „Ich lass mich von dir nicht bespucken.“



Ich höre das Geräusch zweier rasch aufeinander folgender Ohrfeigen. Meine Mutter schreit, heult, stößt gegen die Wand, fällt zu Boden, krümmt sich vor Schmerz, um sodann wieder aufzuspringen, mit den Füßen nach Papa zu treten, den sie wohl auch zwischen den Beinen erwischt. All das entgeht meinem ans Schlüsselloch geheftete Auge nicht. Auch nicht, dass Papa mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Gegenschlag ausholt. Seine Faust trifft auf Zähne, die Lippen reißen auf und im Nu sind Mutters Gesichtshälften blutverschmiert. Wie eine Katze springt sie noch wilder schreiend auf den Rücken von Papa, zerrt ihn mit aller Kraft an den Haaren, ich sehe ein Büschel aus ihrer Hand auf den Boden fallen. Kurz darauf liegt Mutter wieder auf dem Boden. Nun kommt sie nicht mehr hoch, denn Papa kauert über ihr und schlägt mit den Fäusten auf sie ein. Das ist zu viel, denke ich. Auch wenn sie mir meinen Baukasten weggenommen hat, jetzt tut sie mir doch leid. Ich drehe mich um, ich weiß, was zu tun ist. Unvermittelt steht Wolfgang von mir, mit halb offenem Mund und, obwohl fünf Jahre älter, scheinbar unfähig zu einer Reaktion. Ich suche etwas zum Schlagen, sehe aus den Augenwinkeln den Kleiderbügel auf dem Bett und hole ihn. Fest umschlossen mit meiner Hand schwinge ich ihn wie eine Keule über dem Kopf.



„Was willst du denn damit?“, Wolfgang steht wie angewurzelt noch immer am selben Fleck.



„Ich gehe jetzt rein und prügle die auseinander“, antworte ich voller Mut.



Aber ich bin kein bisschen mutig, mir schlackern die Knie, ich zittere am ganzen Leib. Tränen laufen mir wie Sturzbäche über mein Gesicht.



„Lass es, du kannst nichts machen, irgendwann hören die wieder auf. War doch immer so“, beruhigt mich Wolfgang, dieser Feigling, flüstern.



Trotzdem bin ich ihm dankbar, dass er mir den Bügel aus der Hand nimmt. Ich bin froh, dass ich nicht hineingehen muss in den schrecklichen Raum. Kein Schlag austeilen muss. „Ich bin noch zu klein“, denke ich bedauernd. Wolfgang zieht mich ins Kinderzimmer, wir schließen die Tür und jeder geht zurück in sein Bett, als wäre nichts gewesen. Lange liege ich unter der Decke, weine mir die Seele aus dem Leib, heimlich, damit keiner etwas hört.



Ich bin müde, unausgeschlafen, meine Glieder sind schwer wie Blei, als ich mich in die Küche schleppe. Mutter liegt im Bett, hat die Decke fast über den Kopf gezogen. Neben ihren Hausschuhen liegt ein nasses Handtuch voller Blut. Links steht der Zinkeimer, der nachts zum Pinkeln genutzt wird. Jedes Mal ekelt es mich, aber auch immer muss ich unwillkürlich hineinsehen. Diesmal ist rotes Wasser drin, vermischt mit Watteklumpen, die mit tiefrotem Blut versetzt sind. Als mein Blick zu Mutters Bett schweift, sehe ich die Blutstropfen, die, vom hereinfallenden Sonnenlicht angestrahlt, sich deutlich von den rotbraun gestrichenen Dielen abheben. Ein Schreck durchzuckt meinen Körper. „Sie wird doch nicht etwa tot sein?“, schießt es mir durch den Kopf. Genau in diesem Moment streckt sich ihr Kopf unter der Decke hervor. Ich sehe ihr aufgequollenes rot und blau verfärbtes Gesicht, ihre blutverschmierten aufgeplatzten Lippen, ihr wirres verklebtes Haar. Sie lebt, sie atmet. Kann sie nicht aufstehen, mich in den Arm nehmen, drücken und trösten? „Entschuldige, mein Schatz, Mama und Papa vertragen sich zukünftig und sind jetzt immer ganz lieb zueinander.“ Keines von alldem passiert. Mutter hält die Augen geschlossen und schläft weiter. Papa sitzt allein am Küchentisch, trinkt den letzten Schluck des Kaffees, den er sich selbst gebrüht hat. Wenn wir sonst sonntags dasitzen und Papa endlich, nachdem er im Wohnzimmer gesaugt und Staub gewischt hat – alles noch im Schlafanzug –, auf seinem Stuhl Platz genommen hat, haben wir oft gelacht, weil er nicht bemerkte, dass wir den Bohnenkaffee gegen Malzkaffee ausgetauscht haben. Erst wenn die Tasse fast ausgetrunken war, flog der Schwindel auf. Heute passiert das nicht, denn er sitzt allein, zusammengekauert und leichenblass am Tisch. Ohne ein Wort zu sagen, holt er die Kanne mit kaltem Malzkaffee, schneidet zwei Semmeln in Würfel, füllt sie in eine Tasse und gießt den Kaffee darauf, fügt drei Löffel Zucker dazu, rührt um und schiebt das Gemisch mir hin.



„Iss“, sagt er schroff, steht auf und räumt sein Geschirr weg.



Da sitze ich nun mit meinem Sonntagsfrühstück, was sich so deutlich von dem unterscheidet, welches mir Oma jeden Tag zubereitet. Ich stochere in den zu Pampe gewordenen Semmelwürfeln herum und habe keinen Hunger. Aber das bleibt bei Papa ohne Bedeutung.



„Das wird aufgegessen, bis zum letzten Krümel. Was anderes gibt es nicht und beeil dich“, faucht er mich im Vorbeigehen an.



Ich versuche an mit Quark und Marmelade bestrichene Brotscheiben zu denken, an duftenden warmen Kakaoschalentee mit Milch. Ich zwinge mir den Brei hinunter, den letzten Rest spüle ich schnell im Küchenausguss aus, hoffend, dass Papa nichts merkt. Nach dem Frühstück und herausgeputzt mit Popelinehose, braunem Pullover und den an der Seite aufgerissenen Halbschuhen, nimmt mich Papa am Arm, an der Hand will er mich wohl nicht anfassen, und marschiert wortlos in Richtung Lessingplatz, weiter zur Markuskirche, den Berg hinunter, dann wieder hinauf, an der Lutherkirche entlang, über die große, breite Straße und endlich einbiegend in meine Heppe, den Gartenweg, den ich schon so viele Male gelaufen bin. An der Haustür drückt Papa den Klingelknopf auf dem glänzenden Blech, bis von oben Opas Stimme ertönt.



„Ich bringe Karl heute früher, muss noch arbeiten“, brüllt Papa ins Treppenhaus.



Ehe Opa die vielen Stufen nach unten kommt, werde ich ins Haus geschubst. Papa bläut mir noch ein:



„Du hältst den Mund, wehe du erzählst vom Streit. Verstanden?“



Ich nuschle Undeutliches, drehe mich auf dem Absatz um und renne los, direkt in die Arme von Opa. Ganz fest klammere ich mich, als wollte ich ihn nie mehr loslassen, meinen Beschützer, sodass er mit mir am Hals die vielen Stufen wieder hinaufsteigt. Oben schnaufend angekommen übergibt er mich.



„Ich kann nicht mehr“, lamentiert er erschöpft.



Oma, mit ihrem alles durchleuchtenden Blick, hat die Situation sofort erkannt.



„Na, dann komm mal, Junge, ich mache dir einen schönen Kakao.



“ Ich erstarre. Mit einem markerschütternden Schrei klammere ich mich heulend an Oma fest. Meine Knie versagen ihren Dienst, ich knicke vor Oma ein und wäre sicherlich auf den kalten Steinboden gefallen, wenn mich Opa nicht abgefangen und hochgenommen hätte. Schnell schließt Oma die Wohnungstür hinter uns, in der Küche schaut mich Tante Hedel entsetzt an.



„Was ist denn los mit dem Jungen, der ist ja vollkommen fertig?“



Keiner gibt Antwort. Nur Oma macht einen kurzen Wink mit der Hand in Richtung Tante Hedel, die daraufhin, sich nochmals umdrehend, schleunigst die Küche verlässt. Auch Opa tut plötzlich sehr geschäftig und macht hinter sich die Tür zu. Sein Schatten, der durch die milchige Türscheibe erkennbar ist, geht in Richtung der Bodenkammer. Oma hat den Küchentisch mit dem Fuß etwas zur Seite geschoben, denn mit den Händen muss sie mich ja halten. Sie setzt mich auf das Sofa, nimmt ganz nah neben mir Platz, drückt meinen Kopf an ihre weiche Brust.



„Weine ruhig, das ist gut, das befreit, wenn du möchtest, berichtest du mir danach, was passiert ist. Wenn du nicht willst oder es dir verboten ist, dann erzähl es mir einfach später. Wir beide haben Zeit.“



Ich nicke, weine weiter, bis sich der Krampf löst. Schluchzend schnaube ich in das große Taschentuch, das Oma irgendwoher gezaubert hat. Langsam hat mich die Welt wieder. Oma streichelt mir über den Kopf, wie sie das schon so oft getan und es mir immer geholfen hat. Wenig später nippe ich an dem köstlichen Kakao, der diesmal aus richtigem Pulver und nicht aus Schalen gekocht ist. Vor mir steht ein Teller mit Marmeladenbrot, Oma schält einen Apfel, schneidet ihn für mich in mundgerechte Stücke. Mit Heißhunger putzte ich in Windeseile alles weg. Oma unterlässt es heute, mich zu ermahnen, nicht zu schlingen. Als ich fertig bin, treffen sich unsere Blicke. In Omas Augen erkenne ich die Frage, was gewesen ist. Da sprudelt alles aus mir heraus, beginnend beim Verlust meines Baukastens, den Beschimpfungen von Papa und Mutter und von der Prügelei, dem vielen Blut und den anderen schlimmen Dingen. Über eines erzähle ich allerdings nichts. Meine Feigheit bleibt unerwähnt, mit schwingendem Kleiderbügel auf keinen der beiden losgegangen zu sein. Dafür schäme ich mich zu sehr. Oma versteht auch ohne weitere Worte, dass noch mehr gewesen ist, was mein Herz bedrückt, aber heute noch nicht heraus will.

 



Am nächsten Tag teilt Oma mir mit, dass sie mit Papa telefoniert hat und ich jetzt erst einmal eine gewisse Zeit hier bleibe, auch an den Wochenenden. Ich falle Oma vor Freude um die Hüfte, drücke sie ganz fest, so lange, bis sie sich zu mir herunterbeugt, damit ich ihr ein Küsschen geben kann. Meine Welt ist wieder in Ordnung. Ich habe überhaupt kein Verlangen nach Mutter und Papa und nach dem Ekel schon gar nicht. Ich werde fortan von allen Seiten verwöhnt. Oma gibt mir tagsüber Leckereien zwischendurch, bei Tante Hedel darf ich die Sandmännchen im Radio anhören, erst den einen, und wenn das Gutenachtlied erklingt, noch den zweiten Sandmann. Tante Hedel muss in der Nähe bleiben und auf mein Kommando den anderen Sender einstellen, was tadellos klappt. Für Opa ist es schwierig mit dem Verwöhnen, denn er kommt als letzter und hat den ganzen Tag schwer gearbeitet. Meistens stehe ich zu der Zeit, wenn er mit dem Fahrrad kommen muss, an der Haustür und schaue die Straße hinunter in der Hoffnung, den Radfahrer mit der orangefarbenen Jacke als Erster erkennen zu können. Oma sagt mir jedes Mal, dass es noch zu früh ist, vor die Tür zu gehen, aber ich weiß immer eine Antwort:



„Vielleicht ist Opa heute schneller gefahren oder hatte Rückenwind“, bettle ich mit flehenden Augen, dass Oma die Wohnungstür aufschließt.



Sobald ich mich auf dem Hosenboden rutschend von Stufe zu Stufe hinabbewege, spüre ich das Kribbeln im Bauch, welches ankündigt, gleich ist es so weit. Dann wird Opa seine blecherne Brotbüchse aus der Ledertasche holen, sie öffnen und mir den Inhalt anbieten – mein Hasenbrot. Mit der anderen Hand helfe ich Opa, das Fahrrad in den Keller zu bringen. Mich strengt das Tragen am Gepäckträger gar nicht an, denn ich bin so stark geworden von dem Hasenbrot, dessen letzter Bissen schon vor der Kellertreppe in meinen Mund verschwunden ist. Manchmal, wenn die Brotbüchse leer ist, weil Opa selbst großen Hunger hatte, schenkt er mir kleine Pappkarten, die beschriftet und wie bei Fahrkarten der Eisenbahn an unterschiedlicher Stelle gelocht sind.



Das weiß ich deshalb so genau, weil ich mit Oma, Opa und Tante Hedel vor einiger Zeit nach Dresden gefahren bin. Da gab es diese Fahrkarten, die ich einstecken durfte und die jetzt zu meinem am meist gehüteten Schatz gehören. Die Fahrt war wunderschön gewesen.



Opa hatte zwei Tage Urlaub genommen und Tante Hedel eine ganze Woche. Oma hat ja immer frei, sie hatte alles geplant. Frühmorgens, es war noch dunkel gewesen, waren wir mit der Straßenbahn zur Zentralhaltestelle in der Stadt gefahren, dort umgestiegen in die, die uns zum Bahnhof brachte. Hier gingen wir zu einem langen Zug. Ich hatte selbstverständlich am Fenster sitzen dürfen und während der Fahrt hinaus in das Wunderland gestarrt, auf die Bäume, die Häuser und Flüsse, auf die Autos, die an Bahnübergängen warten mussten. Jedes noch so kleine Detail hatte ich lautstark mitteilen müssen, bis mir Oma ihre Hand vor den Mund gehalten und so meinen Mitteilungsdrang unterbrochen hatte. In Dresden war es sehr warm gewesen, wir waren als erstes in den Zoo gefahren. So viele Tiere, kleine und vor allem große, hatte ich noch nie gesehen. Ich lachte über die Affen, die sich so lustig bewegten. Und staunte über die Elefanten mit ihren riesigen Rüsseln. Wir beobachteten eine Mäusefamilie, die in einem richtigen Brot lebte, in das sie Löcher gefressen hatte, aus denen sie wie aus Fenstern herausschaute. Ich bekam sogar ein Eis spendiert von Opa und später noch eins von Tante Hedel, denn sie war sozusagen eine andere Familie, eine Ein-Personenfamilie, wie Oma mir mal gesagt hatte, als ich sie fragte, warum Tante Hedel immer ihr eigenes Essen kocht.



Nach dem Zoobesuch gingen wir zur Schiffanlegestelle an der Elbe. So ein riesiges Schiff mit so gewaltigen Rädern hatte ich noch nie gesehen. Mehrmals ging ich mit Opa zu den Rädern, die während der Fahrt das Wasser von einer Seite auf die andere schaufelten. Bis spät abends verbrachten wir auf dem riesigen Dampfer, aßen Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen, Opa trank Bier, wir anderen nippten an leckerer Fassbrause, die rot war wie Himbeeren. Nachdem wir das Schiff verlassen hatten, wollte ich auf der Stelle einschlafen. Doch Oma sagte mir, dass es nur noch ein kurzer Weg zu dem Zimmer sei, in dem wir übernachten wollten. Also versuchte ich, wach zu bleiben. Ein Glück auch, denn sonst hätte ich die kleinen grünen Lichter, die um uns herum schwirrten, nicht gesehen. Glühwürmchen, erklärte mir Oma, die auch darüber staunte. Wir schliefen alle in einem Zimmer, Oma und Opa in einem Bett, Tante Hedel in dem schmalen Bett am Fenster und ich auf einem Feldbett, wie die Soldaten im Krieg sie nutzen, hatte Opa gemeint. Ich hatte mich zur Wand drehen müssen, damit ich nicht sah, wenn sie das Schlafzeug überstreiften. Das war auch nicht wichtig für mich. Außerdem hatte ich Tante Hedel und Opa beim Umziehen in der Gartenlaube gesehen, und Oma hatte auch schon nackt voller Seifenschaum in der Waschschüssel in der Küche gestanden, als ich die Küchentür geöffnet hatte. Wichtig war mir nur, in einem richtigen Feldbett zu liegen, das die Soldaten im Krieg benutzten, und schon war ich mittendrin im Gefecht.



… Ich höre den Donner der explodierenden Granaten, sehe die Lichtblitze um mich herum. Immer näher kommt die alles vernichtende Walze aus Feuer und Sturm. Ich spüre die Hitze auf der Haut, wie sie Besitz von mir ergreift. Erst meine schützende Kleidung und dann mich selbst entzündet. Der Orkan facht die Flammen weiter an, nährt sie mit Sauerstoff, der mir zum Atmen fehlt. Beißender Rauch füllt die Lunge, lässt mich qualvoll ersticken. Ich schlage um mich, versuche verzweifelt, das tödliche Gemisch aus Feuer und giftigem Qualm von mir abzuhalten. Meine Gegenwehr erlischt wie das Leben.






15. Kapitel





Als Susanne das Krankenhaus verlässt, fallen die ersten Regentropfen auf ihr Haar, bilden auf der Kleidung größer werdende dunkle Flecken. Sie hat beschlossen, nicht sofort nach Hause zu fahren, wo sie sowieso keiner erwartet. Sie wird ihre Tochter besuchen, die Frage klären, ob sie tatsächlich so gelitten hat, wie es Karl in seiner Analyse behauptete. Sie ist fest entschlossen, die dunklen Flecke der Ehe mit Karl aufzuarbeiten, auch auf die Gefahr hin, dass es ihr weh tut. Sie ist völlig durchnässt, als sie schließlich vor der Tür steht.



„Entschuldige, ich brauche jemanden zum Schwatzen. Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf“, erklärt sie ihr unerwartetes Erscheinen.



„Komm rein, setz dich, oder zieh erst mal die nassen Sachen aus. Kannst dir von mir den Bademantel nehmen“, freut sich Veronika.



Nachdem alle Neuigkeiten ausgetauscht sind, Karls Gesundheitszustand betreffend, die Aussicht auf Besserung und die Themen Kinder, Arbeit, allgemeine Gesundheit erläutert, entsteht zwischen beiden eine Gesprächspause. Veronika weiß, dass ihre Mutter mit einem bestimmten Anliegen gekommen ist, sie spürt es in jeder Geste. Nur kann sie die Richtung, den Inhalt nicht deuten. Um die Kunstpause zu beenden, wagt sie sich vor.



„Schieß schon los. Wo klemmt der Schuh? Ich merke doch, dass dich etwas bedrückt. Komm, lass uns drüber reden“, bittet sie.



Eigentlich hätte Susanne nun doch lieber das Thema vermieden, aber sie sitzt in der Falle, jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Ihre Tochter ist wie sie, durchschauend, klar und geradezu, ohne Schnörkel, wenn es darum geht, eine Aussage zu treffen. „Ach, was soll’s“, denkt Susanne und ist im gleichen Moment auch froh, mit ihr darüber zu sprechen, was sie bereits begraben hatte. Sie versucht, die passenden Worte zu finden, holt weit aus, um dann über viele Ecken zu dem Eigentlichen, für sie sehr Unangenehmen zu kommen. Mittendrin, in ihrem Hin und Her, unterbricht sie Veronika.



„Jetzt eire nicht so rum, komm mal auf den Punkt. Ich verstehe nur eins, es betrifft uns, mich, Papa und dich.“



„Weißt du“, beginnt Susanne zögerlich, „ich habe eine Art Abschiedsbrief von Papa von 1989 zufällig in die Hände bekommen, als ich seinen Aktenordner durchgesehen habe. Da ging es auch um die Zeit in Dresden. Er schrieb, dass du sehr traurig warst und nicht verstanden hast, dass ich mich in Paul verliebt hatte und sogar die Ehe mit Papa aufgegeben hätte, wenn es nach mir gegangen wäre. Ich weiß, dass ich damals einen Fehler gemacht habe und hoffte immer, drüber hinweg zu sein. Aber nun ist alles wieder hochgekommen, zurückgekehrt aus meiner Vergangenheit. Ich habe dich nie nach deinen Gefühlen gefragt, habe nie erfahren wollen, was du empfunden hast. Ich möchte es gern heute hören, auch um zu wissen, was ich damals falsch gemacht habe. Bitte, hilf mir dabei. Erzähl mir, wie es dir ergangen ist“, appelliert Susanne, ringend, den Tränen nicht freien Lauf zu lassen.



„Na gut, wie du willst“, schreitet Veronika zur Tat, „aber zuvor hole ich uns einen Wein, damit es nicht zu trocken wird“, versucht sie die Situation, die ihr selbst unangenehm ist nach so langer Zeit, zu entkrampfen.



Mit zwei gefüllten Gläsern kommt sie aus der Küche zurück, übergibt eines an ihre Mutter und prostet ihr zu.



„Grundsätzlich“, beginnt Veronika, „weiß ich selbstverständlich, dass Papa kein Kostverächter war. Ich weiß auch, dass er dir seelisch sehr wehgetan hat mit seinem dauernden Fremdgehen. Aber darum geht es ja nicht. Ich habe mich als kleines Mädchen zu Hause sehr wohl gefühlt. Besonders die Kinder in der Umgebung und die im Kindergarten sind mir sehr wichtig gewesen. Heute verstehe ich, dass es vernünftiger war, mich mit nach Dresden zu nehmen. Papa hätte es nicht geschafft, alles unter einen Hut zu bekommen, auch wenn er es gewollt hätte. Sein unregelmäßiger Dienst, Bereitschaft rund um die Uhr und dann noch uns zwei Gören am Hals, das wäre nicht gut gegangen. Damals habe ich es allerdings nicht verstanden. Zum einen, dass du überhaupt nach Dresden gegangen bist und zum anderen, dass ich aus dem geliebten Kindergarten gerissen wurde. Das, das kannst du mir glauben, saß wie ein dicker Stachel in der Brust und hat richtig wehgetan. Von alledem hast du nichts mitbekommen. Voller Elan hast du in Dresden losgelegt mit deinem Studium, hast dich bemüht, nachmittags Zeit für mich zu haben, nur für mich, wir beide allein gegen die böse Welt um uns herum. Ich musste in diesen doofen Kindergarten gehen, in dem ich von der ersten Minute an gemobbt wurde. Die Erzieherinnen, aber auch die anderen Kinder, ließen mich sehr deutlich spüren, dass ich nicht dazugehörte. Jetzt weiß ich auch, warum. Ich habe den Platz beansprucht – als Tochter einer überzeugten Genossin, die parteigetreu auf Linie war, hatte ich den Vorrang – und eine andere alleinerziehende Mutter aus dem Kiez war leer ausgegangen. Spießruten bin ich gelaufen. Ständig ließ man mich den Unterschied der Herkunft spüren. Es hat natürlich keiner zugegeben, das war in diesem, von dir so hochgepriesenen System nicht angesagt. Und ich wollte das gut funktionierende Kind sein, nach Vorbild der Mutter, immer bereit, Entbehrungen auf sich zu nehmen und kämpferisch zu sein“, beendet Veronika zornig den Exkurs in die Vergangenheit.



„Sie verlangt Vergebung für das, was sie bewusst oder auch unbewusst dem Rest der Familie angetan hat“, denkt sie verbittert.



Eine Weile herrscht Stille zwischen Susanne und ihrer Tochter. Sie kämpfen gegen die Tränen, den Kloß im Hals. Beide müssen sich erst einmal sammeln.



„Entschuldige, Mama, wenn ich so hart über dich gesprochen habe, aber so war nun mal die Empfindung für mich mit vier Jahren.“



„Schon gut. Ich will ja wissen, was in dir vorging. Bitte erzähle weiter, ungeschminkt, offen und ehrlich. Ich will es begreifen. Gib mir eine Chance“, fleht sie förmlich ihre Tochter an.

 



„Dann lass mich mal den Wein nachschenken, denn es kommt noch schlimmer. Das kannst du mir glauben“, gibt Veronika den Einstand zur zweiten Runde. „Wirklich schlimm für mich war, Papa und Liesa die ganze Woche nicht sehen zu können. Ich hatte solche Sehnsucht nach ihnen. Bei jedem Telefonat mit den beiden wurde das Heimweh größer, brannte in meiner Brust und machte mich unendlich traurig“, nun verliert auch Veronika ihre Beherrschung, die Tränen treten ihr in die Augen. „Nein, ich will doch das alles nicht noch einmal hervorholen. Ich war froh, dass ich drüber hinweggekommen bin und nun ist es wieder da“, schluchzt sie in ihr Taschentuch.



Susanne sitzt wie ein Häufchen Unglück auf der Sesselkante, hält das nunmehr leere Glas fest umklammert, so fest, dass, als sie es bemerkt, sie vorsichtig den Druck verringert, damit es nicht zerspringt. Sie steht auf, um auf die Couch zu wechseln, ganz nah an ihre Tochter heranzurücken und sie zu umarmen, sie an ihre Schulter anzulehnen. Bereitwillig lässt Veronika diese lange vermisste Zärtlichkeit der Mutter zu.



„Ich verstehe deine Verbitterung“, versucht Susanne Trost zu spenden. „Es war damals eine schwierige Zeit. Papa hat oft Alkohol getrunken, viel, sehr viel. Und er hat sich mit anderen Frauen vergnügt. Wir haben uns dann ausgesprochen, abgerechnet mit dem Gewesenen, mit dem Verwerflichen – ja, auf beiden Seiten. Wir haben uns gegenseitig eine Chance gegeben, uns versprochen, ehrlich miteinander umzugehen. Das Zusammenbleiben hat funktioniert, das Aufrichtig-zueinander-sein allerdings auf Seiten von Papa nicht. Er ist trotzdem weiter fremdgegangen, hat mich weiter betrogen. Aber gut, sei es, wie es sei, ich und Papa, wir sind heute noch zusammen und haben, so bin ich jedenfalls überzeugt, ein Stück von Ehrlichkeit zurückgewonnen“, endet Susanne mit deutlichem Stolz in der Stimme.



„Ich glaube dir, dass ihr zueinander zurückgefunden habt. Aber wir sind noch nicht fertig mit unserer Wahrheitsfindung. Es fehlt noch die Zeit danach, beginnend mit dem Schulanfang. Die Klassenkameraden und auch die Lehrer wussten, dass ihr beide bei der Stadtverwaltung wart. Parteibonzen nannte man euch. Natürlich nicht direkt. Ich bekam den Unmut darüber von den Lehrern immer wieder zu spüren. Aber die eigentliche Misere war, dass ich auch hier keine Freunde hatte. Keiner wollte sich mit mir abgeben. Euch hat das nicht interessiert. Ihr hattet eure Arbeit, die Verpflichtung, Familie und Gesellschaft unter einen Hut zu bringen. Da war es sehr bequem, eine funktionierende Tochter zu haben, die so pflegeleicht ist, sich immer unterordnet, genügsam ist. Liesa war da anders. Sie ist oft ausgebrochen, hat sich quer gestellt, hat rebelliert, ihre Meinung gesagt, auch wenn die unbequem war. Das fand ich gut. Liesa war nicht nur meine große Schwester, sondern auch heimliches Vorbild. So wollte ich sein, streitbar, aufmüpfig und selbstentscheidend. Nur war ich eben ein kleines Mauerblümchen, weit entfernt von meinem Idol. Ich musste immer pünktlich zu Hause sein, noch bevor es so richtig losging. Ich hätte so gern mal eine Fete mitgemacht, auch mal einen Zug von der Zigarette genommen, einen Schluck aus der Pulle. Heilfroh war ich, als Papa bei der Stadt aufgehört und in Leipzig mit den Immobilien anfing. Da sind wir in die Stadtvilla umgezogen, ich hatte endlich mein eigenes Zimmer, vorn in der Ecke, mit den großen Fenstern. Ich habe oft auf der Kommode gesessen und hab die Vögel auf den Bäumen beobachtet. Da habe ich mich wohl gefühlt. Wenn ihr euch nur nicht ständig gestritten hättet, meist, wie ich dachte, wegen der Arbeit. Heute würde ich meinen, es ging um Papas dauerndes Fremdgehen. Und dieser viele Alkohol, nicht nur den, den Papa sich hineinschüttete, sondern auch du. Ihr habt beide ganz schön zugelangt, zwei bis drei Mal die Woche. Ich habe in dieser Zeit oft darüber nachgedacht, wegzugehen, so wie es Liesa getan hat, nach Bayern … Und dann kommt ihr eines Tages auf mich zu und verkündet, dass ihr in die Nähe von Liesa nach Bayern ziehen wollt. Ich bin damals aus allen Wolken gefallen, habe gegrübelt, wie ihr auf meine geheimsten Wünsche gekommen seid“, schließt Veronika den Rückblick ab und ihre fragenden Augen richten sich auf Susanne.



Die begreift sofort, dass sie jetzt dran ist, eine Erklärung für das zu liefern, was sie und Karl damals unter den Teppich kehrten, dass sie die Flucht nach vorn antraten, dass dieser Schritt für beide die letzte und wirklich letzte Chance gewesen war, einen Neustart hinzubekommen.

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