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Buch lesen: «Der Müller von Angibault», Seite 21

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28. Kapitel.
Das Fest

Der Müller war auf den Tanzplatz zurückgekehrt in der Hoffnung, Rose werde sich jetzt von den Leuten losgemacht haben, welche er höhnisch ihre Fraubasenschaft nannte. Allein Rose schmollte mit ihren Eltern, mit dem Tanze und ein wenig sogar mit sich selbst; denn sie machte es sich zum Vorwurf, dass sie nicht den Mut hatte, den Sticheleien ihrer Familie die Spitze zu bieten. Heute Morgen hatte ihr Vater sie beiseite genommen und zu ihr gesagt:

»Rose, deine Mutter hat dir verboten, mit dem großen Louis von Angibault zu tanzen, ich aber verbiete dir, ihm diesen Schimpf anzutun. Das ist ein braver Mann, unfähig, dich zu kompromittieren, und im Übrigen, wer könnte sich wohl eine Bekanntschaft zwischen ihm und dir einbilden? Das wäre höchst unschicklich und man kann heutzutage nicht meinen, dass ein Bauer wagen sollte, an ein Mädchen deines Standes zu denken. Tanze daher mit ihm; man muss Untergeordnete nicht demütigen, denn man hat sie heute oder morgen nötig und muss sie für sich gewinnen, wenn es nichts kostet.«

»Aber wenn die Mutter mir darüber böse wird?« hatte Rose eingeworfen, zugleich erfreut über die erhaltene Erlaubnis und verletzt von dem Motiv derselben.

»Deine Mutter wird nichts sagen«, hatte Herr Bricolin seiner Tochter zur Antwort gegeben, »ich habe ihr schon den Text gelesen.«

Und in der Tat, Frau Bricolin hatte nichts gesagt. Sie hatte nicht gewagt, ihrem Herrn und Meister ungehorsam zu sein, welcher ihr unter der einzigen Bedingung, dass sie sich vor ihm beuge, erlaubte, sonst gegen jedermann abscheulich zu handeln. Aber da er nicht daran gedacht hatte, sie von seinen Absichten in Kenntnis zu setzen, da sie nicht wusste, welche Wichtigkeit ihr Mann bezugs der Erwerbung von Blanchemont auf das diplomatische Bündnis mit dem Müller legte, so wusste sie seine Befehle zu umgehen und ihre ironische Verfolgung war dem großen Louis viel leidiger als ein offener Krieg.

Gelangweilt von dem vergeblichen Umschauen nach Rose und auf die Protektion ihres Vaters vertrauend, welchen er hatte nach dem Pachthof zurückkehren sehen, begab sich Louis ebenfalls dahin, einen Vorwand ersinnend, um mit dem Pächter zu schwatzen und bei dieser Gelegenheit den Gegenstand seiner Gedanken zu erblicken. Zu seinem großen Erstaunen fand er aber im Hause Herrn Bricolin in ernstem Gespräche mit dem Müller von Blanchemont, demselben, dessen Mühle unten an der Gemeindewiese und dem Hause der Piaulette gerade gegenüber lag. Hatte doch Herr Bricolin erst wenige Tage zuvor, wie es schien, unwiderruflich mit diesem Manne gebrochen, welcher einige Zeit seine Kundschaft genossen und, wie der Pächter behauptete, ihn schändlich betrogen. Schuldig oder unschuldig, hatte dieser Müller, die Einbuße der Kundschaft des Pachthofes höchlich bedauernd, dem großen Louis Hass und Rache geschworen. Er wartete nur auf eine Gelegenheit, ihm zu schaden, und er fand sie.

Der Eigentümer seiner Mühle war gerade jener Herr Ravalard, an welchen Louis Marcelles Kalesche verkauft hatte. Glücklich und stolz, seinen Lehensleuten seine neue Karosse zu zeigen, aber keinen Dienstboten besitzend, der es verstanden hätte, ein Zwiegespann zu lenken, hatte Herr Ravalard, als er seine Güter in Blanchemont besichtigen wollte, die Talente des rothaarigen Patachon in Anspruch genommen, der das Gewerbe eines Mietkutschers trieb und sich rühmte, die Wege des schwarzen Tales zu kennen. Nicht ohne Gefahr, doch wenigstens ohne Unglücksfall, war Herr Ravalard am Kirchweihmorgen angekommen und hatte seine Pferde in seiner Mühle eingestellt, seine Karosse aber wohlweislich auf der Gemeindewiese stehen lassen, damit jedermann dieselbe sehen und erfahren könnte, wem sie gehöre.

Der Anblick dieser prächtigen Kalesche hatte Herrn Bricolin, welcher Herrn Ravalard, seinen Nebenbuhler hinsichtlich ländlichen Reichtums in der Gemeinde, verabscheute, bereits sehr verstimmt. Er war an die Vauvre hinabgegangen, um sie näher in Augenschein zu nehmen und zu bekritteln. Da war der Müller Grauchon, der Rival des großen Louis, zu ihm getreten, um ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, wobei er tat, als erinnerte er sich ihrer Händel gar nicht, und den Pächter geschickt zu zöckeln wusste, indem er darauf hindeutete, in welcher vortrefflichen Lage sein Herr sein müsse, da er in einer Karosse fahren könne. Bricolin erwiderte dieses damit, dass er der Kalesche alles mögliche Schlimme nachsagte und derselben prophezeite, sie werde in keinem so niedlichen Zustande das schwarze Tal verlassen, wie sie in dasselbe gekommen. Als Antwort hierauf tat Grauchon mit dem guten Geschmack seines Bourgeois groß und warf dann wie gelegentlich hin, die Kalesche hätte ja der Frau von Blanchemont gehört und der große Louis hätte den Unterhändler des Verkaufs gemacht. Überrascht und gereizt hörte Herr Bricolin die Einzelheiten dieser Geschichte an und erfuhr demnach, der Müller von Angibault hätte Herrn Ravalard bestimmt, diesen Luxusgegenstand sich anzuschaffen, wäre es auch nur, um ihn, Herrn Bricolin, dadurch zu ärgern.

Zum Unglück war dies nur allzu wahr. Herr Ravalard hatte sich den ganzen Weg her mit dem Patachon darüber unterhalten, und der Letztere, der sich um eines guten Trinkgeldes willen bald in die Leute zu finden wusste und bemerkte, wie sehr der Bourgeois auf seine neue Equipage versessen sei, nahm keinen Anstand, derselben das ungemäßigtste Lob zu zollen, welches er damit beschloss, dass er sagte, das Gefährt müsse wenigstens viertausend Francs gekostet haben und sei hier zu Lande wohl das Doppelte wert. Durch diese naive Bewunderung höchlich geschmeichelt, hatte Herr Ravalard seinem Kutscher alles auf den Ankauf der Kalesche Bezügliche mitgeteilt und der Patachon hatte seinerseits während seines Frühstücks in Blanchemont dem Müller Grauchon davon vorgeschwatzt.

Bemerkend, dass der große Louis dessen Hass und Neid errege, hatte er die Sachen noch schlimmer dargestellt, ebenso sehr, um schwatzen zu können und sich zuhören zu lassen, als auch, weil er es dem großen Louis nachtrug, dass sich dieser bezugs jenes Morastabenteuers bitter über ihn lustig gemacht. Kaum war Herr Bricolin mit gefurchter Stirne und aufgeblasener Miene von Grauchon weggegangen, so sah dieser den großen Louis und Marcelle in das Häuschen der Piaulette treten. Diese geheimnisvolle Zusammenkunft fiel ihm auf, und er zerbrach sich den Kopf, wie er wohl eine neue Gelegenheit ausfindig machen könnte, seinem Feinde zu schaden. Er schickte den Patachon auf Kundschaft und nach Verfluss einer Stunde wusste er, dass der große Louis, ein Unbekannter, der ein neugedingter Müllerbursche des Genannten zu sein schien, die junge Dame von Blanchemont und Herr Tailland, der Notar, sich bei der Piaulette eingeschlossen hätten, dass sie dann einzeln und mit vergeblicher Vorsicht weggegangen, kurz, dass es sich da um irgendein Komplott handle, wohl um eine Geldangelegenheit, da der Notar dabei war. Es war Grauchon nicht unbekannt, dass der ehrenwerte Tailland für Herrn Bricolin ein Schrecken, ein Stein des Anstoßes war, und indem er halb und halb den Zusammenhang der Sache erriet, eilte er, den Pächter von allem, was er in Erfahrung gebracht, in Kenntnis zu setzen und ihm seinen Glückwunsch abzustatten, betreffs der Art und Weise, in welcher sein Günstling, der Müller von Angibault, seinen Interessen diene.

In dieser Unterhaltung überraschte der große Louis die beiden, als er den Pachthof betrat. Unter andern Umständen wäre unser ehrlicher Müller geradenwegs auf seinen Ankläger losgegangen und hätte demselben eine Erklärung abgenötigt. Als er nun aber wahrnahm, wie ihm Bricolin barsch den Rücken kehrte und Grauchon ihn von oben herab und höhnisch ansah, fragte er sich unruhig, was wohl diese beiden Leute, welche noch gestern beim Begegnen eher voreinander ausgespuckt als sich begrüßt hätten, Wichtiges miteinander zu verhandeln hätten. Der große Louis konnte sich nicht denken, von was die Rede sei, und noch weniger, dass es sich um ihn selbst handle, allein sein Gewissen schlug ihn.

Er hatte ein allzu feines Spiel mit Herrn Bricolin spielen wollen. Anstatt diesen mit Verachtung zurückzuweisen, als er ihm Geld angeboten, um zum Schaden Marcelles die Interessen des Pächters zu fördern, hatte er sich den Anschein gegeben, als wolle er um einiger Bourrées mit Rose willen einen Vergleich mit ihrem Vater abschließen. Er hatte diesem Hoffnung gemacht und ihn getäuscht, um sich für das Schimpfliche seiner Anerbietungen zu rächen.

›Ich habe es wohl verdient‹, dachte er, ›dass man hinter meine Schliche kam. Das kommt bei dem Duckmäusern heraus! Hat mir doch meine Mutter immer gesagt, es sei dies eine schlechte Gewohnheit von uns Landleuten und bringe nur Unglück; dennoch nahm ich mich nicht davor in Acht. Wenn ich mich diesem verdammten Pächter als einen ehrlichen Kerl gezeigt hätte, wie ich im Grund meines Herzens einer bin, so hätte er mich zwar gehasst, allein auch respektiert und vielleicht sogar gefürchtet, was er jetzt gewiss nicht mehr tun wird, wenn er erfährt, dass ich wie ein Marcheländer geredet. Großer Louis, mein Freund, du hast eine Dummheit begangen! Alle schlechten Handlungen sind dumm. Wenn du nur diese Suppe nicht aufessen musst!‹

Unruhig, eingeschüchtert und mit sich selber unzufrieden, ging er nach der Gemeindewiese zurück, um sich zu seiner Mutter zu gesellen und ihr vorzuschlagen, sie nach Angibault heimzubringen. Die Vesper war aus und die Müllerin hatte mit einigen Nachbarn bereits den Heimweg angetreten, nach dem sie dem Müllerburschen Jeannie aufgetragen, seinem Meister zu sagen, er möchte sich noch recht erlustieren, aber nicht allzu spät heimkommen.

Der große Louis wusste von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch zu machen. Tausend Ängsten hingegeben, irrte er bis zum Untergang der Sonne umher, an nichts Anteil nehmend und teils das Wiedererscheinen Roses erwartend, teils irgendeine Eröffnung von Seiten ihres Vaters.

Gerade beim Einbruch der Nacht beginnen sich die Dorfbewohner an festlichen Tagen am meisten zu belustigen. Die Gendarmen steigen, durch ihre Untätigkeit ermüdet, allmählich zu Pferde, um wegzureiten; die Leute aus der Stadt und der Umgegend erklettern ihre Gefährte aller Art, um das bei Nacht gefährliche Fahren zu vermeiden; die Krämer schnüren ihre Packen und der Pfarrer geht munter zum Abendessen, begleitet von irgendeinem geistlichen Mitbruder, welcher gekommen war, um unter fortwährendem Seufzen, dass er nicht an diesem sündhaften Vergnügen teilnehmen dürfe, dem Tanze zuzusehen. Die Bewohner des Ortes bleiben also im alleinigen Besitz des Platzes nebst den Musikanten, welche sich für die bisher noch nicht sehr große Einträglichkeit der Lustigkeit sich durch Verlängerung derselben entschädigen.

Nun sich alle kennen, ist man bald im Zuge, sich dafür schadlos zu halten, dass man den Tag über durch die Fremden auseinander gehalten, beobachtet und vielleicht verspottet war, ich sage durch die Fremden, denn im schwarzen Tale heißt alles fremd, was über den Umkreis einer Meile hinaus liegt. Sofort machte sich die ganze Einwohnerschaft des Ortes ans Tanzen, sogar die alten Leute, welche sich unter Tags nicht hervorgelassen, sogar die dicke Wirtsmagd, welche sich seit dem Morgen übermenschlich angegriffen, um ihre Kunden zu bedienen, jetzt aber ihre verräucherte Schürze zurückschlug, um mit veralteten Sprüngen umherzuhopsen, ja sogar der kleine buckelige Schneider, der die jungen Mädchen erröten machte, indem er sie à la belle heure umfasste und sein Maul bis an die Ohren aufreißend meinte, bei Nacht seien alle Katzen grau.

Rose, welcher das Schmollen langweilig wurde, begann wieder nach Zerstreuung zu verlangen, sobald ihre Verwandten alle weg waren. Bevor sie aber zur Kirchweih zurückkehrte, wollte sie noch ihre wahnsinnige Schwester sehen, welche unter der dicken Chounette Obhut den ganzen Tag über geschlafen hatte. Sie trat leise in die Kammer und fand ihre Schwester erwacht und mit nachdenklicher, beinahe ruhiger Miene auf dem Bette sitzen. Seit langer Zeit wagte es Rose zum ersten Mal wieder, ihr die Hand zu geben und nach ihrem Befinden zu fragen, und seit zwölf Jahren zum ersten Mal zog die Tolle ihre Hand nicht zurück und kehrte sich nicht übellaunig der Hinterseite des Bettes zu.

»Liebe Schwester, gute Bricoline«, sagte Rose ermutigt und erfreut, »du befindest dich besser?«

»Ich befinde mich wohl«, versetzte die Wahnsinnige kurz; »ich fand beim Erwachen, was ich seit vierundfünfzig Jahren gesucht habe.«

»Und was hast du denn gesucht, meine Liebe?«

»Ich suchte die Zärtlichkeit!« entgegnete die Bricoline mit seltsamer Betonung und mit geheimnisvollem Wesen den Finger auf die Lippen legend. »Ich habe allenthalben sie gesucht, in dem alten Schlosse, im Garten, am Rand der Quelle, auf dem Kreuzwege und insbesondere in dem Wildgehege. Aber sie ist nicht dort, Rose, und du suchst sie dort vergebens, auch du! Sie haben sie in einem großen Gewölbe unter diesem Hause versteckt und unter den Ruinen desselben kann man sie finden. Das ist mir im Schlafe gekommen, denn im Schlafe denke und suche ich fortwährend. Sei ruhig, Rose, und lass’ mich allein! Diese Nacht, nicht früher und nicht später, werde ich die Zärtlichkeit finden und dir auch davon geben. Dann werden wir reich sein! Heutzutage, wie dieser Gendarm sagt, von welchem man uns hier bewachen lässt, sind wir so arm, dass niemand etwas von uns will. Aber morgen, Rose, nicht früher und nicht später, morgen werden wir alle beide verheiratet sein, ich an Paul, welcher König von Algier geworden ist, und du an den Mann, welcher die Mehlsäcke bringt und dich immer anschaut. Ich werde ihn zu meinem ersten Minister machen und sein Geschäft soll darin bestehen, den Gendarm, welcher immer das Nämliche sagt und uns so viel hat aufstehen lassen, an langsamem Feuer zu braten. Aber schweige und sage niemandem davon. Das ist ein wichtiges Geheimnis und das Schicksal des Krieges in Afrika hängt davon ab.«

Diese bizarre Rede erschreckte Rose sehr und sie wagte nicht mehr, mit ihrer Schwester zu sprechen, da sie besorgte, dieselbe noch mehr zu exaltieren. Sie wollte aber auch ihre Schwester nicht verlassen, bevor der Arzt, welchen man um diese Zeit erwartete, angekommen wäre, sie vergaß sogar ihr Verlangen, zu tanzen, und blieb nachdenklich, das Haupt geneigt, die Hände über den Knien gekreuzt und das Herz von tiefer Traurigkeit erfüllt, an dem Lager der Wahnsinnigen sitzen.

Die beiden Schwestern, von denen die eine durch den Schmerz so furchtbar entstellt und in ihrer Selbstvernachlässigung so zurückstoßend, die andere so zierlich, so prangend in Frische und Schönheit, boten dem Auge einen auffallenden Kontrast dar, und dennoch waren sich ihre Züge wieder so ähnlich und beide bargen in ihrem Busen eine widerwärtige Liebe, wie man dort zu Lande sagt, beide waren traurig und ernst, aber die Wahnsinnige, welche in ihrem wirren Geist phantastische Hoffnungen und Pläne hegte, war weniger niedergeschlagen als Rose.

Der Arzt kam zur bestimmten Stunde und untersuchte die Kranke mit dem apathischen Wesen eines Menschen, welcher in einem schon lange verzweifelten Falle nichts hoffen und nichts versuchen kann.

»Der Puls geht immer gleich; es ist keine Änderung eingetreten«, äußerte er.

»Verzeihung, Doktor«, sagte Rose, ihn beiseite ziehend, »seit heute Abend ist allerdings eine Änderung eingetreten. Sie schreit, schläft, spricht anders als gewöhnlich. Ich versichere Sie, es bereitet sich in ihr eine Umwälzung. Heute Abend sucht sie ihre Gedanken, wenn dieselben auch verrückt sind, zu sammeln und auszudrücken. Ist das besser oder schlechter, als ihre gewöhnliche Stumpfheit? Was meinen Sie?«

»Ich meine nichts«, erwiderte der Arzt. »Bei dieser Art von Krankheit kann man sich auf alles gefasst machen, aber nichts vorhersehen. Ihre Familie tat sehr Unrecht daran, dass sie das Opfer scheute, die Kranke in eine der Anstalten zu bringen, wo Leute vom Fach sich speziell mit solchen Ausnahmsfällen beschäftigen. Ich meinesteils habe mich nie gerühmt, sie heilen zu wollen, und ich denke, dass selbst die geschicktesten Ärzte dies jetzt nicht mehr vermöchten. Es ist zu spät. Alles, was ich wünsche, ist, ihre Manie der Einsamkeit und des Schweigens möchte nicht in Wut ausarten. Vermeiden Sie es, ihr entgegen zu handeln und reizen Sie sie nicht zum Sprechen, um dadurch ihr Denken nicht auf einen Punkt zu fixieren.«

»Ach«, sagte Rose, »ich wage es nicht, Ihnen zu widersprechen, und dennoch ist es so entsetzlich, immer allein und aller Welt zum Schrecken zu leben! Jetzt, da sie endlich nach irgendeiner Teilnahme, nach Mitleid sucht, soll man diesem Bedürfnis mit eisigem Schweigen sich widersetzen? Wissen Sie, was sie mir vorhin gesagt hat? Sie sagte, sie hätte, seit sie verrückt sei (und sie behauptet, es seit vierundfünfzig Jahren zu sein), sich damit beschäftigt, die Zärtlichkeit zu suchen. Armes Mädchen, es ist gewiss, dass du sie nicht gefunden hast!«

»Und sagte sie dies mit vernünftigen Worten?«

»Ach nein, sie mischte wunderliche Ideen und furchtbare Drohungen darein.«

»Sehen Sie, diese Ergüsse des Deliriums sind also mehr gefährlich als heilsam. Lassen Sie sie allein, folgen Sie mir, und wenn sie hinausgehen will, so verhindern Sie sie durchaus nicht in ihren Gewohnheiten. Dies ist die einzige Art und Weise, um die Wiederkehr der Krisis von gestern Abend zu verhüten.«

Nur ungerne gehorchte Rose, allein Marcelle, welche sich in ihr Zimmer zurückziehen wollte, um zu schreiben, bemerkte, dass ihre Freundin traurig und nachdenklich sei, und drang deshalb in sie, Zerstreuung zu suchen, wobei sie ihr versprach, sie sogleich durch die kleine Fanchon zu benachrichtigen, sobald sich bei ihrer Schwester ein bedenkliches Symptom zeigen würde.

Frau Bricolin war sehr mit ihrem Hauswesen beschäftigt, und die Großmutter drängte Rose, vor Torschluss des Festes noch eine Bourrée unter ihren Augen zu tanzen.

»Bedenk’ nur«, sagte sie zu dem Mädchen, »dass ich jetzt die Feste zähle, indem ich mir alljährlich sage, dass ich vielleicht das kommende nicht mehr erleben werde. Ich muss dich also heute noch lustig beim Tanze sehen, sonst bleibt mir ein trauriger Gedanke im Kopfe und ich bilde mir ein, das bedeute ein Unglück.«

Rose hatte noch keine drei Schritte auf der Gemeindewiese gemacht, als sich der große Louis bereits an ihrer Seite befand.

»Jungfer Rose«, redete er sie an, »hat Ihnen Ihr Papa nichts gegen mich gesagt?«

»Nein, er hat mir im Gegenteil heute Morgen fast befohlen, mit dir zu tanzen.«

»Aber nachher?«

»Ich habe ihn kaum gesehen; er hat nicht mit mir gesprochen und scheint viel mit seinen Sachen zu tun zu haben.«

»Vorwärts, Louis!« sagte die Großmutter. »Willst du nicht Rose zum Tanz führen? Du siehst doch, dass sie Lust hat?«

»Ist es wahr, Jungfer Rose?« fragte der Müller, die Hand des jungen Mädchens fassend; »sollten Sie den Einfall haben, heute Abend noch mit mir zu tanzen?«

»Ich habe nichts gegen einen Tanz einzuwenden«, versetzte Rose mit herausfordernder Nachlässigkeit.

»Wenn Sie einen andern Tänzer als mich wollen«, bemerkte der große Louis, Roses Arm an sein pochendes Herz pressend, »so will ich einen suchen.«

»Das will wohl sagen, dass Sie meinen, Sie seien nicht der verlangte Tänzer?« entgegnete das boshafte Mädchen stehenbleibend.

»Sie nehmen es so?« rief der Müller, außer sich vor Liebe. »Nun wohl, Sie sollen sehen, ob meine Beine lahm seien!«

Und er führte, er trug sie fast in die Mitte des Reigens und einen Augenblick später glitten sie, beiderseitig ihre Bekümmernisse und Ängste vergessend, leicht über den Rasen hin und hielten sich ein wenig fester bei der Hand, als die Regel der Bourrée es schlechterdings verlangte.

Allein diese entzückende Bourrée war noch nicht zu Ende, als Herr Bricolin, der diesen Augenblick abgepasst hatte, um dem Müller angesichts des ganzen Dorfes einen desto grausameren Schimpf anzutun, sich in den Kreis der Tanzenden stürzte und durch eine Gebärde dem Dudelsackbläser Stillschweigen gebietend Rose beim Arm fasste und schrie:

»Meine Tochter, du bist ein ehrsames und ehrenwertes Mädchen und sollst also nicht mehr mit Leuten tanzen, welche du nicht kennst!«

»Jungfer Rose tanzt mit mir, Herr Bricolin!« sagte der große Louis sehr aufgeregt.

»Gerade das verbiet’ ich ihr, wie ich Ihnen verbiete, ja Ihnen, sich zu unterstehen, sie zum Tanze aufzufordern, noch sie anzureden, noch jemals wieder mein Haus zu betreten, noch…«

Die donnernde Stimme des Pächters erstickte mitten in diesem Erguss seiner Beredsamkeit, und der Zorn machte ihn stottern. Der große Louis hielt an sich. Dann sagte er:

»Herr Bricolin, Sie haben das Recht, als Vater Ihrer Tochter zu befehlen, Sie haben auch das Recht, mir Ihr Haus zu verbieten, allein Sie haben keineswegs das Recht, mich öffentlich zu beleidigen, bevor Sie mir unter vier Augen eine Erklärung gegeben haben.«

»Ich habe das Recht, zu tun, was mir beliebt«, schrie Bricolin noch erbitterter, »und einem schlechten Kerl zu sagen, wie ich von ihm denke!«

»Wem sagen Sie das, Herr Bricolin?« fragte jetzt Louis, dessen Augen zu blitzen begannen, denn obwohl er sich beim Beginn dieses Auftrittes gesagt hatte: ›Da haben wir’s, und ich verdiene es noch dazu einigermaßen!‹, so war es ihm doch unmöglich, sich geduldig eine Beschimpfung gefallen zu lassen.

»Ich sage es, wem zu sagen es mir gut däucht!« versetzte Bricolin mit majestätischer Miene, im Grunde aber ziemlich eingeschüchtert.

»Nun, wenn Sie es Ihrer Mütze sagen, so geht’s mich nichts an«, bemerkte der große Louis und suchte sich zu mäßigen.

»Seht doch diesen Rasenden!« sagte der Pächter, sich in die Mitte des Haufens von Neugierigen stellend, welcher sich um ihn gesammelt hatte; »sollte man nicht meinen, er wolle mich insultieren, weil ich ihm verbiete, mit meiner Tochter zu reden? Habe ich nicht das Recht dazu?«

»Allerdings, Sie haben das vollkommenste Recht dazu«, erwiderte der Müller, sich zum Weggehen zwingend, »doch nicht, ohne mir den Grund davon anzugeben, und ich werde Sie nach demselben fragen, sobald Sie und ich bei kälterem Blut sein werden.«

»Du drohst mir, Unglücklicher?« schrie Bricolin, beunruhigt, und die Versammlung zum Zeugen nehmend und wie um seine Schützlinge und Dienstleute zum Beistand gegen einen gefährlichen Menschen anrufend, wiederholte er in emphatischen Ton: »Er droht mir!«

»Gott bewahre mich davor, Herr Bricolin!« sagte der große Louis achselzuckend; »Sie verstehen mich nicht…«

»Und ich will dich nicht verstehen. Ich will nichts hören von einem Undankbaren, von einem falschen Freund. Ja«, setzte er hinzu, bemerkend, dass dieser Vorwurf dem Müller mehr Verdruss, als Zorn machte, »ja, ich sage dir: du bist ein falscher Freund, ein Judas!«

»Ein Judas? Nein, denn ich bin kein Jude, Herr Bricolin.«

»Ich weiß es nicht«, versetzte der Pächter, der sich in eben dem Grade, als sein Gegner nachgiebig zu werden schien, ermutigte.

»Ah, sachte, sachte, wenn es Ihnen gefällt!« sagte der große Louis mit einer Betonung, welche dem Pächter den Mund schloss, »keine große Worte! Ich respektiere Ihr Alter, ich achte Ihre Mutter und Ihre Tochter gleichfalls, vielleicht höher, als Sie selbst, aber ich stehe nicht für mich, wenn Sie mich zu sehr reizen. Ich könnte Ihnen antworten und zeigen, dass, wenn ich ein kleines Unrecht begangen habe, Sie dagegen ein großes verüben. Schweigen wir also, glauben Sie mir, Herr Bricolin; es konnte uns weiter führen, als wir wollten. Ich werde Sie sprechen und Sie werden mich hören.«

»Du sollst mir nicht kommen, und wenn du kommst, so werde ich dich mit Schimpf und Schande aus dem Hause werfen!« schrie Herr Bricolin, als er sah, dass sich der Müller mit zu raschen Schritten entfernte, um ihn noch zu hören. »Du bist nur ein armer Teufel, ein Betrüger, ein Schleicher!«

Rose, die bisher, bleich und von Schrecken erstarrt, regungslos am Arm ihres Vaters gehangen war, machte jetzt eine energische Bewegung, deren sie sich einen Augenblick zuvor selber noch für unfähig gehalten hatte.

»Mein Vater«, sagte sie, ihn mit Gewalt von der versammelten Menge wegziehend, »man muss sich unter sich und nicht vor aller Welt erklären. Was Sie da getan, ist höchst unangenehm für mich und Sie scheinen nicht sehr dafür besorgt zu sein, dass ich geachtet werde.«

»Du? Du?« entgegnete der Pächter erstaunt und wie besiegt durch den Mut seiner Tochter. »In dem ganzen Vorgang liegt nichts, was dich anginge, was man auf deine Rechnung schreiben könnte. Ich hatte dir erlaubt, mit diesem Unglücklichen zu tanzen, ich fand das sehr ehrsam und natürlich, wie auch alle Welt es finden muss, denn ich wusste nicht, dass dieser Mensch ein Verworfener, ein Verräter, ein....«

»Alles, was Sie wollen, Vater, aber für diesen Ort ist’s jetzt wohl genug«, unterbrach Rose den Schmähenden, indem sie mit der Heftigkeit eines störrischen Kindes dessen Arm schüttelte. Und es gelang ihr wirklich, ihn nach Hause zu bringen.