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Buch lesen: «Der Müller von Angibault», Seite 11

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Zweiter Tag

15. Kapitel.
Die Erscheinung

Das Geräusch, welches den Schlaf unserer Heldin störte, war das eines an der Außenseite der Zimmertüre mit einer außerordentlichen Hartnäckigkeit und Ungeschicklichkeit hin- und herfahrenden Gegenstandes. Dieses Hin- und Herfahren war so hart und so mechanisch, dass es nicht wohl von einer menschlichen Hand herrühren konnte, welche in der Finsternis nach dem Schloss der Türe tastete, und dennoch konnte Marcelle, da es durchaus nicht von einer Ratte herzurühren schien, demselben keine andere Ursache unterlegen, sondern meinte, es sei vielleicht einer der Dienstboten aus dem Pachthof, welcher in dem alten Schloss schliefe, und, betrunken und ohne Licht, sich über das Stockwerk täuschend, sein Nachtlager im Dunkeln suche. Sich noch dazu erinnernd, dass sie den Schlüssel ihrer Türe habe stecken lassen, stand sie auf, um diese Vergesslichkeit gut zu machen, sobald das Geräusch sich entfernt haben würde, allein dieses dauerte fort und Marcelle wagte nicht, die Türe zu öffnen und ihr Vorhaben auszuführen, in der Besorgnis, dass sie, so sie sich zeigte, von irgendeinem Tölpel beschimpft werden möchte.

Die Störung wurde allgemach immer unangenehmer, als die unsichtbare Hand ungeduldig zu werden schien und an der Türe kratzte in einer Weise, in welcher Marcelle die Krallen einer Katze zu erkennen glaubte, so dass sie, ihre Unruhe belächelnd, sich entschloss, zu öffnen, um diesen Gast ihres Zimmers zu verjagen. Aber kaum hatte sie etwas vorsichtig die Türe zur Hälfte geöffnet, als dieselbe mit Heftigkeit gegen sie aufgestoßen wurde und die Wahnsinnige auf der Schwelle erschien. Dieser Besuch war Marcelle von allen der unangenehmste und sie war ungewiss, ob sie die Störerin ihrer Ruhe nicht mit Gewalt zurückstoßen sollte, trotz dem, was man ihr von der gewöhnlichen Friedfertigkeit ihres Wahnsinns gesagt hatte. Aber der Ekel, welchen ihr der unsaubere Anzug der Unglücklichen einflößte, und mehr noch ein Gefühl von Mitleid hinderten sie, diesem Gedanken nachzugeben.

Die Wahnsinnige schien die Gegenwart der jungen Witwe nicht wahrzunehmen, und bei ihrer Vorliebe für die Einsamkeit war es wahrscheinlich, dass sie sich zurückziehen würde, sobald sich Marcelle bemerklich machte. Diese beschloss also, zuzusehen und abzuwarten, was ihr trauriger Gast vorhabe, und zu ihrem Bette zurückgehend, setzte sie sich auf den Rand desselben und zog die Vorhänge hinter sich zu, damit Eduard, wenn er etwa erwachte, die ›garstige Frau‹ nicht erblicke, welche ihn im Park so sehr in Furcht gejagt. Die Bricoline – wir haben schon gesagt, dass die ältesten Töchter unserer Bauern und Landbürger statt des Vornamens den Familiennamen mit weiblicher Endung führen – durchschritt das Zimmer mit einer gewissen Hast und näherte sich dem Fenster, welches sie nach vielen vergeblichen Versuchen öffnete, denn die Abgezehrtheit ihrer Hände und die Länge ihrer Nägel, welche sie niemals beschneiden lassen wollte, waren ihr sehr hinderlich. Als sie endlich mit dem Öffnen des Fensters zustande gekommen, beugte sie sich hinaus und sprach mit absichtlich gedämpfter Stimme den Namen ›Paul‹ aus. Es war dies ohne Zweifel der Name ihres Geliebten, welchen sie fortwährend erwartete und an dessen Tod sie schlechterdings nicht glauben konnte.

Als dieser klägliche Ruf in der Stille der Nacht keinerlei Echo fand, setzte sie sich auf die steinerne Bank, wie sie in allen alten Gemächern dieser Art die Tiefe der Fensternische einnehmen, verstummte, rollte fortwährend ihr blutbeflecktes Tuch in der Hand und schien resigniert zu warten. Nach Verfluss von ungefähr zehn Minuten stand sie auf und rief wiederum mit gedämpfter Stimme den Namen Paul, wie wenn sie ihren Geliebten unter dem Buschwerk des Schlossgrabens versteckt gewusst und gefürchtet hätte, die Aufmerksamkeit der Bewohner des Pachthofes zu erregen. Die Unglückliche brachte mehr als eine Stunde damit zu, abwechslungsweise den Namen Paul zu rufen und wieder mit außerordentlicher Geduld und Ergebung zu warten. Der Mond beschien hell ihr fleischloses Gesicht und ihren ungestalten Körper. Vielleicht träumte sie wachend, dass er da sei, dass er sie höre und ihr Antwort gebe, und wenn ihr Traum zu entschwinden drohte, suchte sie ihn wohl dadurch festzuhalten, dass sie dem hochgeliebten Toten wieder und immer wieder rief.

Ihr Anblick zerriss unserer Heldin das Herz. Sie hätte gar gerne die Geheimnisse der Wahnsinnigen erkundet, in der Hoffnung, dadurch in den Besitz eines Mittels zu gelangen, welches ihr Leiden hätte sänftigen können; aber Verrückte dieser Art erklären sich nicht und es ist unmöglich, sie zu erraten, sei’s, dass sie von einem Gedanken eingenommen, welcher sie ohne Unterlass beschäftigt, sei es, dass sie von Zeit zu Zeit ganz und gar gedankenlos seien.

Als das arme Mädchen endlich das Fenster verließ, ging sie ebenso langsam und abgemessen, wie sie Marcelle in der Allee des Parkes hatte gehen sehen, im Zimmer auf und ab. Sie schien nicht mehr an ihren Geliebten zu denken und ihre in sich gekehrte Physionomie ähnelte jetzt der eines alten Alchimisten, welcher ganz in Suchen nach dem Stein des Weisen versunken ist. Dieses Hin- und Hergehen dauerte lange genug, um Frau von Blanchemont, welche sich weder niederzulegen, noch ihren Sohn zu verlassen wagte, um die kleine Fanchon zu wecken, äußerst zu ermüden. Zuletzt verließ die Wahnsinnige doch das Zimmer und begann ein Stockwerk höher das nämliche Wesen zu treiben, indem sie ebenfalls den Namen Paul zum Fenster hinausrief, wartete und auf und ab ging. Marcelle dachte, man müsse die Bricolins benachrichtigen. Gewiss wussten sie nicht, dass ihre Tochter dem Hause entkommen war und vielleicht Gefahr lief, sich ums Leben zu bringen oder wenigstens aus einem Fenster zu fallen. Allein die kleine Fanchon, welche sie nicht ohne Mühe weckte, um ihr zu sagen, sie möchte neben Eduards Bett bleiben, während sie selbst in das neue Schloss hinüberginge, brachte sie von diesem Vorhaben ab.

»Ei. nicht doch, gnädige Frau«, meinte das Mädchen. »Die Bricolins werden deshalb nicht aufstehen, denn sie sind schon daran gewöhnt, diese arme Jungfer bei Nacht, wie beim Tage, umherlaufen zu sehen. Sie tut sich keinen Schaden, sie hat schon längst vergessen, sich umzubringen. Man sagt, sie schlafe niemals, und es ist nicht zu verwundern, dass sie bei Mondschein noch unruhiger denn gewöhnlich ist. Schließen Sie nur Ihre Türe fest zu, damit sie Ihnen nicht abermals lästig werden kann. Sie haben aber wohlgetan, sie nicht anzureden, denn das macht sie wild. Sie wird jetzt bis Tagesanbruch ihr Wesen treiben, wie die ›Nachteulen‹; da Sie jedoch jetzt wissen, was es ist, werden Sie wohl einschlafen können.«

Die kleine Fanchon, die, dank ihren fünfzehn Jahren und ihrem friedlichen Temperament, selbst unter Kanonendonner geschlafen hätte, wenn sie nur gewusst, was es wäre, konnte wohl so sprechen. Marcelle aber hatte Mühe, ihrem Beispiel zu folgen, bis endlich die Ermüdung den Sieg davontrug und sie einschlief unter dem Geräusch der regelmäßigen und fortwährenden Schritte der Wahnsinnigen, welche über ihr das Gebälke des alten Schlosses erzittern machten.

Am folgenden Morgen vernahm Rose mit Bedauern, aber ohne Überraschung das Ereignis der Nacht.

»Ach, mein Gott!« sagte sie, »wir hatten sie doch wohlverwahrt, indem wir recht gut wussten, dass sie die Gewohnheit habe, bei zunehmendem Mond überall, mit Vorliebe aber in dem alten Schlosse (weswegen meine Mutter Sie auch nicht in demselben logieren wollte) umherzustreichen. Sie muss aber dennoch ein Mittel gefunden haben, durch das Fenster zu entkommen und hieher zu gehen. Ihre Hände sind zwar schwach und ungeschickt, allein sie besitzt so viel Geduld! Sie hat nur einen Gedanken und geht nie davon ab. Der Herr Baron, welcher kein so gutes Herz hatte wie Sie, und über Dinge, die ganz und gar nicht lächerlich waren, lachte, behauptete, sie suche.... warten Sie, … ich muss mich noch seines Ausdrucks entsinnen .... die Quadratur ja, so ist’s, die Quadratur des Zirkels, und wenn er sie vorbeigehen sah, sagte er zu uns: ›Ei, hat Euer Philosoph sein Problem noch immer nicht gelöst?‹«

»Ich habe keine Lust, über etwas zu lachen, was das Herz bluten macht«, versetzte Marcelle, »und ich hatte diese Nacht traurige Träume. Wissen Sie was, Rose? Wir sind jetzt gute Freundinnen, wir werden, hoff’ ich, noch bessere werden, und da Sie mir Ihr Zimmer angeboten haben, so nehme ich es an, unter der Bedingung jedoch, dass Sie es nicht verlassen, sondern mit mir teilen. Ein Kanapee für Eduard und ein Gurtbett für mich, mehr bedarf es nicht.«

»O, Sie machen mich närrisch vor Freude«, rief Rose aus, und warf sich der Baronin an den Hals. »Man braucht gar nichts anzuordnen, denn in jedem unserer Zimmer stehen zwei Betten; ’s ist so der Brauch auf dem Lande, wo man immer den Besuch einer Freundin oder einer Verwandten erwarten muss, und ich werde ganz glücklich sein, wenn ich jeden Abend mit Ihnen plaudern kann.«

Die Freundschaft der beiden jungen Frauen machte im Verlauf des Tages wirklich große Fortschritte, und Marcelle gab sich derselben umso mehr hin, da dieses die einzige Annehmlichkeit war, welche sie im Hause des Pächters erwarten durfte. Herr Bricolin führte sie auf einem Teil der Güter umher und sprach fortwährend von Geld und Arrangierung. Er versteckte seinen Wunsch, das Gut zu kaufen, aber ohne Erfolg, und Marcelle war, um dieses ihrem Wesen so sehr widersprechende Geschäft zu Ende zu bringen, bereit, einige der von ihm geforderten Opfer zu bringen, machte jedoch, bis sie sich von der Richtigkeit seiner Angaben überzeugt hätte, von ihrer Klugheit Gebrauch, um ihn in Unruhe und Ungewissheit zu erhalten. Rose hatte ihr zu verstehen gegeben, dass Marcelle unter diesen Umständen großen Einfluss auf das Geschick ihrer neuen Freundin üben könnte, und zudem hatte sie ja dem großen Louis versprochen, nichts zu tun, ohne ihn beraten zu haben. Sie hegte großes Vertrauen zu diesem unerwarteten Freund und beschloss daher, seine Rückkehr abzuwarten, bevor sie einen entscheidenden Entschluss fasste. Er kannte jedermann und besaß zu viel Scharfsinn, um ihr einen falschen Schritt anzuraten.

16. Kapitel.
Diplomatie

Wir haben den wackern Müller verlassen, als er sich mit Lapierre, Susette und dem Patachon nach der Stadt auf den Weg machte. Sie kamen um zehn Uhr abends dort an und folgenden Tages ging der große Louis, nachdem er die beiden Diener auf dem Postwagen nach Paris eingeschifft, in aller Frühe nach dem Hause des Bürgers, welchem er Marcelles Kalesche zu verkaufen beabsichtigte. An der Briefpost vorüberkommend, ging er nach dem Büro, um dem Postsekretär selbst den Brief zu übergeben, welchen Marcelle ihm anvertraut hatte. Die erste Gestalt, welche ihm hier ins Auge fiel, war die des jungen Unbekannten, der vor vierzehn Tagen im schwarzen Tal umhergestrichen, Blanchemont besucht hatte und durch Zufall in die Mühle von Angibault geraten war. Der junge Mann hatte des Müllers nicht Acht, sondern las am Eingang des Büros mit Hast und Bewegung einen Brief, welchen er soeben empfangen hatte. Der große Louis, welcher den der Frau von Blanchemont in der Hand hielt und sich erinnerte, welchen Eindruck es auf die junge Dame gemacht hatte, als sie am Ufer der Vauvre den Namen ›Heinrich‹ auf einem Baumstamm gelesen, warf einen verstohlenen Blick auf den Brief, welchen der junge Mann las und so hielt, dass die Außenseite dem Müller zugekehrt war.

In einem Augenblick nahm dieser mit harmloser Neugierde wahr, dass der Brief des Fremden von der nämlichen Hand, wie der, welchen er auf die Post geben wollte, an ›Herrn Heinrich Lemor‹ adressiert war, die beiden Briefe rührten also sicherlich von Marcelle her und der Unbekannte, das nahm der Müller ohne Umstände an .... der Unbekannte musste der Geliebte der jungen Witwe sein. Der große Louis täuschte sich nicht. Jenes Billet, welches Marcelle noch in Paris an Heinrich Lemor geschrieben und welches ihm ein Freund Poste restante nach *** nachgeschickt hatte, war in diesem Augenblick in die Hände des jungen Mannes gekommen und er war weit davon entfernt, einen zweiten Brief zu erwarten, als der große Louis diesen Schatz zum Scherz vor die Augen des Jünglings brachte, indem er denselben zwischen dessen Antlitz und das Schreiben hielt, welches Lemor eben zum dritten Mal lesen wollte.

Heinrich erbebte und, sich ungestüm auf den zweiten Brief werfend, wollte er denselben dem Müller entreißen. Dieser aber hielt ihn zurück und sagte:

»Nein, nein, nicht so schnell, mein Junge! Der Postsekretär könnte uns zusehen und ich habe nicht Lust, die Geldbuße zu zahlen, welche keineswegs gering ist. Wir wollen ein wenig beiseitetreten, denn ich denke, Sie werden zu ungeduldig sein, zu warten, bis dieser allerliebste Brief wieder von Paris zurückkäme, denn dahin würde man selben auf der Stelle schicken, Ihrer Reklamation und der Vorweisung Ihres Passes ungeachtet, da er nicht hieher Poste restante adressiert ist. Folgen Sie mir dort nach dem Spaziergang hin.«

Lemor folgte ihm, aber der Müller bekam inzwischen einen Skrupel.

»Warten Sie«, sagte er, als sie eine einsamere Stelle erreicht hatten, »sind Sie auch gewiss das Individuum, dessen Name hier auf dem Briefe steht?«

»Gewiss. Wie können Sie daran zweifeln, da sie mich ja erkannten, als Sie mir den Brief zeigten?«

»Das ist einerlei, Sie haben doch einen Pass?«

»Allerdings, ich musste ihn gerade auf der Post vorweisen, um meine Briefe in Empfang nehmen zu können.«

»Das kann wohl sein, aber, sehen Sie, wenn Sie mich auch für einen verkleideten Gendarm halten«, meinte der Müller, indem er dem Fremden den Brief hinhielt, »so muss ich Sie dennoch um ihren Pass bitten.«

»Sie sind sehr misstrauisch«, entgegnete Lemor, in dem er sich beeilte, dem Müller das verlangte Papier zu geben.

»Noch einen Augenblick Geduld«, sagte der kluge Müller. »Ich muss, im Fall mich die Leute von der Post Ihnen diesen Brief übergeben sehen, imstande sein, zu schwören, dass ich Ihnen denselben unversiegelt übergab.«

So sprechend brach er das Siegel, ohne sich jedoch zu erlauben, den Brief zu öffnen und übergab ihn Heinrich, indem er dessen Pass entgegennahm. Während der junge Mann den Brief begierig las, nahm der Müller, nicht ungern seiner Neugierde genügend, Einsicht von dem Stand und ›Charakter‹ des Fremden: Der Pass lautete: ›Heinrich Lemor, vierundzwanzig Jahre alt, von Geburt Pariser, Mechaniker von Beruf, reist nach Toulouse, Montpellier, Reines, Avignon und vielleicht nach Toulon und Algier, in der Absicht, eine Gelegenheit zur Ausübung seiner Kunst zu suchen.‹

»Teufel!« sagte der Müller bei sich, »Mechaniker! … und geliebt von einer Baronin! Arbeit suchend und vielleicht imstande, der Mann einer Frau zu werden, welche noch immer dreimalhunderttausend Francs im Vermögen hat! Man zieht also nur bei uns das Geld der Liebe vor, nur bei uns sind die Weiber stolz! Es ist wahrhaftig zwischen der Enkelin des Taglöhners Bricolin und dem Enkel meines Großvaters, des Müllers, kein so großer Unterschied, wie zwischen der Baronin und diesem armen Teufel! Ei, Jungfer Rose, ich wollte, die gnädige Frau Marcelle lehrte Sie das Geheimnis der Liebe!«

Sodann das Äußere des jungen Mannes, welcher ganz in den Brief versenkt war, musternd, ohne auf das Signalement des Passes Rücksicht zu nehmen, sagte der große Louis weiter zu sich:

»Mittlerer Größe, von blassem Gesicht ziemlich hübsch, wenn man will, aber dieser schwarze Bart, der ist garstig. Alle diese Pariser Gesellen sehen aus, als trügen sie ihre ganze Stärke am Kinn.«

Und mit geheimem Wohlgefallen verglich der Müller seine athletischen Glieder mit der schmächtigeren Organisation Lemors, indem er dachte: ›Es scheint mir, man müsse eben nicht von viel ausgezeichneter Beschaffenheit sein, als dieser Junge da, um einer Frau von Verstand .... einer schönen Dame den Kopf zu verrücken .... ei, Jungfer Rose könnte wohl einsehen, dass ihr ergebenster Diener nicht übler aussieht, als ein anderer. Bei alldem aber haben diese Pariser eine Anmut, ein Gebaren, schwarze Augen und ein ich weiß nicht was, welches uns neben ihnen zu recht vierschrötigen Lümmeln macht. Und hat dieser ganz gewiss je mehr Geist, umso schmächtiger er ist. Ich wollte, er könnte mir ein bisschen davon ablassen und mich seinerseits das Geheimnis, geliebt zu werden, lehren!‹

Mitten in diesen Betrachtungen bemerkte Meister Louis, dass der junge Mann, von noch viel lebhafteren erfasst, wegging, ohne sich weiter um den Müller zu kümmern, und ihm nachlaufend, rief dieser aus:

»Hollah, Kamerad! Wollen Sie mir denn Ihren Pass lassen?«

»Ach, mein lieber Freund, ich hatte Sie ganz vergessen, und bitte Sie deshalb um Verzeihung«, entgegnete Lemor. »Sie haben mir mit der Übergabe dieses Briefes einen großen Dienst erwiesen und ich sage Ihnen tausendmal Dank … Aber jetzt erkenne ich Sie erst. Ich muss Sie unlängst wo gesehen haben … richtig, es war in Ihrer Mühle, wo ich so gastfreundlich aufgenommen wurde … Ein prächtiger Ort und eine so gute Mutter! Sie sind ein glücklicher Mensch, Sie, denn Sie sind frei und gefällig, man sieht es wohl.«

»Hat sich was mit dieser Gastfreundschaft!« sagte der Müller. »Übrigens ist es ihre Schuld, dass Sie bloß Brot und Wasser annehmen wollten .... Das und Ihr Kapuzinerbart hatte mir eine etwas üble Meinung von Ihnen beigebracht. Indessen sehen Sie ebenso wenig wie ich einem Jesuiten gleich, und wenn Sie sich meiner erinnern, so erinnere ich mich auch meinerseits Ihrer … Was das betrifft, dass ich ein glücklicher Mensch sei so muss ich Ihnen raten, andere zu beneiden, nicht aber mich. Wollen Sie mich denn verspotten?«

»Ich weiß nicht, was Sie sagen wollen. Sollte Sie, seit ich Sie gesehen, etwa ein Unglück getroffen haben?«

»Bah, ’s ist schon lange her, seit mich ein Unglück traf, welches Gott weiß wann aufhören wird! Doch ich habe ebenso wenig Lust, Ihnen davon zu schwatzen, als Sie, mir zuzuhören, denn Sie haben ebenfalls, ich sehe es wohl, einen Sparren zu viel im Kopf. Hm, hm … aber wollen Sie denn der Person, welche Ihnen schrieb, nicht ein Wort antworten, wäre es auch nur, um mir zu bezeugen, dass ich meinen Auftrag ausgerichtet?«

»Sie kennen also diese Person?« fragte Lemor bebend.

»Sie … wo hatten Sie denn Ihre Sinne, dass Sie mich noch nicht darnach gefragt?«

Die wohlwollende, aber etwas neckische Miene des großen Louis begann Lemor zu beunruhigen. Er befürchtete, Marcelle zu kompromittieren, und doch war wieder die Physionomie des Bauers nicht gemacht, Misstrauen einzuflößen. Allein dessen ungeachtet glaubte Heinrich eine Art von Gleichgültigkeit erheucheln zu müssen.

»Ich kenne die Dame, welche mir die Ehre antat, an mich zu schreiben, nur höchst oberflächlich«, sagte er. »Weil der Zufall mich neulich in die Gegend geführt, wo sie Güter besitzt, glaubte sie wahrscheinlich, ich sei imstande, ihr einige Aufschlüsse…«

»Ja«, unterbrach ihn der Müller, »das könnte sein, wenn sie nur wüsste, dass Sie dort gewesen; sie weiß aber hievon durchaus nichts, noch weniger, warum Sie dort gewesen, und ich bitte Sie, mir es zu sagen, wenn Sie nicht wollen, dass ich es errate.«

»Hierauf werde ich ein andermal Antwort geben«, versetzte Lemor mit etwas Ungeduld und ironischem Stolz. »Sie sind neugierig, Freund, und ich weiß nicht, warum Sie in meinem Benehmen etwas Geheimnisvolles sehen wollen.«

»Es ist etwas darin, Freund, ich sage Ihnen: es ist wirklich etwas Geheimnisvolles darin, da Sie es ›ihr‹ nicht zu wissen getan, dass Sie im schwarzen Tal gewesen.«

Die Hartnäckigkeit des Müllers machte Heinrich immer verlegener und indem er besorgte, in irgendeine Schlinge zu fallen oder eine Unklugheit zu begehen, dachte er daran, wie er sich diesen wunderlichen Nachfragen entledigen könnte, und erwiderte deshalb achselzuckend:

»Ich weiß nicht, von wem, noch wovon Sie mir sprechen. Ich wiederhole Ihnen meinen Dank und sage Ihnen Lebewohl. Wenn der mir von Ihnen überbrachte Brief einer Antwort oder eines Empfangsscheins bedarf, so werde ich durch die Post antworten. Ich reise binnen einer Stunde nach Toulouse ab und bedaure also, mich nicht länger mit Ihnen unterhalten zu können.«

»Ah, Sie gehen nach Toulouse?« fragte der Müller, seinen Schritt verdoppelnd, um an Heinrichs Seite zu bleiben. »Ich glaubte wahrhaftig, Sie würden mit mir nach Blanchemont kommen.«

»Warum nach Blanchemont?«

»Weil, wenn Sie, wie Sie ja behaupten, der Dame von Blanchemont betreffs ihrer Angelegenheiten Rat zu erteilen haben, es doch gewiss besser wäre, dies persönlich zu tun, als in der Hast einige Zeilen zu schreiben. Das ist eine Person, die es wohl wert ist, dass man einige Meilen Weges daransetzt, ihr einen Gefallen zu erweisen, und ich, der ich doch nur ein Müller bin, würde, so es sein müsste, für sie bis ans Ende der Welt gehen.«

Fast ohne sein Zutun also von dem Aufenthaltsort unterrichtet, welchen Marcelle für den Augenblick gewählt hatte, konnte sich Lemor nicht entschließen, sich so rasch von dem Manne zu trennen, welcher sie kannte und, wie es schien, so aufgelegt war, von ihr zu sprechen. Die Art von Vorschlag oder Rat, nach Blanchemont zu gehen, welchen man ihm machte, hatte für dieses junge, sonst freiwillig stoische, jetzt aber durch die Leidenschaft in tiefster Tiefe aufgewühlte Gemüt etwas sehr Verlockendes. Von widerstreitenden Wünschen und Entschlüssen bewegt, ließ er auf seinem Gesichte alle die Gedanken lesen, welche er in seiner Seele verschlossen glaubte und betreffs welcher der scharfsichtige Müller sich nicht täuschte. Endlich sagte Lemor zögernd:

»Wenn ich glaubte, dass mündliche Auseinandersetzungen notwendig wären, aber ich glaube in Wahrheit nicht daran; diese Dame hat mir nichts dergleichen geschrieben.«

»Freilich«, entgegnete der Müller in spöttischem Tone, »diese Dame glaubt Sie in Paris und man lässt um ein paar Worte willen jemanden nicht so weit herkommen. Wenn sie Sie aber so nahe wüsste, hätte sie mir vielleicht befohlen, Sie mitzubringen.«

»Nein, Herr Müller, Sie irren sich«, behauptete Heinrich, erschreckt durch den Scharfblick des großen Louis; »die Fragen, mit denen man mich beehrte, sind nicht wichtig genug, um einen solchen Schritt zu verlangen. Gewiss, ich werde schriftlich antworten.«

Und bei diesem Entschluss beharrend, meinte Heinrich, das Herz müsse ihm brechen; denn trotz seiner Unterwürfigkeit gegenüber den Vorschriften Marcelles hatte der Gedanke, sie noch einmal zu sehen, bevor er sich für ein ganzes Jahr von ihr entferne, dennoch sein heißes Blut in Wallung gebracht. Aber dieser verdammte Müller mit seinen Bemerkungen konnte, geschähe es auch aus Bosheit oder aus Leichtsinn, seinen Besuch bei der jungen Witwe in ein falsches Licht setzen, und deshalb musste Lemor davon abstehen.

»Sie können tun, was Ihnen beliebt«, sagte der große Louis, etwas gereizt durch Heinrichs Zurückhaltung, »allein wenn nun sie mich über Sie ausfragen sollte, so werde ich mich genötigt sehen, ihr zu sagen, dass der Gedanke, sie zu besuchen, Ihnen eben kein angenehmer gewesen zu sein scheine.«

»Das wird ihr sicherlich großen Kummer machen!« entgegnete Heinrich, ein Gelächter aufschlagend, welches ein wenig erzwungen klang.

»Ja, ja, spielen Sie immerhin noch schlauer mit mir, Kamerad«, meinte der Müller; »Ihr Lachen kommt doch nicht von Herzen.«

»Herr Müller«, versetzte Lemor, die Geduld verlierend, »Ihre Zumutungen kommen mir, soweit ich dieselben verstehe, allmählich sehr ungehörig vor. Ich weiß nicht, ob sie der Person, welche in Frage steht, wirklich so ergeben sind, wie Sie behaupten, allein es scheint mir, dass Sie von derselben nicht so respektvoll sprächen, wie ich, der ich sie kaum kenne.«

»Sie erzürnen sich? Ach, gut, das ist viel besser und ärgert mich weniger, als Ihre Spöttereien. Jetzt weiß ich doch, woran ich mich betreffs Ihrer zu halten habe.«

»Das ist zu viel«, entgegnete Lemor gereizt, »es gleicht einer persönlichen Herausforderung. Ich weiß nicht, welche verrückten Gedanken Sie mir zuschreiben, aber ich erkläre Ihnen, dass mich dieses Spiel ermüdet und dass ich Ihre Unverschämtheiten nicht länger dulden werde.«

»Sie werden in Wahrheit böse?« versetzte der große Louis in ruhigem Tone. »Nun gut, ich will Ihnen die Wahrheit nicht schuldig bleiben. Ich bin viel stärker als Sie, allein Sie sind ohne Zweifel Geselle eines Devoir7 und kennen also die Regeln des Stockkampfes. Zudem sagt man, dass ihr Pariser samt und sonders teufelsmäßig mit dem Stock umzugehen wisst, während wir Provinzleute die Theorie nicht kennen, sondern uns mit der Praxis begnügen. Sie sind wahrscheinlich gewandter als ich, allein ich werde härter schlagen und dies gleicht die Partie aus. Wir wollen hinter die alte Mauer da gehen, wenn Sie wollen, oder lieber noch ins Café des Vaters Robichon. Es hat einen kleinen Hof, auf welchem man sich ohne Zeugen erklären kann, und wir dürfen nicht besorgen, dass er die Polizei herbeirufe; er besitzt viel zu viel Lebensart, um so etwas zu tun.«

›Wohlan‹, sagte Lemor zu sich, ›ich wollte ja Arbeiter werden und die Ehrengesetze des Stockes sind ebenso streng wie die des Degens. Ich kenne zwar die abscheuliche Kunst, meinen Nebenmenschen zu töten, weder bezugs dieser noch jener Waffe; allein wenn dieser gallische Herkules sich das Vergnügen machen will, mich totzuschlagen, so will ich nicht versuchen, ihn zur Vernunft zu bringen. Es ist dies auch die einzige Art und Weise, mich seiner Fragen zu entledigen, denn ich sehe nicht ein, warum ich geduldiger sein sollte, als ein Edelmann.‹

Der edelmütige und friedliebende Müller war keineswegs so begierig, Händel mit Heinrich zu suchen, wie dieser ihm unterstellte, denn er nahm ja herzlichen Anteil an Frau von Blanchemont und folglich auch an Lemor, aber das letztere Gefühl war mit einem Misstrauen vermischt, dessen sich der große Louis gar gerne durch eine offene Erklärung entlastet hätte. Als dieser Wunsch unerfüllt geblieben, hielt er sich seinerseits für herausgefordert, und so überredeten sich die beiden Gegner, indem sie nach dem Café Robichon gingen, gegenseitig, dass einer genötigt sei, der kriegerischen Laune des andern nachzugeben.

Es schlug sechs Uhr auf dem Turme einer benachbarten Kirche, als sie beim Café Robichon ankamen. Das Haus trug einen jener hochtrabenden Titel, wie sie jetzt in den entlegensten Provinzen die erbärmlichsten Kneipen tragen, und führte den Schild: ›Café de la Renaissance‹. Man trat durch eine Allee von jungen Akazien und prächtigen Dahlien ein. Der von Louis erwähnte Hof stieß an die Mauern einer gotischen Kirche, deren Seitenwände hier mit Efeu und Schlingrosen bekleidet waren. Lauben von Jelängerjelieber und Waldreben hielten den Blick der Nachbarn auf und erfüllten die Morgenluft mit Wohlgeruch. Dieser blütenreiche, einsame und reinlich mit Sand bestreute Ort schien eher zu einer Zusammenkunft von Liebespaaren, als zu tragischen Szenen bestimmt zu sein.

Als sie eingetreten waren, schloss der große Louis die Türe und sagte, an einem grünangestrichenen Tischchen Platz nehmend:

»Nun, sind wir hiehergekommen, um uns Hiebe beizubringen, oder um mitsammen den Kaffee zu trinken?«

»Wie es Ihnen gefällt«, versetzte Lemor; »ich schlage mich mit Ihnen, wenn Sie wollen, allein ich trinke keinen Kaffee.«

»Sie sind wohl zu stolz dazu, das ist ganz einfach«, meinte der große Louis achselzuckend; »freilich wenn man von einer Baronin Briefe empfängt…«

»Fangen Sie schon wieder an? Lassen Sie mich in Ruhe oder schlagen wir uns auf der Stelle!«

»Ich kann mich nicht mit Ihnen schlagen«, versetzte der Müller. »Sie brauchen mich nur anzusehen, glaub’ ich, um zu wissen, dass ich ein nicht zu verachtender Gegner bin, aber ich weise dennoch Ihren Antrag zurück. Frau von Blanchemont würde es mir nie verzeihen und das würde mir einen Strich durch die Rechnung machen.«

»Das tut nichts. Wenn Sie denken, Frau von Blanchemont werde Sie einen Händelsucher schelten, so brauchen Sie ihr ja nicht zu sagen, dass Sie Händel mit mir gesucht.«

»Ei, habe ich denn Händel gesucht? Wer hat denn zuerst vom Zweikampf gesprochen?«

»Es scheint mir, Sie hätten zuerst davon gesprochen. Aber einerlei! Ich nehme Ihren Vorschlag an.«

»Aber wer von uns hat den andern insultiert? Ich habe Sie in allen Ehren gefragt, Sie aber haben mich dafür unverschämt behandelt.«

»Ihre Art, meine Worte und Gedanken auszulegen, ist unmanierlich. Ich habe Sie bedeutet, mich in Ruhe zu lassen.«

»Ja, so ist’s. Sie haben mir befohlen, das Maul zu halten. Wenn ich nun aber das nicht will, ich? Lasst sehen! —«

»So werde ich Ihnen den Rücken kehren und im Falle Sie das übel nehmen, werden wir uns schlagen.«

»Der Bursche hat den Teufel im Leibe!« schrie der große Louis, mit seiner gewaltigen Faust auf das Tischblatt schlagend, dass es mitten entzwei sprang. »Warten Sie, Herr Pariser! Sie sehen doch, dass ich eine schwere Hand habe, und Ihr Stolz könnte mich begierig machen zu erfahren, ob Ihr Kopf ebenso hart sei, wie diese Eichenbohle, denn es gibt nichts Gröberes auf der Welt, als einem zu sagen: Ich will Sie nicht hören! Und dennoch darf und kann ich kein Härchen dieses Eisenkopfs verletzen. Aber wir wollen ein Ende machen. Ich will Ihnen wohl, ich will noch mehr einer Person wohl, für welche ich mir Arme und Beine brechen ließe und welche, ich bin dessen gewiss, die Laune hat, sich für Sie zu interessieren. Ich muss mich erklären. Ich werde keine Fragen mehr an Sie richten, weil dies vergebliche Mühe wäre, allein ich werde Ihnen alles sagen, was ich für und wider Sie auf dem Herzen habe. Bin ich zu Ende und es gefällt Ihnen nicht, so werden wir uns schlagen, und wenn das, dessen ich Sie beargwöhne, wahr sein sollte, so werde ich Ihnen die Kinnbacken ohne alles Bedauern zerschlagen. Man muss sich verständigen, bevor man sich schlägt, und wissen, warum man dies tut, nicht? Wir wollen also erst Kaffee trinken, denn ich bin seit gestern nüchtern und mein Magen knurrt jämmerlich, und wenn Sie ein zu vornehmer Herr sind, um mich die Zeche bezahlen zu lassen, so wollen wir ausmachen, dass sie der am wenigsten Gestriegelte nach Beendigung des Kampfes berichtige.«

»Es sei!« versetzte Heinrich, der, sich dem Müller gegenüber als in feindlicher Stellung betrachtend, nicht mehr fürchtete, sich zu vergessen. Vater Robichon trug in eigener Person den Kaffee auf und erwies dem großen Louis alle mögliche Freundschaft.

7.Devoirs heißen die Verbindungen der französischen Handwerksburschen, und wir verweisen die Leser auf den trefflichen Roman von George Sand ›le compagnon du tour de France‹, worin die Verfasserin eine Schilderung dieser Verbindungen gegeben. Anm. d. Übers.