Buch lesen: «Zwischen Bett und Labor», Seite 3

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Konrad Keller schien jeden Tag beweisen zu wollen, dass er ohne seinen Sohn zurecht kam. Fred Keller ließ jeden Tag spüren, dass ihn nicht einmal das interessierte. Er bahnte sich also an, der kurze und schmerzlose Abschied. Ganze drei Koffer mit Kleidung und einen Sack voller Erinnerungen stopfte er in den Kofferraum. Immerhin fuhr ihn sein Vater zum Bahnhof. Der alte RO 80 war das einzige, worauf Konrad Keller stolz war. Allerdings hätte Fred wegen dieses Stolzes fast den Zug verpasst. Der verdammte Kofferraumdeckel klemmte mal wieder. Es war eine Flucht mit Hindernissen. Der Beginn einer Reise, einer Suche, die Fred nach der Bundeswehrzeit zur Kochlehre in ein elsässisches Lokal trieb, bis er nach mehreren Stationen in Bacharach endlich ein eigenes Restaurant übernahm, um es exakt seinen Vorstellungen anzupassen.

Fred arbeitete viel und „zielführend“, wie er gerne sagte. Nie bestand die Gefahr, zuviel Gefühl könnte seine Entscheidungen beeinflussen. Die traf er rational und stets auf seinen Vorteil bedacht. Im geschäftlichen Leben sorgte diese Haltung für stabile Verhältnisse, sein Lokal blieb ihm treu. Im privaten Leben gab es aus genau den gleichen Gründen kein stabiles Verhältnis, er war den Frauen nicht treu. Oder sie wollten zuviel Gefühl.

Und hier, zurückgekehrt an den Platz seiner Jugend, dachte er immer noch so. Dabei war er beileibe nicht gefühllos, gerade hier dominierten ihn verbitterte Erinnerungen und zynische Attacken. Die Zimmer, die Möbel hatten keine Chance, ihn zu besänftigen. Er war stur. Und das von seinem Vater geerbt zu haben, hätte er sicher abgestritten.

Es erwartete ihn, dem Alleinerben, einiges. Das große Haus, das er seit Tagen mühsam vom größten Dreck in den Ecken, von den klebrigsten Bier- und Weinresten auf Tischen und Bänken befreit hatte. Er arbeitete sich unfreiwillig durch die Zeitschichten eines Hauses, von dem er nicht einmal ahnen konnte, wie es mit seinem Vater umgegangen war und umgekehrt. Denn das Haus lebte. Das wiederum spürte er deutlich. Es gab Momente, da fühlte er Ecken auf sich zudrängen, glaubte hinter seinem Rücken stechende Blicke, als ob ihn die Wände beobachten würden. Erstaunlicherweise verhielt sich das riesige Seegrundstück scheinbar neutral. So neutral, es verbarg aufgrund des verwilderten Zustandes sogar den Wert, den es nach der gewinnverheißenden Stimme Falkensteins offensichtlich hatte. Ein Bootshaus, eine große Wiese, ein Stück See.

Nun erst recht. Er würde mit hartem Besen den alten, verlotterten Familiengeist wegfegen.

Fred hatte es geschafft, sich aufzusetzen, schaute aber noch sehr langsam vor sich hin.

Ein Kater fühlt sich anders an... aber irgendwas war mit Schnaps...

Wie spät war es, warum lag er die Nacht auf der Bank? Warum erinnerte er sich an vieles, an anderes aber nicht?

Er befahl seinen Beinen, Bodenkontakt aufzunehmen. Machte kleine Schritte, streckte seine müden Knochen dem Raum entgegen.

Die Fenster müssten geputzt werden. Wäre wichtiger gewesen als die alten Tische.

Schmierige, rauchverklebte Scheiben verwehrten jedem einzelnen Sonnenstrahl den Eintritt, ebenso konnte kein noch so angestrengter Blick nach draußen dringen. Nur langsam kehrte der gestrige Nachmittag, Falkensteins Worte in sein Bewusstsein zurück:

„Als Kronjuwel für dieses außergewöhnliche, anmutige Königreich erlauben Sie mir, Ihnen die abschließende Offenbarung unterbreiten zu dürfen.“

Fred erlaubte es dem Notar, konnte sich aber nicht vorstellen, was sein Vater dem geflohenen Sohn plötzlich hinterherwerfen wollte.

„Ihre tragisch früh verstorbene Mutter hinterließ eine Lebensversicherung, die Ihr unglücklicher Herr Vater Zeit seines arbeitsamen Lebens niemals anrührte, obwohl meiner geringen Kenntnis nach in einigen prekären Situationen der Bedarf bestand, flüssige Finanzmittel, wie man in der Immobilienbranche so gern sagt, zur Verfügung zu haben.“

Fred wagte nicht, jetzt in diesen hoffentlich letzten Minuten den Notar pietätlos zur Eile anzutreiben. Er bot seinem Gegenüber einen ebenso mitfühlenden wie wissenden Gesichtsausdruck.

„Aufaddiert ergibt sich aus der Bilanzierung der Konten folgendes Bild: Die Umrechnung der Summe aufgrund der Währungsumstellung zum 1. Januar 2002 auf vier Stellen hinter dem Komma genau, die kluge und von erstaunlichem Weitblick zeugende Anlage der Gelder ergibt mit Zins und Zinseszins nach siebenundzwanzig Jahren und fünf Monaten bis zum Ultimo diesen Monats einen Gesamterlös von 257 Tausend 468 Euro und 13 Eurocent. Es ist mir mehr als ein Bedürfnis lieber Herr Keller, Ihnen persönlich in dieser schweren Stunde eine doch so angenehme Mitteilung unterbreiten zu dürfen.“

Falkensteins Kamm schwoll zur Brunftreife, seine schmalen Finger zitterten aufgeregt, die Röte des Raumes war mit einem Mal bedeutungsschwanger. Fred war nicht mehr da. Kurz vorher war er geistig ausgestiegen, unfähig, diesen Ausführungen weiterhin folgen zu wollen. Kein klarer Blick war Doktor Falkenstein vergönnt, kein gewinnorientiertes Lächeln, kein entspanntes Zurücklehnen in den schützenden Sessel.

Falkenstein gehörte zu der Sorte Mensch, die gerne eine Laudatio über sich hören. Die ehrenden Worte, die er - in aller Bescheidenheit natürlich - geduldig, aber sehr aufmerksam in sich aufsaugen würde, hätten darüber zu berichten, wie absolut er sich in die Dienste seiner Klienten begäbe, wie nahezu selbstlos er als Honorarkonsul die Interessen der capverdischen Inseln repräsentiere, wie sensibel er seit Jahrzehnten die Bedürfnisse der umliegenden Gemeindeverwaltungen und ebenso jedes einzelnen Bürgers vertrete. Ein wahrer Kümmerer, natürlich. All das, obwohl – und das sähe man dem ehrenwerten Doktor Gunnar von Falkenstein nun wirklich nicht an – sein Alter längst jenseits der offiziellen Rentengrenze liege, wenn es erlaubt sei, dies so salopp anzumerken.

Ja, Falkenstein tat wirklich alles. Vor allem für sich. Seine welligen, zurückgekämmten Haare waren schwarz. Ob dies je die Originalfarbe war, wusste wahrscheinlich nur er selbst. Vielleicht noch seine Sekretärin Fräulein Serlbacher, die gute Seele der Kanzlei. Zu jeder Zeit zur Stelle, wann immer es dem Notar danach verlangte. Wann immer und womit immer. Ein feiner Herr, würde man sagen. Sein akkurat schmal gehaltener Schnauzer war ebenso schwarz und drohte stets, von der Oberlippe zu rollen, so filigran schmiegte er sich darüber.

In seiner Eigenschaft als Notar trug er stets dunkle Anzüge, die auch einfarbig rötlich oder violett sein durften, aber dunkel. Krawatte war selbstverständlich. Sein Benehmen wurde nur von seiner Ausdrucksweise übertroffen, „gewählt“ wäre ein fader Begriff. Falkensteins lebendige blaue Augen halfen ihm, jünger zu wirken, als er war. Sie halfen ihm auch, ergänzt von seiner unglaublichen Menschenkenntnis und seinem ausgeprägten Geschäftssinn, Situationen schnell einzuschätzen - was ihm stets einen Handlungsvorsprung verschaffte.

Erstaunlich spät bemerkte Falkenstein, dass Fred nicht mehr folgen konnte.

„Herr Keller, ich bitte Sie, Herr Keller. Ist Ihnen nicht wohl?“ Schnell griff Falkenstein nach seiner Glocke, nach zwei Klöppelschlägen beugte sich Fräulein Serlbacher in die so schnell wie leise geöffnete Tür. „Einen Cognac! Den Besten!“ Geräuschlos im Auftritt, schattenlos im Abgang: Fräulein Serlbacher, die gute Seele des Notariats.

Der protzig bauchige Schwenker war gebührend seriös gefüllt. Fred kehrte langsam zum Notar zurück. Es tat ihm gut, die hinunter gleitende Wärme zu spüren. Und auch wieder seinen Verstand. Schon öfters hatte er den Eindruck, Alkohol könne ab einer bestimmten Qualität und bis zu einer gewissen Quantität sein Gehirn zu Höchstleistungen anregen.

Habe ich meinen Vater einfach nur verkannt? Habe ich ihn überhaupt gekannt?

Eine unpassende Situation, in der sich Fred diese Fragen in den Weg stellten. Beantworten würde er sie nicht. Nicht hier jedenfalls.

Vater soll sich bloß nicht einbilden, im Nachhinein höhere Trümpfe als ich aus dem Ärmel ziehen zu können. Die Karten waren von jeher klar verteilt, es gibt kein neues Spiel, nicht mit mir, nicht in dieser Ecke des Landes.

Zornig schlurfte er zu einem Fenster, starrte auf das Glas, als versuchte er, mit seiner Wut den klebrigen Belag aus Rauch und Geschichten wegzuätzen.

Wo ist der Sinn? Verdammt noch mal, was soll dieser Zirkus? Ich bin nicht 36 Jahre alt geworden, um mir von einem Toten Vorschriften machen zu lassen. Ich werde dem Spuk ein Ende bereiten und so schnell es geht alles verkaufen.

Es war leider doch ein verkaterter Morgen.

In dieser verdammten Kneipe kann ich nicht mal klar sehen, geschweige denn, klar denken.

Am großen Spülbecken wollte Fred die Reste der vergangenen Nacht endlich aus dem Gesicht waschen. Ein Schwall Wasser schoss aus dem Bügelhahn, ohne zu zögern hielt er seinen Kopf darunter. Es war ihm ein Rätsel, wie und warum er sich letzte Nacht auf diese ungemütliche Bank legen musste, geschweige denn, wie er überhaupt mit dem Boot ans Ufer zurück fand. Blackout! Wo war die Zeit? War er dermaßen betrunken gewesen?

Mit seinen Händen fing er das Wasser, um sich den letzten Schlaf aus den Augen zu reiben. Hellrot verfärbte sich das Wasser, rann zügig in den Abguss.

Unbeteiligt, quasi von außen, schaute Fred einen Moment zu. Erschrak dann doch, fasste sich an den Kopf. War er verletzt? Spürte er wegen des Restalkohols keinen Schmerz? Ein dünner Rinnsal schlängelte sich am Handgelenk entlang, suchte seinen Weg zum Unterarm, Fred zuckte zusammen. Den Kopf hatte er untersucht, verletzt war aber die rechte Hand. Befreiend, endlich den stechenden Schmerz zu spüren. Eine tiefe Fleischwunde zeichnete in den Mittelfinger ein scheinbar viertes Gelenk. Das vordere Glied des Fingers war nahezu halbiert, am benachbarten Zeige- und Ringfinger waren nur kleinere Hautrisse.

Reflexartig schoss die Hand unter den Wasserstrahl. Das Edelstahlbecken überzog sich mit einem hässlichen Schleier. Chrom und Blut, das passte nun überhaupt nicht zusammen. Bräunlich schlierte die Flüssigkeit in den Abfluss, fast so, als berührte sie nicht einmal die polierte Oberfläche.

Fred bewegte äußerst vorsichtig das Stück Fleisch, Schmerzen zuckten durch die Hand, er sog spitz die Luft zwischen seinen Zähnen ein. Die Kuppe war noch dran.

Tut es so weh, weil ich es jetzt sehe?

Es tat höllisch weh. Er fragte sich nicht einmal, bei welcher Gelegenheit sich die Fingerspitze von ihm trennen wollte. Schnell wickelte er ein frisches Geschirrtuch um die Wunde und suchte ein Pflaster. Im Bad war nichts zu finden. Bevor er weitersuchte, wickelte er sein getränktes Tuch auf und ließ aus Brusthöhe Blutstropfen für Blutstropfen vom Waschbecken auffangen. Fächer, rote Pusteblumen gestalteten die weiße Oberfläche.

Na also, sieht doch gleich viel besser aus.

Erst in der unbenutzten Erste-Hilfe-Box seines Saabs wurde er fündig. Fred war Linkshänder, es war also nicht allzu schwierig, aus den plastikverschweißten Paketen ein langes Stück Mullbinde herauszuschneiden. Zusätzlich rollte er noch zwei Lagen Leukoplast um die verbundene Wunde.

Sicher ist sicher.

Er wollte den Brief noch einmal lesen, nein, er sollte lieber entspannen und nachdenken, wann und wo er sich in den Finger geschnitten hatte. Oder doch lesen? Auf dem Dielenboden der Stube lagen die Seiten, die der Notar Fred ausgehändigt hatte. Er schüttelte sie, als wollte er die Buchstaben in einen ihn verständlicheren Zusammenhang bringen. Wollige Staubflusen lösten sich vom Papier, das Konrad Keller am 21. Januar 2011 - lange vor seinem Tod - beschrieben hatte. Die Luftwirbel scheuchten winzige Staubpartikel auf, die im fahlen Tageslicht chaotisch tänzelten. Durcheinander fühlte sich auch Fred und beobachtete die Flusen. Den Boden schrubben, dazu konnte er sich nun wirklich nicht durchringen. Er würde sich doch nach einer tüchtigen Putzfrau umschauen. Raus hier!

Der Frühlingstag erschien umso freundlicher, je mehr das Erdgeschoß nervte. Er war matt und leer, und obwohl er ein rationaler Mensch war, blockierte tief drinnen irgendetwas jeden vernünftigen Gedanken. Wie umschmeichelte ihn dagegen das fast kniehohe Gras, das erklärte, wie jeder Schritt ein kleiner Fortschritt, eine Erkundung fremden Terrains sei. Das Schilf rechts vom morschen Steg wog sich mal nach links, mal nach rechts, als wäre es nicht sicher, ob es Fred die eine oder die andere Richtung einschlagen lassen sollte.

Unter dem Vordach des Schuppens lehnten drei rostige Klappstühle. Fred ertappte sich dabei, etwas zu lange im Schuppen nach der Zündapp geschaut zu haben. Natürlich war sie nicht mehr da. Er ärgerte sich maßlos. Nicht über die Zündapp, über sich. Wie konnte er nur so einfältig sein? Was glaubte, hoffte er zu finden? Achtzehn Jahre zu spät.

Er schnappte sich einen Klappstuhl, dessen ehemals farbenfrohe Stoffbespannung so gar nicht zu seinem Vater passen wollte und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

So morsch ist der Steg gar nicht, wie er aussieht. Ein paar Bretter austauschen, eine Handvoll Pfennigsnägel, ein Wetterschutzanstrich. Müsste reichen.

An der Spitze des Stegs klappte der Stuhl mit einem quietschenden Schwung auf, Fred ließ sich vorsichtig, sehr vorsichtig nieder, auch hier vertraute er den Hinterlassenschaften seines Vaters nicht. Und das Schilf bemühte sich weiter, keine eindeutige Richtung anzugeben.

Der Brief? Steckte zusammengefaltet in seiner Hemdtasche.

Da sollte er erst mal bleiben. Fred wollte sich wenigstens gelegentlich darüber informieren, was die eingesessenen Bürger am Untersee umtrieb, was sonst in der Gegend los war.

Wie er so auf dem Stuhl saß, den „Konstanzer Boten“ durchblätterte, machte er auf den See, die Möwen, die Schwäne einen völlig entspannten Eindruck. Urlaubsstimmung in Fred? Weit gefehlt. Flüchtig überflog er die Regionalpolitik, ignorierte verächtlich goldene Jubiläen und Ehrenmitgliedschaften in diversen Vereinsmitteilungen.

„Anmerkungen zum Konzilsjubiläum 2014“, las er laut dem See entgegen. Meine Güte, das ist doch noch eine ganze Weile hin, dachte er verwundert und begann zu lesen.

„Das Münster barst vor Menschen. Das war nicht immer so um 1414, aber für die nächste Zukunft würde das Interesse der Bürger wie der Adligen sicher ungebrochen bleiben. Der nächste Sonntag könnte völlig anders aussehen wie dieser Sonntag, die nächste Messe könnte ein anderer Papst wie dieser halten.

Die Messe hielt Papst Johannes XXIII. Demnächst würde er seinen Rücktritt anbieten, dann doch aus Konstanz fliehen, wenig später von König Sigismund festgesetzt. Aber alles zu seiner Zeit.

Kein einziger Mensch feindete die feierliche Handlung an oder störte sich daran, welcher der drei Päpste an diesem Tag der Glaubensgemeinschaft vorstand. Papst Johannes war sowieso der einzige in Konstanz anwesende Papst.

Im Augenblick weihte er die Kerzen mit Weihwasser. Der Papst beendete seine Zeremonie und reichte dem Erzbischof von Dänemark das Weihwasser. Am Altar des Leutpriesters stand ein Thron, ähnlich dem Thron am extra erbauten Altar neben dem Sakramentshäuschen. Der Papst saß also auf dem hohen Leutpriesterthron und jeder im Münster konnte ihn sehen. Vor dem Sankt Georgsaltar erhob sich eine Podest mit vier Sitzen für die Patriarchen und den Hochmeister von Rhodus.

Das Kirchenschiff quoll über vor Farben. Kardinäle, die in der Kirche ohne ihre breiten roten Hüte anzutreffen waren, Erzbischöfe und Bischöfe in violetten Talaren, Gelehrte in blauen und ockerfarbenen Gewändern drängten sich neben den Hausherrn, den gelähmten Dekan Albrecht von Büttelsbach. Von goldenen Streifen durchbrochene Blautöne, grüner Samt, weiße leuchtende Tücher, roter Wams und schwarze Kleider, goldene Leuchter und silberner Stahl, jede Farbe war würdig genug, um in der Kirche vertreten zu sein.

Auf der weltlichen Seite verfolgten Graf Rudolf von Montfort, Graf Berthold von Orsini, Markgrafen aus Deutschland, Herzöge aus Frankreich, der Bürgermeister Heinrich Ehinger und viele Magister, wie der Papst es sich nicht nehmen ließ, den Kardinälen zur Hand zu gehen. Demütig verteilten sie1500 unterarmlange Kerzen an die Gläubigen und sammelten sich zur Prozession.

Mit imponierendem Getöse verbreitete sich der Klang der Glocken weit über den Münsterplatz hinaus. Jede einzelne Glocke zeugte davon, wie wichtig die Zeremonie und wie einzigartig und tatsächlich in dieser Konstellation unwiederholbar war, von der sich Papst Johann eine positive Signalwirkung erhofft hatte.

Die drängenden Menschen draußen würden also bald den Papst und die hohen Würdenträger zu Gesicht bekommen. Das Geläut verstärkte aber nur die Unruhe, jeder wollte nahe am abgesperrten Weg stehen, einen Hauch vom Weihrauch spüren, den Blick eines Fürsten erhaschen. Kein Bürger dachte daran, wie sehr Konstanz in diesen Tagen im Blickpunkt der christlichen Welt stand. Wichtig war der Blick eines jeden Einzelnen.

Der Streit dreier Päpste um die Vormachtstellung mit allen dazu gehörigen Versammlungen und Diskussionen um die gerechte, weil christliche Sache schwemmte viele Wichtige und noch mehr Neugierige in die Stadt. Zeitweise schwoll sie zu einer Größe von vielleicht 70.000 Menschen an. Weit über die Stadtmauern hinaus, in den umliegenden Stadtteilen vom Paradies im Nordosten bis weit westlich vom Emmishofer Tor campierten die Reisenden sehr armselig unter Planen oder fürstlich in eigens mitgeführten pompös ausgestatteten Zelten.

Vor dem Münster wurde das Gedränge gefährlicher, die Bürger drängten aneinander und verklebten zu einem taumelnden Mob. Im Kirchenschiff dagegen fügte sich der prächtige Kirchenstaat unter Verbreitung einer gehörigen Menge Weihrauch zu einer geordneten Prozession. Die Obertöne des Geläuts schoben die Geistlichkeit in geordnete Bahnen, zumindest nach außen wollten die nach wie vor uneinigen weltlichen und kirchlichen Fürsten ihr Gesicht und vor allem ihre eigene Würde wahren.

Wie es sich für einen Kirchenumzug gehörte, ging der Machthaber hinter den zwei Patriarchen, die mit dem Monstranzenträger unter einem goldenen Baldachin schritten und das Volk segneten. Den König, der unter seiner goldenen Krone eine schlichte Chorkappe trug, geleiteten zwei Kardinäle.

„Wer ist der mit dem Schwert?“, fragte ein zugereister Handwerker eine neben ihn gedrängte Frau, deren braunes, unter der Brust mit einer langen hellen Schürze gebundenes Kleid noch eine Spur schlichter war, als all das stumpfe Braun und fade Grün um sie herum. „Herzog Ludwig von Brieg. Und der mit dem Zepter ist der Bayernherzog Heinrich. Und die Lilie trägt der Kürfürst von Brandenburg.“ Während die Frau erklärte, winkte sie ihnen weiter zu, den in farbenprächtige Gewänder gekleideten Kardinälen, Erzbischöfen, Bischöfen und Äbten.“

Fred schmunzelte.

Ganz schön clever, dieser Beißwanger. Füttert seinen Artikel mit direkten Reden, damit sich der Leser mittendrin fühlt.

Wie zum Beweis las er weiter:

„Ehrwürdig schritten sie am Volk vorbei, Herzöge, Grafen, Herren, Ritter, Gelehrte. Der Strom aus prächtigen Kleidern wollte nicht enden und demonstrierte eine Farbenpracht, die das schillernde Leben des flanierenden Zuges von dem der Winkenden unmissverständlich trennte.

Viele der Herrschaften hatten ihre Kerzen den neben oder hinter ihnen gehenden Dienern übergeben. Es war nötig, sich dem Volk zu zeigen, im besten Staat dem König, den Kardinälen in der Fronleichnamsprozession zu folgen. Die schwere Kerze deswegen ständig selbst zu tragen, war nicht angemessen.

Am Unteren Münsterhof ging der Zug vorbei mit Blick zu Sankt Johann. Es waren sicher mehrere Hundert Edle vorbeigezogen, als eine große Gruppe der Bettelorden folgte, denen wiederum unzählige Bürger anhingen.

Die Gassen wurden enger, der Zug kam zum Stillstand. Der König, die Regenten und Kardinäle wandelten nah wie selten mitten durch ihr Volk. Und das Volk tat wie von ihm erwartet: es jubelte den Würdenträgern zu und hoffte ungeduldig auf die Entscheidung, welchem einzigen Papst in absehbarer Zeit gehuldigt werden sollte. Doch das Volk sollte noch lange warten.

Auch der Stephansplatz war ein weiter Kirchhof. Mit der großzügigen Umbauung des Platzes durch die Franziskaner, die ihre Unterkünfte wie ein schützendes ‚U’ um Sankt Stephan bauten und links zur Brudergasse ihre Kirche platzierten. Die schönen Fassaden der Patrizierhäuser, oft drei bis vier Stockwerke hoch, bildeten einen ansprechenden Rahmen für das großartige Schauspiel. Auf stabilem Steinfundament gebaut fanden sich unten Werkstätten oder Geschäfte, während in den oberen Etagen, als Fachwerke ausgebaut, die Kammern der Wohnungen mit einer beheizbaren Stube lagen.

An diesem großzügigen Ort hatten sich Krämer, Kleinwarenhändler und Schreiber dem Schutz der Kirchen anempfohlen. Aber hier wurde auch gebacken. Die Franziskaner besaßen zwei große Backhäuser, die sie den zugereisten Bäckern zur Verfügung stellten. Außerdem wuchs Monat für Monat an der Begrenzung zum Bündrichhof, rechts vom Kirchplatz, Backhaus um Backhaus. Tagelöhner von weit her mauerten bauchige Höhlen, damit die täglich wachsende Einwohnerzahl mit frischem Brot versorgt werden konnte.

Trotzdem war es nötig, mit Karren, Wagen, sogar mit Schiffen Brot herbeizubringen, damit es den Bürgern nicht mangelte und die Preise nicht zu sehr stiegen. Die Bäcker vom Oberen Markt unterhielten hier im Schutz der Mönche ihre Backhäuser...“

Die Zeitung sank auf den Steg. Fred fühlte sich mitgenommen.

„Gut gemacht, Herr Historiker“, sagte er vor sich hin, „aber trotzdem, ein grässliches Leben dieses Mittelalter. Nix für mich.“

Für Fred war das alles zu eingeengt, zu ärmlich, zu sehr von Kirche und Fürsten dominiert. Er war gerne sein eigener Fürst – und dominierte gerne andere Menschen. Mit einem letzten, die damaligen Bürger bemitleidenden Lächeln schloss er das Kapitel Konstanzer Konzil für sich ab.

Dass Fred hier irrte, konnte er nicht ahnen. Dass es mit dem Mittelalter zu tun hatte, lag tatsächlich nicht auf der Hand. Dass im Haus etwas nicht mit rechten Dingen zuging, hätte er allerdings merken können.

Der Puls pochte im Finger. Fred schreckte auf. Hatte er geschlafen? Wie lange? Am Stuhlbein flatterte die Zeitung. Alles noch so wie vorher. Die Wunde tat verdammt weh. Bewegungslos saß Fred, einem Sommerfrischler gleich, auf seinem schäbigen Stuhl und lauschte diesem Gefühl.

Um so angenehmer empfand Fred nun die kühlende Brise vom See. Die Zeitung raschelte immer noch. Entspannt lehnte er sich im Stuhl zurück, schaute dem Wind entgegen und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Obwohl es nichts zu korrigieren gab. Die Locken saßen. Ein Vorteil der Kürze. Er betrachtete seine Hände. Gut, die könnten kleiner sein. Seit er 13 war trainierte er mit Expandern und einem Trainingsgerät der NASA, das angeblich auch in der Schwerelosigkeit funktionierte. Hier auf der Erde hielt es seinen Körper in Schuss.

Der See war gut für Fred. Wellen, nur Wellen, Wasser, wohin er schaute. Er schaute aber nirgendwo hin. Trügerisch. Keinen Augenblick blieb eine Welle gleich, jeder Tropfen, der sich einmischte, veränderte alles.

Licht, mit etwas Glück die Sonne, verwandelte sich in Reflexe, die von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften. All dies und noch mehr sorgte dafür: es gab keine Wiederholung.

Auch die Erinnerungen an seine Jugend waren keine Wiederholung, es waren einfach nur Erinnerungen – auch wenn sie ungefragt auftauchten. Wie die Ereignisse der letzten Tage. Sie mit dem Blick zum See noch einmal gezielt abzufragen, hatte nicht einmal den Schmerz in seinem Finger gelindert. Er war keinen Schritt, keinen Gedanken weiter gekommen.

Der Horizont interessierte ihn immer noch nicht, seine Augen fixierten stur weiterhin einen Platz weit im See und entwarfen auf der Netzhaut das schlichte Bild einer Welle. Einer Welle. Einer Welle.

Sein Reiz für die Wiederkehr des immer Gleichen wiederholte sich sogar im Brief des Vaters.

Mein lieber Alfred,

Ich könnt das Kotzen kriegen, ignorierst einfach meinen Wunsch, Fred genannt zu werden.

Es tut mir aufrichtig leid, nicht zu früheren Zeiten den Weg zu Dir gefunden zu haben. Sicher denkst Du von mir, dass ich ein alter, sturer Bock bin. Sonst hätte ich mich ja bei dir gemeldet.

Da hast du allerdings Recht.

Das Ärgerliche war, Fred konnte genauso stur sein. Mindestens.

Du bist jetzt allein und doch hoffentlich nicht. Was weiß ich schon von Deinem Leben, Deinen Gefühlen? Bist Du verheiratet, hast Du eine Freundin, oder hält es mit Dir Keine aus?

Zornig las er weiter, ein gelegentlicher Blick aufs Wasser verbesserte seine Stimmung auch nicht. Der handgeschriebene Text schabte mit jeder Zeile mehr an seinem Befinden. Nach einigen Sätzen spürte Fred, wie seine Gefühlslage völlig entglitt, unfähig, sich dem Sog des Briefes zu entziehen. Seine Magengrube zog sich zusammen, obwohl er kein Bauchmensch war, sein Wille blieb auf der Strecke, er konnte sich wehren, soviel er wollte. Diesmal also nicht. Diesmal bestimmte nicht er die Regeln dieses Spiels. Er konnte nur hoffen, nicht als Bauernopfer vorgesehen zu sein.

Ach Mensch, nicht schon wieder!

Laß Dich nieder. Freunde Dich mit Deiner Muttererde an. Vielleicht kriegst Du ein Gefühl dafür, was Deine liebe Mutter, meine über alles geliebte Vrenie an diesem Fleckchen Erde hinterlassen hat. Für mich blieben nur Trauer und endlose Vorwürfe, für Dich hoffentlich eine glücklichere Zukunft als es meine Vergangenheit sein durfte.

Kein Mensch auf dieser gottverdammten Welt benutzt dieses Wort Muttererde, ausgerechnet mein Vater kommt bei jeder passenden und nun unpassenden Gelegenheit damit an. Hat echt Talent, meine eh nicht beste Stimmung gründlich zu versauen.

Im Brief ein Absatz.

Er ließ Fred einen Augenblick Zeit, genügend Zeit, um eine weitere Welle zu betrachten, Zeit, an seine Mutter zu denken.

„Meine Vrenie“, so hatte Konrad Keller sie immer genannt, liebevoll ihren Namen beseelt, nicht nur um sich von den spröden Schwiegereltern zu unterscheiden, die ihre Tochter Zeit ihres kurzen Lebens Veronika nannten.

„Die Vrenie“, so hieß sie auch im Dorf. Sie war derart beliebt, da hätte man gern geglaubt, sie sammelte alle Sympathien in der Nachbarschaft ein, um sie für ihre Familie zu horten.

Konrad Keller war von einer Art... ja, er konnte es einem richtig schwer machen. Vielen im Dorf. Hier geboren und trotzdem zurückhaltend, wenn es um die Geschicke des Ortes ging. Eingebunden im Fischereiverein aber zugleich wortkarger Eigenbrödler. Ein begnadeter Fischer und ein Schnapsbrenner mit dem richtigen Riecher. Das reichte, um die Stubenwirtschaft lebendig zu halten.

Eines Morgens fiel Vrenie aus dem Boot und ertrank.

Die polizeilichen Untersuchungen brachten keine Zweifel. Ein Unglück, tragisch zwar, vor allem unter erfahrenen Fischern, aber leider kein Einzelfall. Das Resümee war zynisch: Fischer müssen mit der Tatsache leben, je länger sie auf den See hinausfahren, umso größer wird das Risiko, über Bord zu gehen und zu ertrinken.

Mit seinen neun Jahren bot Fred einen Anblick sprachloser Traurigkeit. Er brauchte lange, bis er verstand, dass seine Mutter nicht mehr auftauchen würde. Nicht mehr in seinem Leben, nicht mehr aus dem See.

Als Fred älter wurde, hielt er es der Einfachheit halber wie ein Großteil der Hörianer – er gab seinem Vater die Schuld. Daran, dass seine Mutter nur kurze Zeit in dieser Welt glücklich sein durfte.

Konrad musste schuldig gesprochen werden. Er hatte dem Kind die Mutter geraubt. Dieses Stigma ertrug Konrad, jeder Blick auf der Straße, in der Wirtschaft, markierte ihn, schwächte sein angebrochenes Herz.

Fortan fuhr der alte Keller nur noch selten raus, zog aus dem See, was der an Fischen hergab und hielt sich mit seiner Schnapsbrennerei und der Wirtschaft über Wasser. Verließ selten das Grundstück und behielt seinen heranwachsenden Sohn im Auge. Konrad Keller wollte ein besserer Vater werden, wenn er dem Jungen schon nicht die Mutter ersetzen konnte. Doch der Männerhaushalt stand unter keinem guten Stern, Alfred war von dem, was sein Vater Erziehen nannte, nicht begeistert. Anfangs stritten sie wenigstens noch, nach ein, zwei Jahren schwiegen sie sich nur noch an, sogar auf dem See. Am Ende gingen sie sich aus dem Weg.

Der alte Keller war nicht mehr in der Lage, die Hände, die sich ihm entgegen streckten, zu erkennen. Er suchte keine Hilfe für seinen streunenden Sohn, der um die Dörfer zog wie ein räudiger Hund. Es kam nicht einmal zu einem nachbarschaftlichen Streit, weil sie sich aus dem Weg gingen. Er verkroch sich in sein Haus. Hin und wieder kam ein größeres Paket. Den einen oder andern hätte es schon interessiert, was der Konrad ständig bestellte. Die Wirtschaft blieb schon lange leer. Kein Fischer, kein Spaziergänger, der beim Keller saß, um sich alte Geschichten anzuhören. Und neue gab es nicht.

Bis er an Herzversagen starb.

So stand es im Befund des Arztes.

Der See half Fred mit unaufgeregten Wellen. Er entspannte sich, seine Gedanken machten sich unbemerkt auf die Reise.

In Freds Erinnerung schoben sich die besänftigenden Worte des Notars. „Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden. Nach gewissenhafter Einschätzung des ihn untersuchenden Arztes trat der Tod wohl sofort ein.“

Die Sätze hatten ihn aber nicht beruhigt. Im Nachhinein hatte er sich gewundert, weil er sofort über das Wörtchen mehr gestolpert war.

„Glücklicherweise musste Ihr Herr Vater nicht mehr leiden.“

Musste er denn vorher leiden? Worin bestand das Leid, das man ihm, das er sich zugefügt hatte? 18 Jahre, Freds halbes Leben, fehlten die Versatzstücke aus Konrads Leben. Was hatte ihn beschäftigt? Suchte er Ablenkung in der Literatur? Das Boot war erstaunlich in Schuss. Hatte er sich jemals gefragt, wie es Fred ging? Warum hatte Konrad Keller die Zeit um die Testamentseröffnung so aufwendig inszeniert?

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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