Nietzsche leicht gemacht

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1.8 Der griechische Ursprung der Wissenschaft

Kants Reflexion auf die Wissensform der Wissenschaft war von der Frage geleitet, wie wir denken können, dass unser Wissen tatsächlich seinem Begriff entspricht, d. h. dass es wirklich so ist, wie wir es in Aussagen behaupten, und wir nicht nur unsere zeitlich zusammen auftretenden subjektiven Erlebnisse wiedergeben. Im Unterschied zu dieser Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit eines seinen Begriff erfüllenden Wissens konzentrierte sich ­Nietzsches Untersuchung des Wissens sehr bald auf die Angabe einer geschichtlichen Epoche und eines bestimmten geographischen Raumes, in der bzw. in dem diese bestimmte Form des Wissens ihren Anfang genommen hat. Darin liegt ein Anspruch auf ein historisches Verständnis, welcher die Geltungsgrundlage dessen, was wir heute als Wissenschaft kennen, radikal anders auffasst, als es dem wissen­schaftlichen Selbstverständnis in der Regel entspricht. Unsere Auffassung von der Wahrheitsfähigkeit der Wissenschaften geht diesem Verständnis zufolge nicht auf deren besonderes Verhältnis zur Welt an sich zurück, die sie besser und exakter in Aussagen zum Ausdruck bringen können, sondern auf ein geschichtliches Ereignis am Anfang der europäischen Denkgeschichte, und jene Auffassung lässt sich auch nicht durch jenes besondere Verhältnis zur Welt begründen, sondern nur aus der Wirklichkeit und Wirksamkeit der Folgen jenes Ereignisses.

Die uns heute selbstverständliche Bedeutung der Wissensform der Wissenschaft geht nach ­Nietzsche also letztlich darauf zurück, dass „der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer größer werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat.“ Damit verbunden ist der Gedanke, dass dieser Einfluss „zur Neuschaffung der Kunst – und zwar der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne – immer wieder nötigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt.“ (GT III-1, 93) Die Macht jener Wissensform ist also zum einen geschichtlich begründet, zum anderen hängt sie ab von der Existenz einer ‚Kunst‘ – allerdings sollte man dabei nicht an bestimmte Kunstformen und vor allem nicht an bestimmte Stilrichtungen denken, wie sie kunstgeschichtlich beschrieben werden. Gemeint ist in erster Linie ein Phänomen, das ­Nietzsche als ‚Kunst‘ bezeichnet, weil es als eine ‚Darstellungsfähigkeit‘ und als ein Vermögen des Bildens und Gestaltens sowohl der Ausbildung der Wissenschaft als auch der Entwicklung der Kunst zugrunde liegt. Dieser Zusammenhang zwischen dem das logische Denken und Begründen fundierenden Einfluss von Sokrates/Platon und der Kunst wird ­Nietzsche weiter beschäftigen. Sein Denken ist auch deshalb eine vor allem ‚ästhetische‘ Philosophie, weil sein zentrales Thema selbst fundamental ‚ästhetisch‘ verfasst ist. Das Denken, welches in dieser Philosophie

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zum Gegenstand der Kritik wird, ist selbst ein ‚ästhetisches‘ Denken und wird deshalb angemessen nur in einer ‚ästhetischen‘ Philosophie zum Thema, die sich einer ‚begründenden‘ und in diesem Sinne ‚rationalen‘ entgegensetzt.

In ­Nietzsches Reflexion auf das Wissen der Wissenschaft steht also an zentraler Stelle der Gedanke, „dass die Griechen unsere und jegliche Kultur als Wagenlenker in den Händen haben.“ (GT III-1, 94) Diese Bedeutung geht vor allem darauf zurück, dass dort die Bedeutung der Theorie und des Theoretischen grundgelegt wurde – und dies vor allem bei Sokrates, und ­Nietzsche schlägt vor, „in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des theoretischen Menschen.“ (GT III-1, 94) Damit ist nicht das gemeint, was wir heute so nennen mögen, wenn wir uns jemanden vorstellen, der von Handlungsfurcht gelähmt sich in theoretische Erwägungen über das Leben flüchtet, statt es zu leben. ­Nietzsche meint hier kein in unserem wissenschaftlichen Sinne beschreibbares Bild einer psychologischen Störung. Die einer solchen Beschreibung zugrunde liegende Unterscheidung fiele innerhalb die Charakterisierung des ‚theoretischen‘ Menschen, die ­Nietzsche meint. Auch eine ausgeprägte Neigung zu einem aktiven und am Handeln orientierten Leben wäre in diesem Sinne ‚theoretisch‘ im Sinne von ‚theoriegeleitet‘, weil darin Handlungen geplant und auf rationaler Grundlage kalkuliert werden – d. h. auf der Grundlage von Theorie, auch wenn dies nur im Sinne von technischer Rationalität als Abwägung von geeigneten Mitteln für die gewählten Ziele geschieht.

­Nietzsche glaubte darin eine eigene Form von Lust zu erkennen, die in der Theorie begründet wurde und nur in ihr offen steht, und welche sich von der des Künstlers an einem entscheidenden Punkt unterscheidet:

„Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene eine nackte Göttin und um nichts Anderes zu tun wäre.“(GT III-1, 94)

Damit wird der Prozess der Wissenschaft als ihre eigentliche Grundlage aufgefasst – man könnte auch sagen: ihr Tun und nicht ihr Ergebnis. So weit könnte man dies allerdings noch innerhalb der auch in der Wissenschaftstheorie bekannten Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung zu verstehen suchen, also zwischen dem Auffindungszusammenhang und dem Begründungszusammenhang wissenschaftlicher Theorien.

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Aber ­Nietzsches Behauptung geht doch wesentlich weiter. Er spricht geradezu vom „Grundgeheimnis der Wissenschaft“, das darin liege, dass es in ihr mehr um das „Suchen der Wahrheit“ als um diese selbst gehe (GT III-1, 95). Die Vorstellung von einer von ihrem Entstehungszusammenhang völlig unabhängigen Beziehung der Wissenschaft zu einer Welt an sich gilt ihm als eine „tiefsinnige Wahnvorstellung“ – als

„jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu korrigieren imstande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinkt der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss: auf welche es eigentlich, bei diesem Mechanismus, abgesehn ist.“ (GT III-1, 95)

Wir könnten an dieser Stelle den von ­Nietzsche hergestellten Zusammenhang zwischen der Wissensform der Wissenschaft und der Kunst – und damit der Ästhetik – darin sehen, dass dieses Wissen auf einem ‚Glauben‘ (der aus anderer und gerade aus der wissenschaftlichen Perspektive auch als ‚Wahn‘ bezeichnet werden kann) bzw. auf einem ‚Instinkt‘ beruht. Jener ‚Glaube‘, auf dem die Wissenschaft beruht, führt sie demnach in den Bereich der ‚Kunst‘, wenn ihre spezifische Perspektive (also die des theoretischen Menschen) als ganze betrachtet wird. Wenn ­Nietzsche hinzufügt, dass die Wissenschaft einen ‚Mechanismus‘ darstelle, der von sich aus zur Kunst führe („auf welche es eigentlich … abgesehen ist“)‚ so bezieht er sich auf Grenzen der Wissenschaft, die ihr selbst immanent sind. Man könnte diese Grenzen vor allem in ihrer Selbstauffassung sehen – die Wissenschaft kann sich nicht selbst wissenschaftlich auffassen.

Deshalb kommt die Wissenschaft in ihrer Selbstreflexion notwendig auf das zurück, wovon sie sich in ihrem historischen Anfang bei Sokrates/Platon gerade radikal abgrenzen wollte – auf den ‚Mythos‘, man könnte auch sagen: auf das Erzählen von Geschichten. Die „Bestimmung“ der Wissenschaft ist es demnach,

„das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu freilich, wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der Mythus dienen muss, den ich sogar als notwendige Konsequenz, ja als Absicht der Wissenschaft … bezeichnete.“ (GT III-1, 95)

Hier wird der ‚Mythos‘ – also die erzählte Geschichte – deshalb zur ‚Konsequenz‘ der Wissenschaft, weil das Begründen in der Wissenschaft ‚endlich‘ ist, d. h. Grenzen hat. Der ‚Umschlag‘ in Kunst ist also kein Vorgang innerhalb der Wissenschaft, sondern

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an ihren Grenzen, d. h. dort, wo ihr die Gründe ausgehen, und dort, wo sie grundsätzlich auf sich selbst reflektieren soll. Wenn sich die Wissenschaft dann als Mythos erweist, so heißt das demnach nicht, dass ­Nietzsche sie insgesamt als ein zweifelhaftes Unternehmen von geringer Qualität auffasst, das man besser auflösen sollte, sondern es geht um den Weg zu einer Reflexion auf die Grundlagen der Wissenschaft und zu ihrem angemessenen und besseren Selbstverständnis.

­Nietzsches Kritik bezieht sich also auf das Verständnis des Status von Wissenschaft, d. h. der in ihr ausgearbeiteten Wissensform als solcher. Man könnte pointiert sogar sagen: kritisiert wird nicht die Wissenschaft, sondern ihr falsches Selbstverständnis, das sich etwa im Glauben an die Kausalität als einer Allmacht des Seins in den Händen der Menschen dokumentiert. Man sieht auch an dieser Stelle, wie ­Nietzsche auf der Grundlage der Kantischen Philosophie steht – Kant hatte die Reflexion auf Kausalität als einen der Begriffe des Verstandes unternommen, mit deren Hilfe wir aus den bloßen Anschauungen eine Welt von Objekten ‚konstruieren‘, von der wir uns als Subjekte unterscheiden können. Wir können Kausalität also nicht im Sein selbst finden, sondern sie nur als eine der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nachweisen, die selbst mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung identisch sind. Schon auf dieser Kantischen Grundlage müsste eine Auffassung von Kausalität als Eigenschaft des Seins selbst, welche vom Wissenschaftler nur in Aussagen beschrieben und abgeschildert werden muss, ein Selbstmissverständnis des Wissensstatus der Wissenschaft darstellen. ­Nietzsche nimmt diese Einsicht auf, wenn er die Vorstellung von Kausalität als einer Eigenschaft des Seins selbst als ‚Wahn‘, ‚Glauben‘ und doch auch als ‚Instinkt‘ der Wissenschaft bezeichnet, an deren Grenzen sie deshalb selbst als Mythos, d. h. als erzählte Geschichte erscheint.

 

Man kann deshalb auch sagen, dass die Wissensform der Wissenschaft als „Welttendenz“ (GT III-1, 96) ‚endlich‘ ist, weil sie einen Anfang hat, der zum einen durch einen bestimmten geschichtlichen Ort und eine entsprechende Zeit charakterisiert ist – für ­Nietzsche also im Griechenland der Zeit von Sokrates (dem „Mystagogen der Wissenschaft“ (GT III-1, 95)) und von Platon. Zum anderen ist dieser Anfang aber auch ein sachlicher, d. h. die Begründungsverfahren der Wissenschaft sind nicht insofern ‚unendlich‘, als sie sich durch die und aus der Wirklichkeit an sich dem Menschen aufgedrängt haben, die sich nur auf diese Weise beim Menschen melden könnte (was sie aus irgendeinem Grunde möchte). Der gedankliche Ansatz beim ‚theoretischen‘, d. h. grundsätzlich logisch begründenden und argumentierenden Menschen ist nach dieser Auffassung alles andere als selbstverständlich. Nach ­Nietzsche handelt es sich vielmehr um eine ‚Erfindung‘, deren Anfang er bei Sokrates/Platon sieht. Und erst mit dieser Erfindung geschah es, dass

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„erst ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesamten Erdball, ja mit Ausblicken über die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde; wer dies alles, samt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in ­Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen.“ (GT III-1, 96)

1.9 Die Tragödie, die Wissenschaft und der Staat

Wir haben mittlerweile gesehen, dass ­Nietzsches Erörterungen über die Geburt der Tragödie es eigentlich nur am Rande mit einer speziellen literarischen Form zu tun haben. Es geht um den Ursprung der artikulierten Sprache, um die Möglichkeit, über die Welt in einer bestimmenden Sprache sprechen zu können, um das Individuieren im Sinne desjenigen Artikulierens, das unserem Weltzugang zugrunde liegt, und vor allem geht es um die Wissensform der Wissenschaft, deren Bedeutung heute in allen Lebensbereichen immer noch wächst, und damit geht es auch um die Technik, die auf der Grundlage dieser Wissensform entstanden ist. Wenn Thema von ­Nietzsches Erörterungen über die Tragödie also grundlegende Erscheinungsformen der Kultur sind, dann ist es nicht überraschend, dass auch Grundlagen des Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat zur Sprache kommen müssen. In der Tat behauptet ­Nietzsche, dass „notwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind.“ (GT III-1, 143)

Dieser Gedanke liegt zunächst schon deshalb nahe, weil mit der Tragödie eine Verständnisform des Lebens vom ‚Mythus‘ her verbunden ist, d. h. von den ‚Geschichten‘ her, die nicht auf eine begründende oder logische Weise, sondern mithilfe von Erzählungen über besonders bedeutende Ereignisse die Zusammenhänge in der Welt und der Menschen mit der Welt und untereinander verständlich machen. Die Tragödie verlor ihre Bedeutung aber dann, als der ‚logische Geist‘ des Begründens und Erklärens mithilfe – mehr oder weniger – vernünftiger Argumente vorherrschend wurde, nach ­Nietzsche also mit dem sokratisch-platonischen Geist. Offensichtlich kann es die fundamentalen Formen des Zusammenlebens und der Austauschbeziehungen zwischen Menschen in einer Gesellschaft nicht unberührt lassen, wenn bei Problemen im Zusammenleben die Berufung auf die Wahrheit von sinngebenden ‚Geschichten‘ durch den Bezug auf prinzipiell auf vernünftige Weise begründungspflichtige Geltungsansprüche ersetzt wird. ­Nietzsche führt diese Bedeutung seiner Tragödientheorie für Gesellschaft und Politik so aus:

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„Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genötigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich ebenso der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden.“ (GT III-1, 143 –144)

Allerdings fährt ­Nietzsche dann mit einer moralischen Einschätzung dieses Vorgangs fort: „Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegenteil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern.“ (GT III-1, 144) Dass es sich bei solchen und ähnlichen Bewertungen allerdings tatsächlich um ethische Urteile mit einem Anspruch auf vernünftige Begründbarkeit und Ausweisung handelt, sollte man nicht zu schnell als sicher annehmen. Der Ausdruck ‚ist ein Volk … wert‘ ist möglicherweise nur eine Beschreibung für die Erfüllung von Durchsetzungsbedingungen in einer Umwelt, die durch knappe Güter und konkurrierende Ansprüche geprägt ist. In seiner späteren Philosophie wird ­Nietzsche den Ausdruck ‚Wert‘ sehr häufig so verwenden und der Beschreibung von Strukturen einer solchen Erfüllung von Durchsetzungsbedingungen an vielen Stellen dadurch eine ethisch aufgeladene Färbung verleihen. Man könnte versuchen, diesen Stil als eine Erläuterung für eine der zentralen Behauptungen in ­Nietzsches Kritik der Ethik aufzufassen, nämlich für den Zusammenhang von Ethik und Willen zur Macht.

Man sollte ­Nietzsches ‚Werturteile‘ deshalb hier wie an vielen anderen Stellen auf sich beruhen lassen, um das Behauptete deutlicher zu verstehen. In erster Linie werden in dem wiedergegebenen Zitat zwei fundamentale Formen des Selbstverständnisses voneinander unterschieden, die ein unterschiedliches Verhältnis zur Zeit implizieren. Ein Selbstverständnis von Mythen her stellt einen Menschen oder eine Gesellschaft bzw. einen Staat aus der Abfolge der Zeit heraus – der Mythos als die sinngebende Geschichte gilt, weil er gilt und weil er immer gegolten hat. Solange er seine Geltung behält, kann man nicht fragen, ob er denn die ‚richtigen‘ Anleitungen gibt, denn die Bedeutung von ‚richtig‘ wird eben durch den Mythos bestimmt, und man kann auch bei keinem Ereignis fragen, ob für seine Deutung der Mythos zuständig sei, oder ob vielleicht eine andere Interpretation dieses Ereignisses sinnvoller wäre, denn was

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‚sinnvoll‘ heißen kann, bestimmt eben der Mythos. Er formt deshalb in einem radikalen Sinne eine ‚geschlossene Gesellschaft‘, in der jene ‚Geschichten‘ den Referenzrahmen für alles darstellen, was von Menschen in ihrem Zusammenleben gedacht und getan werden kann.

Ganz anders verhält es sich, wenn für das Zusammenleben in der Gesellschaft und im Staat das ‚historische‘ Begreifen und damit die Abfolge des Lebens in der Zeit zum Referenzmuster wird – ebenso wie dies für einzelne Menschen gilt. Nun wird nicht mehr die Unveränderlichkeit des Ewigen die Referenz für das Verstehen von Ereignissen, sondern es wird eine Unterscheidung gemacht zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, und die letztere wird von der ersteren her verstanden. Nun gibt es Erklärungen, mithilfe derer die Gegenwart mit der Vergangenheit verbunden wird, und zwar so, dass das, was im Jetzt geschieht, dadurch verständlich wird, weil im ‚es war‘ etwas anderes geschehen war.

Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass nach ­Nietzsche für den sokratisch-­platonischen Geist und damit für die Wissensform der Wissenschaft an zentraler Stelle der Gedanke der Kausalität bedeutsam wird. Dieser Gedanke erscheint hier in der Form der historischen Kausalität: weil in der Vergangenheit A (und nicht B oder C) geschehen ist, deshalb ereignet sich in der Gegenwart X (und nicht Y oder Z). Kausalität aber ist eine Form, mit der wir verschiedene Ereignisse auf eine sehr abstrakte – wir könnten auch sagen: gedankenlastige – Weise miteinander verbinden. Sie gibt uns nicht an, dass beim Auftreten von A sich in der Folge stets X ereignen muss – es könnte sein, dass A dieses Mal unter ganz anderen Randbedingungen stattfand, weshalb keineswegs X folgt, sondern Z oder gar aus einer ganz anderen Klasse das Ereignis β. Wer sich historisch versteht, muss also immer wieder neue Erklärungen finden und stellt sich auch auf diese Weise in den Ablauf der Zeit, ob es sich nun um eine Person oder eine Gesellschaft bzw. einen Staat handelt.

Mit dieser Erklärungsweise kommen wir zurück auf ­Nietzsches Diagnose seiner Gegenwart in Bezug auf Gesellschaft und Staat. Jener sich historisch verstehende und damit sich vernünftig erklärende und begründende Staat ist nach seiner Vorstellung als Ergebnis des ‚Sokratismus‘ charakterisiert durch „den abstrakten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstrakte Erziehung, die abstrakte Sitte, das abstrakte Recht, den abstrakten Staat.“ (GT III-1, 141) ‚Abstrakt‘ ist hier gleichbedeutend mit ‚ohne Grundlage in einem Mythos‘ bzw. mit ‚sokratisch-platonisch‘ bzw. mit der Wissensform der Wissenschaft. Es ist die Abstraktheit eines Begriffes wie ‚Kausalität‘, mit dem wir einen Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen herstellen, der in der Wirklichkeit nur unter einem Absehen – einer ‚Ab-straktion‘ – von Randbedingungen und weiter zurückliegenden Ursachen gilt. Man kann versuchen, den Zweiten Weltkrieg durch die

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Politik der Westmächte nach dem Ersten Weltkrieg zu erklären, aber diese Kausalität ist wenig aussagekräftig, wenn man nicht die Randbedingungen in einer besonderen politischen Entwicklung in der Weimarer Republik berücksichtigt, die wiederum ältere politische Traditionslinien zur Erklärung verlangen, so dass die Erklärung dafür, dass gerade in Deutschland 1933 eine Verbrecherbande an die Regierung gelangen konnte, weitgehend von der Entscheidung darüber abhängt, was als ­Ursachen und was als Randbedingungen aufgefasst werden soll.

Darüber hinaus schließt ­Nietzsche mit dem Begriff des ‚abstrakten Staates‘ natürlich auch an Hegels Ausdruck vom ‚Not- und Verstandesstaat‘ an. Hegel hatte damit den Staat gemeint, der sich durch die materiellen Interessen der Bürger rechtfertigt und so existiert – zu welchen materiellen Interessen allerdings auch Sicherheitserwägungen wie Rechtssicherheit gehören können. Es ist der Staat, der ohne Begründung in einer ‚Sitte‘ besteht, also in unbezweifelbaren und unmittelbar geltenden Normen, die sich durch ihre Herkunft legitimieren, d. h. die letztlich gelten, weil sie immer gegolten haben. Bei ­Nietzsche ist nun der Staat ohne Mythos gemeint, in dem die Beziehungen zwischen den Bürgern grundsätzlich durch ein Wissen geregelt sein sollen, das sich nicht durch den Bezug auf sinnstiftende ‚Geschichten‘ rechtfertigt, sondern etwa durch Regeln, die in Abstimmungen festgesetzt wurden, oder durch die Pflicht, sich in rational geleiteten Diskursprozessen ausweisen zu müssen.

Wenn wir bei ­Nietzsche jedoch in solchen Passagen einen kritischen Unterton bemerken, so sollten wir berücksichtigen, dass diese Einschätzung des ‚abstrakten‘ und ‚mythenlosen‘ Staates nicht auf das Fehlen einer fraglos geltenden Sittlichkeit zurückgeht, wie dies bei Hegel der Fall war. Der ‚abstrakte‘ Staat ist für ­Nietzsche vielmehr ein Staat, in dem die Reflexion auf die Herkunft staatenbildender individuierter Begriffe und Gestalten nicht stattfinden kann, d. h. dessen Bürger sich nur von diesen Begriffen und Gestalten her verstehen, ohne dass ein Bewusstsein von deren Herkunft aus ästhetischen und damit künstlerischen Prozessen lebendig wäre, und in dem ein Recht gilt, das ohne eine solche Reflexionsmöglichkeit herrscht, und in dem das Erziehungssystem auf Grundsätzen beruht, die nur ihre möglicherweise sogar vernünftige Herkunft widerspiegeln, nicht aber das Entstehen eben dieser Vernunft aus ästhetisch-künstlerischen Ursprüngen. Man könnte auch sagen: es handelt sich nach ­Nietzsche um einen Staat der Vernunft, in dem die Vernunft nicht reflektiert auf ihre eigene Herkunft in einem künstlerisch-kreativen Gestalten und Bilden.

 

Insofern ist ­Nietzsches Einschätzung des modernen Staates weit radikaler als es die Hegelsche war. Bei Hegel fehlte dem ‚Verstandesstaat‘ ein Fundament in einer selbst bereits individuierten Gestalt (also in einer Sittlichkeit), d. h. in einem zwar nicht vernünftig begründeten, aber doch genügend bestimmten Vorstellungszusammenhang über

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das, was man tut und was nicht, was richtig ist und was falsch. Bei ­Nietzsche dagegen fehlt dem ‚abstrakten‘ Staat das Bewusstsein, dass alle Bestimmtheiten (Begriffe, Leitvorstellungen und Ideen), die in ihm das Zusammenleben der Menschen leiten, nicht eine Welt an sich widerspiegeln, sondern in einem ästhetisch-kreativ-künstlerischen Prozess entstanden sind, der nicht notwendig ist und nicht letztgültig vernünftig begründet werden kann. Ob daraus eine philosophische Kritik am modernen Staat abgeleitet und begründet werden kann, oder ob sich bei ­Nietzsche daraus nicht auch eine Fülle von Ressentiments ergeben, können wir an dieser Stelle offen lassen. Auf jeden Fall wird es keine Kritik mit dem Hinweis auf eine fehlende sittliche Grundlage sein können, und es wird keine an Vernunftforderungen orientierte Kritik des Politischen abgeleitet werden können. Man sollte dies im Auge behalten, wenn man ­Nietzsches spätere Äußerungen über konkrete staatliche Entwicklungen liest – von denen sich viele relativieren, wenn man sie auf der Grundlage eines genaueren Verständnisses von ­Nietzsches Philosophie auffasst.