Nietzsche leicht gemacht

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Damit ist aber auch gesagt, dass ­Nietzsche an seinem ursprünglichen Anspruch festhielt, den er in der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ aufgestellt hatte, auch wenn er ihn bei Wagner nicht mehr finden konnte. Er hat allerdings nicht behauptet, bei Bizet das gefunden zu haben, was die griechische Tragödie in seinem frühen Denken bedeutet hatte. Dennoch hat die Verwandlung seines Musikgeschmacks auch etwas mit seiner Philosophie zu tun. Das lässt sich schon aus dem Satz ersehen, mit dem er seine Neigung zu Bizets Musik begründete (s. o.): „Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen: erster Satz meiner Ästhetik.“ (FW VI-3, 7) Wir werden gerade in ‚Also sprach Zarathustra‘ sehen, dass und wie dieser Satz im Mittelpunkt nicht nur von ­Nietzsches Ästhetik, sondern auch seines Denkens stehen wird.

Es liegt nahe, dass eine solche Orientierung an dem, was ‚leicht‘ ist, nicht gerade Wagners Musik als ästhetischen Leuchtturm heranziehen wird. Aber der Grund dafür liegt nicht darin, dass man diese Musik gewöhnlich als ‚schwer‘ bezeichnet, sondern diese ‚Schwere‘ hat für ­Nietzsche einen besonderen Grund, der wiederum auf das Thema zurückführt, das er im Frühwerk unter dem Titel eines Zusammenhangs zwischen Apollo, Dionysos, Sokrates/Platon und der ‚Tragödie‘ behandelte. Wir können daraus einen ersten Anhaltspunkt dafür entnehmen, dass sich jene ‚positive‘ Philosophie, zu der sich bei ­Nietzsche nur einige Ansätze finden lassen, auf jeden Fall von einer Kunst abgrenzen muss, die sich auf ‚Literatur‘ stützt in dem Sinn, dass sie eine Kommentierung in logisch-sprachlicher Form nötig hat. Gegen Wagner lautete der

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späte Einwand grundsätzlich: „Wagner hatte Literatur nötig, um alle Welt zu überreden, seine Musik ernst zu nehmen, tief zu nehmen, ‚weil sie Unendliches bedeute‘; er war zeitlebens der Kommentator der ‚Idee‘.“ (FW VI-3, 30) Wenn wir dies einer Ästhetik gegenüberstellen, in der alles Gute ‚leicht‘ sein soll, so kann es darin offenbar nicht um etwas gehen, das in logisch-sprachlicher Form ausdrückbar wäre.

Die Kritik an Wagner weist deshalb auch schon voraus auf ­Nietzsches Philosophie des ‚Leibes‘, die man nicht mit einer naturwissenschaftlichen Erklärung von Denken und Geist aus neuronalen Funktionen verwechseln sollte. ­Nietzsche wird hier von ‚Physiologie‘ sprechen und keineswegs die gleichnamige Naturwissenschaft meinen – was schon deshalb nicht möglich ist, weil er die Kritik am Wissen in der Form der Wissenschaft, die wir in der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ finden, auch später nicht aufgegeben hat. Es ist in gewissem Sinne gerade der ‚Leib‘ bzw. dessen Physiologie, die sich gegen Wagners Musik wenden: „Meine Einwände gegen die Musik Wagner‘s sind physiologische Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie.“ (­Nietzsche contra Wagner, VI-3, 416) Es sei nochmals betont, weil Missverständnisse hier sehr nahe liegen: ­Nietzsche behauptet an dieser Stelle keineswegs, Ästhetik sei ein Spezialfall einer angewandten speziellen Wissenschaft – in seiner Philosophie geht es an zentraler Stelle vielmehr gerade um eine Reflexion auf das Wissen, das wir alle als Wissenschaft kennen und in der Regel schätzen gelernt haben, was nicht ausschließt, dass man nach dessen Herkunft, Geltungsstatus und Reichweite fragen sollte.

1.6 Von Dionysos und Apollo zum ‚Sokratismus‘

Man könnte nun darauf verweisen wollen, dass ­Nietzsche damit nur (a) eine Theo­rie über die griechische Tragödie und (b) eine Theorie über die Bedeutung des Apollinischen und Dionysischen in der Kunst vorgelegt bzw. beabsichtigt habe. Wir hatten jedoch schon am Anfang betont, dass es hier letztlich um die Form des Wissens geht, die wir heute noch in der Wissenschaft vorfinden. Darüber hinaus entwickelt ­Nietzsche jedoch auch eine bestimmte und nicht-triviale Auffassung vom Entstehen und der Bedeutung dessen, was wir heute noch als Philosophieren bezeichnen, und er behauptet, dass die Entstehung dieses Philosophierens im Wesentlichen auch schon die Entstehung der Wissensform der Wissenschaft war. Dieser Prozess ist nach ­Nietzsche gleichzeitig das Vergehen der Tragödie in der Form, die ihr Äschylos und Sophokles gegeben hatten, und darin entsteht ein neuer Gegensatz, der nicht mehr als das Dionysische vs. das Apollinische beschrieben werden kann, sondern als das Dionysische

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vs. „das Sokratische“ – gerade an diesem neuen Gegensatz soll das Kunstwerk der griechischen Tragödie zugrunde gegangen sein (GT III-1, 79).

Natürlich könnten wir für ‚das Sokratische‘ auch schon ‚das Platonische‘ einsetzen, schließlich kennen wir die Lehren des Sokrates fast nur durch Platon und sie wirkten nur über die platonischen Dialoge und deren Rezeption. ­Nietzsche fasst den Beginn der Bedeutung des sokratischen Denkens jedoch in erster Linie als ein ästhetisches Phänomen auf. Zunächst geht es also um das

„Wesen des ästhetischen Sokratismus …, dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: ‚alles muss verständig sein, um schön zu sein‘; als Parallelsatz zu dem sokratischen ‚nur der Wissende ist tugendhaft‘“. (GT III-1, 81)

Als paradigmatischer Künstler für diese sokratisch-platonische Verfallsform der Tragödie erscheint ­Nietzsche Euripides. Diese Veränderung zeigt sich in der neuen Bedeutung der verschiedenen Elemente im Zusammenhang der Tragödie. Waren zuvor die „rhetorisch-lyrischen Szenen“ und damit das Pathos und nicht die Handlung wichtig (GT III-1, 81), so werden nun Handlung, Bewusstwerden und die Gedanken wichtig. ­Nietzsche fasste dies pointiert so zusammen, dass Euripides sein Theater an zweien seiner Zuschauer ausrichtete: an ihm selbst als Denker und nicht als Dichter, und an Sokrates (GT III-1, 76, 79).

Sokrates – und damit bald Platon – erscheint nun als der Gegner des Dionysos, der Apollo in diesem Sinne natürlich nicht war, denn zumindest in der Tragödie verschwand das Dionysische keineswegs hinter dem Apollinischen. Für ­Nietzsches ganze Philosophie ist es nun sehr wichtig zu sehen, wie sich dieser neue Gegensatz von dem älteren und anders gearteten zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen unterscheidet. Dazu ist es nützlich, zunächst zu beachten, dass ­Nietzsche das Prinzip des ästhetischen Sokratismus vor allem in der „neuen und unerhörten Hochschätzung des Wissens und der Einsicht“ sah (GT III-1, 85). Es liegt nahe, dass auf dieser Grundlage in der Tragödie die Handlung und der Dialog wichtiger wurden als die musikalische Vision des ­Chores. Man könnte also allgemein ­Nietzsches Auffassung so zusammenfassen, dass in der Tragödie nun die Gedanken wichtig werden, die ein Wissen darstellen. Das kann etwa ein Wissen über die Welt und den Menschen sein oder auch eine Lehre, die sich aus der Handlung und den Dialogen ergeben soll. Warum ist das, was ­Nietzsche als ‚Sokratismus‘ bezeichnet, aber die „fragwürdigste Erscheinung des Altertums“ (GT III-1, 86)? Um eine Antwort zu finden, sollten wir vor allem den Ausdruck ‚fragwürdigst‘ ernst nehmen und d. h. nicht einfach in einem pejorativen Sinne auffassen.

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‚Fragwürdig‘ in diesem Sinne ist jene ‚Erscheinung‘ zunächst dadurch, dass sich nun das bewusste Erkennen der „instinktiven Weisheit“ entgegensetzt und dadurch die ursprüngliche Balance zwischen Instinkt und Logik gestört wird:

„Die instinktive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutreten. Während doch bei allen produktiven Menschen der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum! … so dass Sokrates als der spezifische Nicht-Mystiker zu bezeichnen wäre.“ (GT III-1, 86)

Die logische Natur ist hier nach ­Nietzsche selbst zum Instinkt geworden. Das Problem dabei ist vor allem, dass diese logische Natur sich selbst nicht mehr als solche erkennen und auffassen kann – das Problem ist also vor allem die instinktive Gewalt dieser logischen Natur; ­Nietzsche spricht von einer „Naturgewalt“, die der sokratisch-platonischen Reflexion gerade entgeht: „Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivität und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.“ (GT III-1, 87)

Wir hatten gesehen, dass ­Nietzsche in der ‚klassischen‘ Tragödie und deren musikalischem Ursprung eine Harmonie von dionysischem und apollinischem Prinzip walten sah, welche es ermöglichte, das Dionysische im apollinisch-individuierenden Gestalten und Erscheinen selbst noch erscheinen zu lassen, obwohl es in diesem Geschehen doch eigentlich als solches untergehen muss, um das Apollinische entstehen zu lassen. In der nicht in erster Linie auf Handlung und Dialog beruhenden klassischen Tragödie gelang es jedoch, so ­Nietzsche, dieses Geschehen des Bildens und Gestaltens, d. h. der individuierenden Artikulation, selbst noch im Kunstwerk zur Erscheinung zu bringen. Eben dies misslingt nun in der neueren Tragödie durch deren Orientierung an Dialog und Handlung, die beide nun durch den ‚Instinkt‘ der logischen Natur verabsolutiert werden. Sie werden nicht mehr durch die ‚Vision‘ der Musik zu einem Teil des Geschehens, in dem sich das Bilden, Gestalten, Ordnen und Individuieren selbst darstellt. Deshalb wird das Gebildete, Gestaltete, Geordnete und Individuierte nun zum Wesen der Tragödie, die den Prozess des Entstehens nicht mehr zum Ausdruck bringen kann.

 

Weil die logische Natur zu einem ‚Instinkt‘ geworden ist, kann sie nicht widerlegt werden – d. h. sie wendet sich als solcher nicht auf sich zurück (GT III-1, 87). ­Nietzsche

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spricht deshalb auch von dem „großen Zyklopenauge des Sokrates“, das sich auf die Tragödie gewandt habe (Zyklopen haben bekanntlich nur ein Auge) (GT III-1, 88). Wir können diese Auffassung aber bereits jetzt in einem etwas allgemeineren Zusammenhang sehen. Natürlich geht es nicht nur um die Tragödie. Jene fehlende Selbstreflexion der sokratisch-platonischen Haltung einer Betonung des Logischen gilt nach ­Nietzsche auch für die Form des Wissens, die mit der platonischen Philosophie begann und in der Gestalt der Wissenschaft heute noch in weitem Ausmaß das bestimmt, was Wissen heißen soll. Aus der Erörterung von ­Nietzsches Auffassung über die besondere Struktur der dionysisch-apollinischen ‚klassischen‘ Tragödie ist jedoch auch bereits deutlich geworden, dass seine Kritik nicht auf eine Wiederherstellung des Dionysischen in der Kunst oder in der Welt abzielen kann.

Das Dionysische ‚gibt‘ es nicht in dem Sinn, wie es Siamkatzen oder Stahlwerke in der Welt gibt, und auch nicht so, wie es Klaviersonaten, Wissenschaftsparadigmata oder ewige Liebe gibt. Eigentlich ‚gibt‘ es das Dionysische überhaupt nicht – ebenso wenig wie es das Apollinische ‚gibt‘. Aber das apollinisch-dionysische Bilden, Gestalten und Individuieren kann im Gestalteten, Gebildeten und Individuierten selbst zum Ausdruck kommen – oder auch ihn ihm verschwinden, wenn nur noch Gestalten, Bilder und Individuen erscheinen, in denen der Prozess ihres Entstehens verschwunden ist. ­Nietzsche kann also nach den Grundsätzen seiner eigenen Philosophie nicht nach einer Wiederherstellung des Dionysischen streben, sondern nur nach einer Restitution eines Zustandes, in welchem jener Prozess des Artikulierens so erhalten ist, dass er nicht hinter der logischen Natur und damit hinter dem Artikulierten verschwindet.

Auch wenn das logische Denken sich nicht als logisches Denken und damit in seiner Besonderheit als individuierte Gestalt auffassen kann, so gibt es doch schon am Anfang dieses Denkens einen Ansatz, an dem sich die ‚Musik‘ im Hintergrund des individuierten Gestaltens zur Geltung bringt. Mit dieser ‚Musik‘ meldet sich das Dionysische und d. h. der Prozess des Gestaltens und Bildens selbst. ­Nietzsche sah dieses Geschehen in der dialogischen Form der Darstellung der platonischen Philosophie repräsentiert, welche nach dieser Auffassung nicht zufällig in solcher Form überliefert wurde. Man könnte also pointiert sagen, dass die Dialogform die ‚Musik‘ in Platons Philosophie sei und gerade deshalb nicht eine äußerliche Form, sondern die Gestalt, in der sich in dieser Philosophie die Dualität von Gestaltung und Gestalt, von Bildung und Bild, von Individuierung und individuellem Begriff bzw. Gedanken zur Geltung bringt und darstellt. Platon hat aus „voller künstlerischer Notwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist.“ (GT III-1, 89) Der platonische Dialog erscheint danach als Kunstform, die sich dem Inhalt nicht neutral anpasst, sondern selbst in einem Verhältnis zum Inhalt steht.

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Man könnte hier an Platons ‚dialektischen‘ Philosophen denken, der die realis­tische Gestalt darstellt, in der das Denken und der Zugang zu den ‚Ideen‘ geschieht, während die demgegenüber ‚bessere‘ Schau der Ideen zumindest auf Erden nur in der nicht artikulierbaren Form der Liebe oder der Erfahrung des Schönen erreicht werden kann. Der dialektische Philosoph sucht im Dialog nach einer begrifflichen Einteilung des Seienden, d. h. er artikuliert es – und ‚articulus‘ hieß ‚Gelenk‘ und davon abgeleitet in der Rede ein ‚Glied‘ als Teil, Abschnitt, und davon stammt ‚articulatim‘ als ‚gliederweise‘ und deshalb ‚deutlich verständlich‘. Darin bewahrt er aber ein Moment von ‚Poesie‘ auf, weil er diese Einteilung in einem Prozess gewinnt, der zwischen Menschen und ihren nicht von vornherein rein rationalen Vorstellungen über die richtige Begrifflichkeit für die Dinge der Welt geschieht.

Die logische Natur der sokratisch-platonischen Philosophie nimmt sich durch die Dialogform demnach zumindest in einem gewissen Ausmaß zurück. Nach ­Nietzsche erscheint in diesem Sichzurücknehmen wiederum das ‚Poetische‘, das selbst auf das Dionysische zurückverweist, d. h. auf den Prozess des individuierenden Gestaltens statt auf das Ergebnis der festgewordenen Gestalten und Begriffe. Vom platonischen Dialog gilt nach ­Nietzsche also, dass er „durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat.“ (GT III-1, (GT III-1, 89)

1.7 Platon und der Optimismus der Logik

Damit wird ­Nietzsches Einschätzung der Veränderung des Denkens durch die sokra­tisch-platonische Philosophie aber nicht grundsätzlich beeinflusst. Sokrates bleibt doch auch in der Dialogform der „dämonische Sokrates“ (GT III-1, 90), mit dessen logisch-begrifflichem Denken der philosophische Gedanke die Kunst überwächst. In der Tragödie zeigt sich dies etwa darin, dass der Held nun seine Handlungen „durch Grund und Gegengrund“ – also mithilfe der Logik und des auf ihr beruhenden Argumentierens – zu verteidigen beginnt, wodurch ein „optimistisches“ Element in diese Kunstform eindringt, von welcher sie schließlich zerstört werden musste (GT III-1, 90). ­Nietzsche unterscheidet in diesem Zusammenhang eine ‚pessimistische‘ von einer ‚optimistischen‘ Weltbetrachtung, deren erstere der klassischen Tragödie und ihrer Darstellung des Dionysischen zugehört, während die letztere einen wesentlichen Zug der mit Sokrates/Platon beginnenden Philosophie und Wissensform darstellt. Wir sollten diese Begriffe jedoch nicht mit der heute üblichen psychologischen Bedeutung aufladen,

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sondern diese Unterscheidung und ihre Bedeutung auf den Grund im Verhältnis von Dionysischem und Apollinischem bzw. dann Sokratisch-Platonischem zurückführen.

Zur pessimistischen Weltbetrachtung gehört nach ­Nietzsche (a) „die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen“, (b) „die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels“, (c) „die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.“ (GT III-1, 69) Man könnte ohne allzu große Vereinfachung sagen, dass ­Nietzsche als ‚pessimistisch‘ die in der Tragödie dargestellte Erkenntnis von der individuierenden Gestaltung als Prozess und Geschehen und nicht von einer in der Welt und an sich vorhandenen Wirklichkeit versteht. Als im moderneren Sinne ‚pessimistisch‘ könnte man darin wohl vor allem die Auffassung von der individuierten Gestalt (auch des Menschen) als Gestaltung in der apollinischen Artikulation erkennen, also nicht als eine Wirklichkeit, die der Welt an sich zugehört. Das ‚Pessimistische‘ ist also nicht das ‚Dionysische‘, sondern die in der Tragödie geschehende apollinische Darstellung des Dionysischen, die in sich die Begrenztheit kennt, weil sie ihren Ursprung als ein Gestalten und Bilden zeigt, so dass das Gestaltete und Gebildete nicht als etwas von Natur aus und notwendig Vorhandenes zur Geltung kommt.

Als eine ‚optimistische‘ Weltbetrachtung bezeichnet ­Nietzsche nun entsprechend die mit der platonischen Philosophie beginnende Ersetzung der apollinischen durch eine sokratisch-platonische Darstellung des Dionysischen. Wir hatten schon darauf hingewiesen, dass diese sich vor allem dadurch auszeichnet, dass das individuierende Gestalten selbst nicht mehr zur Erscheinung kommt, die sich vielmehr auf die individuierten Gestalten beschränkt. Das ‚Optimistische‘ darin ist vor allem der damit verbundene Glaube, diese Gestalten seien als solche – und ohne ihre Herkunft aus der individuierenden Gestaltung als einer Leistung – der Garant für die universale Verständlichkeit und Beherrschbarkeit der Welt. Das Bilden verblasst hinter dem Gebildeten und das Gestalten hinter dem Gestalteten, so dass nur noch die isolierten Bilder und Gestalten ohne ihre Herkunft übrig bleiben. Sokrates/Platon ist deshalb das

„Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrtum das Uebel an sich begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntnis vom Schein und vom Irrtum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein: so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urteile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Betätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde.“ (GT III-1, 96 –97)

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An anderer Stelle ist von dem „ans Licht gekommenen Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens“ die Rede (GT III-1, 107). Allerdings wird darin die Herkunft des ganzen Mechanismus selbst nicht beachtet, d. h. das Logische ist nach ­Nietzsche zu einer solchen Reflexion auf sich und seinen Status nicht fähig.

Der Begriff von einer ‚Universalmedizin‘ weist darüber hinaus noch auf einen Aspekt im ‚Optimismus‘ der mit Sokrates/Platon in die Welt gekommenen Wissensform, den wir konkret in der Verwendung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Technik antreffen können. Die undionysische ‚Heiterkeit‘ des theoretischen Menschen zeigt sich auch darin,

„dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Konsonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Korrektur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: ‚Ich will dich: du bist wert erkannt zu werden.‘“ (GT III-1, 111)

­Nietzsches Philosophie ist deshalb ebenso eine Philosophie der Technik wie sie eine Philosophie der theoretischen Wissensform ist. Eine solche Technikphilosophie ist aber ebenso wie die des Wissens letztlich eine Philosophie der Kunst – also eine ästhetische Philosophie, weil sie auf den ‚künstlerischen‘ Ursprung des Individuierens von Begriffen, Erkenntnissen und Wissensformen reflektiert.

Nichtsdestoweniger ist dieser Optimismus doch auch nach ­Nietzsche nicht unendlich, und seine Grenzen sind gleichbedeutend mit denen der Wissenschaft bzw. denen des Glaubens an die Wissensform, die wir auch heute noch als Wissenschaft bezeichnen. Gerade an diesen Grenzen sieht ­Nietzsche die Wiedergeburt des Tragischen und der tragischen Kunst – d. h. der Kunst, in deren Gestalten sich das Gestaltetsein selbst noch zur Erscheinung bringen kann, weshalb sie dionysisch und apollinisch zugleich sein muss. ­Nietzsche beschreibt diese Grenzen des platonisch-wissenschaftlichen Optimismus so:

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„Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.“ (GT III-1, 97)

Im Grunde beruft sich ­Nietzsche hier auf die Grundsätze der theoretischen bzw. ­logischen Kultur selbst, wenn er darauf hinweist, dass eine solche Kultur nicht vor ihren eigenen Konsequenzen zurückweichen kann, da „eine Kultur, die auf dem Prinzip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, unlogisch zu werden, d. h. vor ihren Konsequenzen zurück zu fliehen.“ (GT III-1, 115)

 

­Nietzsche weist in diesem Zusammenhang übrigens auch darauf hin, dass die Reflexion auf das Wissen selbst bereits vor ihm dazu geführt habe, dessen Grenzen zu erkennen und damit eine Neubesinnung auf das ‚Tragische‘ einzuleiten. Er erwähnt namentlich und naheliegenderweise Kant, der „das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst [habe], um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Kausalität, sich anmaßt, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können.“ (GT III-1, 114) Gemeint ist natürlich Kants Kritik an einer Philosophie, die beanspruchte, mithilfe von rationaler Theologie, Psychologie und Kosmologie eine rein vernünftige und damit letztbegründete Aufklärung über Gott, den Menschen und die Welt geben können, und gemeint ist Kants Begrenzung des vernünftigen Wissens auf die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung, die zugleich die Möglichkeitsbedingungen der Gegenstände der Erfahrung sind. Mit dieser ‚Kritik der reinen Vernunft‘ sieht ­Nietzsche also bereits eine Erschütterung des „im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus.“ (GT III-1, 114)

Diese Erschütterung muss aber schließlich auch weiter reichende Folgen für das Leben der Menschen haben, da gerade jener Optimismus des Wissens „wiederum der Untergrund unserer Kultur ist.“ (GT III-1, 114) Gerade damit soll eine Kultur eingeleitet sein, „welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage: deren wichtigstes Merkmal

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ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesamtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht.“ (GT III-1, 114) Als ‚Weisheit‘ (im Unterschied zur Wissenschaft) bezeichnet ­Nietzsche hier eine Wissensform, die sich am ‚Gesamtbild‘ orientiert – also am Dionysischen zusammen mit dem Apollinischen, an den Individuen ebenso wie an der Individuierung, an den Gestalten ebenso wie an der Gestaltung (während für die Wissenschaft nur die Individuen und Gestalten in den Blick geraten).

Eine solche neue Darstellung der Individuierung als Prozess und Geschehen im Wandel wäre also in einem gewissen Sinne die neue Form einer ‚tragischen‘ Kultur, und ­Nietzsche sieht die Erschütterung der Sicherheit des Wissens der Wissenschaft in folgender Situation: „Nachdem … die sokratische Kultur von zwei Seiten aus erschüttert ist … , einmal aus Furcht vor ihren eigenen Konsequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauen überzeugt ist.“ (GT III-1, 115)

Man sollte nicht vergessen, dass ­Nietzsche sich hier an einer Diagnose seiner Gegenwart in Bezug auf das wissenschaftliche Weltbild versucht: wir schauen hier „auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umflutet,“ und gewahren „die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntnis in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen.“ (GT III-1, 97 –98) Es war für ­Nietzsche jedoch eine offene Frage, ob diesem Bedarf an Kunst in seiner Gegenwart genüge getan werden könne. Es stellte sich für ihn die Frage: „wird jenes ‚Umschlagen‘ zu immer neuen Konfigurationen des Genius und gerade des musiktreibenden ­Sokrates führen? Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden, oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt ‚die Gegenwart‘ nennt, in Fetzen zu reissen?“ (GT III-1, 98) Die Auseinandersetzung um den Geist seiner Gegenwart und Zukunft sah ­Nietzsche also zwischen „der unersättlichen optimistischen Erkenntnis“ – m. a. W.: der Wissensform der Wissenschaft – auf der einen Seite und „der tragischen Kunstbedürftigkeit“ auf der anderen Seite stattfinden (GT III-1, 98 –99).

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