Nietzsche leicht gemacht

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1.4 Die philosophische Bedeutung der Tragödie

Welche Bedeutung für Nietzsche die Tragödie (und zuvor die Musik) in diesem Zusammenhang hat, ergibt sich vor allem daraus, dass die Prinzipien des Apollo und des Dionysos alleine nicht bestehen können; sie sind fundamental defizitär, wie Nietzsche in der folgenden zusammenfassenden Formulierung verdeutlicht: das Apollinische und das Dionysische sind „künstlerische Mächte“,

„die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf direktem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, … andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht.“ (GT III-1, 26)

Nichtsdestoweniger gibt es doch charakteristische Kunstformen für diese künstlerischen Mächte, obwohl sie ohne die Präsenz des jeweils entgegengesetzten Prinzips nicht existieren könnten. Es sind dies die Plastik und das Epische auf der Seite ­Apollos, während der „dionysische Musiker“ und der „lyrische Genius“ Gestalten auf der dionysischen Seite der Kunst darstellen:

„Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichniswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Kausalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers.“ (GT III-1, 40)

Die Unterscheidung zwischen dem Epischen und dem Lyrischen bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bedeutung des Erzählten – der Geschichte – in der ersteren Form und auf das Entstehen aus der Musik, die für die Kunstform des Lyrischen charakteristisch ist: „Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich, und zwar immer wieder von Neuem.“ (GT III-1, 44 –45) Man könnte jedoch auch sagen, dass das Epische in erster Linie die Sprache zur Beschreibung von gestalteten und gebildeten Ereignissen außerhalb der Sprache einsetzt, während in der Lyrik der Ursprung die (Sprach-)Musik selbst ist und der Klang im Vordergrund steht, weshalb sie der Musik weit näher steht – üblicherweise werden Gedichte vertont, nicht aber Romane. Nietzsche beschreibt diesen Vorgang so:

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„Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte.“ (GT III-1, 45)

Wir könnten uns dieses Verhältnis von Poesie und Musik so denken: wenn Beethoven ein Musikstück als ‚Pastorale‘ bezeichnet, so wird natürlich nicht beansprucht, mit dieser Musik werde eine ländliche Szene beschrieben, sondern die Beschreibung einer ländlichen Szene wird als eine mögliche verbale Haltung gegenüber dieser Musik vorgeschlagen, die selbst natürlich keineswegs von beschreibendem Charakter ist.

Die hier gemeinte Musik beschreibt also nicht, sondern führt aus sich selbst heraus zu einer – poetischen – Sprache, weshalb „die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen“ betrachtet werden muss (GT III-1, 46). Der lyrische Künstler deutet also die Musik in Bildern (GT III-1, 47). Aufgrund ihrer Ursprünglichkeit ist es notwendig, der Musik „einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten“ zuzuerkennen (GT III-1, 99 –100). Nietzsche schrieb sogar, gerade dies sei die „wichtigste Erkenntnis aller Ästhetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Ästhetik erst beginnt.“ (GT III-1, 100) Deren Frage ließe sich aufgrund dieser Bedeutung der Musik deshalb auch so charakterisieren: „wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff?“ (GT III-1, 100) Offenbar handelt es sich hier um eine Übersetzung dessen in eine kunsttheoretische Frage, was Nietzsche auch als das Verhältnis von Dionysischem und Apollinischem beschreibt. Die Musik ist also nicht einfach irgendeine Kunst, sondern von besonderer Bedeutung, weil sie, obwohl selbst nicht sprachlich, doch eine Sprache aus sich entstehen lässt, die sich ursprünglich nicht aus einer Beziehung auf Zusammenhänge in der Welt rechtfertigt. Nietzsche spricht hier von der „Befähigung der Musik, den Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntnis in Gleichnissen redet“ (GT III-1, 103)

Aber auch innerhalb der Musik gab es nach Nietzsche in Griechenland eine entsprechende Unterscheidung zwischen einer apollinischen und einer dionysischen Form. Die apollinische Musik wird hörbar nur „in angedeuteten Tönen“ und als „Wellenschlag des Rhythmus“ – dies war nach Nietzsche vor allem die Musik der Kithara. Dagegen macht den Charakter der dionysischen Musik „die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleich­liche Welt der Harmonie“ aus (GT III-1, 29). Darüber hinaus ist diese Musik in erster Linie Tanz – „die

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volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.“ (GT III-1, 29 –30) Auch innerhalb der Musik erscheint also wieder die Unterscheidung zwischen dem Rauschhaften, Undifferenzierten, Unartikulierten auf der einen Seite und dem Besonnenen, Individuierten und Artikulierten auf der anderen Seite.

Nietzsches Verständnis der Lyrik geht also davon aus, „dass die Lyrik ebenso abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.“ (GT III-1, 47) Die Musik ist demnach von allen Künsten am fernsten der Individuierung und dem Gestaltbilden. Ist sie deshalb die ‚wirklichere Wirklichkeit‘ oder die ‚eigentliche Wahrheit‘, wie Nietzsches Formulierungen an manchen Stellen anzudeuten scheinen, wenn er etwa darauf hinweist, dass gerade die Musik sich symbolisch auf das „Ur-Eine“ und damit auf eine Sphäre „über aller Erscheinung und vor aller Erscheinung“ bezieht (GT III-1, 47)? Dies würde nur gelten, wenn wir diese Sphäre als die Wahrheit und die Erscheinung (den Bereich der ‚Bilder‘ als individuierter Gestalten) demgegenüber als ‚bloßen Schein‘ und Unwahrheit auffassen müssten.

Wir werden noch näher darauf eingehen, dass dies in Nietzsches Denken keineswegs der Fall ist; aber schon die Bedeutung der Tragödie zeigt, dass der apollinische Schein nicht das Negative ist, das einfach beseitigt werden müsste, damit das Wahre übrig bleibt, denn die Tragödie enthält bekanntlich nicht nur Musik und Lyrik, sondern auch eine zusammenhängende Geschichte, die Bedeutung für das Leben des Publikums beansprucht. Auf dieser Grundlage wird bei Nietzsche die Erscheinung und damit die empirische Welt als Ergebnis einer ordnenden, bildenden, gestaltenden und damit individuierenden – also apollinischen – Leistung auf der Basis des dionysischen Ursprungs in Musik und Lyrik aufgefasst. Die Musik wird dann verstanden als eine symbolische Darstellung des Zustandes, der dieser ordnenden Leistung vorausliegend angenommen werden muss, um überhaupt von einer solchen Leistung sprechen zu können, also als eine Darstellung im Sinne einer Repräsentation oder einer Referenz auf das, was im Reich der Ordnung, der Gestalten und damit der Individuierung anders nicht erscheinen kann.

Wichtiger als die isolierende Auffassung dieser beiden Prinzipien ist jedoch die Möglichkeit einer Vereinigung von Apollinischem und Dionysischem: „Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler ‚Nachahmer‘, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich – wie beispielsweise in der griechischen Tragödie – zugleich Rausch- und Traumkünstler.“ (GT III-1, 26) Damit sind wir offensichtlich bei dem Thema angelangt, das im Titel des Werkes ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ steht. Für Nietzsche war die Tragödie – und zwar speziell die griechische Tragödie und

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hier wiederum die Werke von Äschylus und Sophokles – deshalb so wichtig, weil er darin eine Vereinigung der beiden Prinzipien des Apollinischen und des Dionysischen sah, d. h. eine Vereinigung des Bildens, des Gestaltens und der Ordnung des Individuierten mit seiner Herkunft.

Wir müssen dazu nicht eine andere Welt des Ungeordneten, Ungestalteten oder ‚Ur-Einen‘ annehmen, welche in der Tragödie zur Sprache kommen könnte. Zur Sprache könnte diese Welt schon deshalb nicht kommen, weil die Sprache die Artikulation in Sätze und Wörter erfordert, also eben jenes individuierende Bilden und Gestalten, das gerade dem Apollinischen zugehört. Wir dürfen uns also das Dionysische nicht als eine Welt vorstellen, die es irgendwo ‚gibt‘ und die dann in die apollinische Welt eingeht, wie das flüssige Glas in der Fabrik in die Form von Champagnerflaschen gebracht wird. Solche Bilder sind für ein philosophisches Verständnis von Nietzsches Schriften in der Regel nur schädlich, obwohl sie auch von ihm selbst bisweilen nahegelegt zu werden scheinen.

Es ist weit angemessener, die Bedeutung der Tragödie für Nietzsche darin zu sehen, dass er in dieser Kunstform das Geschehen der Individuierung, des Gestaltens und Bildens selbst dargestellt und deshalb erscheinend sah. Das entscheidende Element dabei ist eine Besonderheit der griechischen Tragödie, nämlich die Bedeutung des Chores und damit des Lyrischen in der Einheit mit der Musik. Die Bedeutung der Tragödie liegt also vor allem darin, dass in ihr die Musik zu Sprache und Ausdruck wurde, so dass sie etwas zu sagen begann, allerdings nicht so, dass ein sprachlicher Inhalt eine musikalische Untermalung oder Illustration suchte, sondern in dem Sinne, dass die Musik darin aus sich selbst zur Sprache und zum Ausdruck wurde. Zentral für ­Nietzsches Auffassung ist also, „dass die Tragödie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama ins Herz zu sehen.“ (GT III-1, 48) Die griechische Tragödie ist also der dionysische Chor, aber nicht in einer isolierten dionysischen Welt, sondern in einer artikulierten Form, indem er „sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet.“ (GT III-1, 58)

 

Auch der Chor ist demnach keineswegs eine Darstellung oder Erscheinung des Dionysischen – das Dionysische kann nicht erscheinen, weil es nicht artikuliert und gestaltet sein kann ohne die apollinische Individuierung. Aber dieses Verhältnis ist im Chor der griechischen Tragödie dargestellt, während es – so Nietzsches daran anschließende Kritik – in späteren Kunstformen und vor allem in der Form des Wissens, das wir als Wissenschaft kennen, nicht mehr dargestellt werden kann. Damit, so wird die Kritik weiter lauten, handelt es sich um eine abstrakte Form des Wissens und zuvor schon der Kunst, in der das apollinische Ergebnis (die individuierte Gestalt) allein

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dargestellt werden kann, aber nicht mehr der Prozess, in dem und aus dem diese Gestalt entsteht. Nietzsches Theorie der Tragödie zeigt sich schon hier als Ansatz zu einer ‚grenzbestimmenden‘ Kritik einer bestimmten Form des Wissens, das seinen Ursprung zwar aus der Kunst nahm, aber schon innerhalb der Kunst eine Tendenz zu einem Verdecken dieses Ursprungs selbst enthält. Das Wissen der Wissenschaft und das Vorherrschen der apollinischen Seite in der Kunst hängen demnach eng zusammen.

Die Tragödie ist also keineswegs eine Darstellung des Dionysischen, Rauschhaften, ‚Ungebildeten‘ und Formlosen. Sie erscheint Nietzsche vielmehr als eine „apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen.“ (GT III-1, 58) Apollinisch ist in der Tragödie eigentlich nur der Dialog und davon abgeleitet die Handlung. Der Chor dagegen erzeugt die „Vision“ (GT III-1, 59) und stellt sie dar – während das Bild, das in dieser Vision entsteht, als individuierte Gestalt im Dialog erscheint. Erst damit wird die Vision deutlich, verständlich und schön. Entscheidend für die Bedeutung der Tragödie in Nietzsches Denken ist also nicht, dass in ihr Mythen bzw. mythologische Begebenheiten dargestellt werden, sondern dass durch die Musik und damit durch den Chor der Mythos mit einer neuen Bedeutung interpretiert wird (GT III-1, 69 –70). Die Interpretation geschieht jedoch nicht durch einen sprachlichen Vorgang, sondern nur durch die Musik, und gerade deshalb kann die Tragödie jenen Bezug zu der Darstellung des Gestaltens und Bildens selbst herstellen, welchen Nietzsche mit der „in einander gewobenen“ (GT III-1, 78) Dualität des Apollinischen und des Dionysischen beschreibt. Die Tragödie interpretiert also nicht, indem sie in die Sprache übersetzt, sondern indem sie das Sprachliche aus dem Geiste der Musik entstehen lässt.

Dass es gerade die Tragödie ist, in der eine solche Darstellung des dionysisch-­apollinischen Grundes der Artikulation in der Kunst entstehen musste, hat jedoch auch einen Grund, der sich auf den Inhalt bezieht. Allerdings weist Nietzsche darauf hin, dass dieser Inhalt in der griechischen Tragödie gerade nicht isoliert von der musikalischen Form verstanden werden kann. Das Tragische ist die Vernichtung des Individuums durch ein Geschehen, das jenseits des Individuums waltet, und das es selbst nur in Gang bringt, nicht aber verursacht. Das Tragische ist deshalb eine Manifestation des Prinzips der Musik im Inhalt der Tragödie:

„erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseits aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine

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Übersetzung der instinktiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird.“ (GT III-1, 104)

Der musikalische Grund der Tragödie setzt sich also durch die Vernichtung des Individuums in der Tragödie durch. Aber er könnte natürlich nicht erscheinen, würde die Tragödie nicht ebenso das Prinzip des Individuellen enthalten, das Nietzsche ‚apollinisch‘ nennt. Dass an dieser Stelle mit dem Thema des ‚Willens‘ wieder die Schopenhauersche Philosophie durchscheint, sollte angemerkt werden. Für das Verständnis der Nietzscheschen Theorie der Tragödie als Fundament, in dem wesentliche Züge seiner ganzen Philosophie zum Ausdruck kommen, ist dieser Anklang an eine ‚Willens­metaphysik‘ im Schopenhauerschen Sinn jedoch nicht wesentlich.

Nietzsche stellt der Tragödie in diesem Zusammenhang die Plastik als die eigentlich apollinische Kunst entgegen. Hier „überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung.“ (GT III-1, 104) Merkwürdigerweise spricht Nietzsche jedoch auch davon, dass auch die dionysische Kunst „uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen“ will – allerdings soll es sich dabei um eine Lust „hinter den Erscheinungen“ handeln. Wiederum sollte man beachten, dass etwas nicht schon deshalb ‚wahrer‘ oder ‚eigentlicher‘ ist, weil es sich ‚hinter den Erscheinungen‘ befindet. Es wird sich noch deutlicher zeigen, dass die Fluchtlinie von Nietzsches Denken auch dazu führt, eine solche allzu oft grundlos nahegelegte Wertunterscheidung zu kritisieren. Es ist auch nicht gemeint, dass damit eine Lust an der ‚wirklichen Wirklichkeit‘ oder an der ‚wahren Wahrheit‘ gefunden werden könnte. ‚Erscheinung‘ ist auch hier nicht als ‚Schein‘ zu verstehen, den man so schnell wie möglich abbauen müsste, um der wirklichen Sache näherzukommen. Gemeint ist vielmehr eine Perspektive auf das Individuierte, das Gebildete bzw. Gestaltete in der Abstraktion vom Individuieren, Bilden und Gestalten, so dass jenes in seinem nicht selbstverständlichen und nicht natürlichen Ursprung deutlich werden kann.

Dies wird allerdings etwas verdeckt, wenn Nietzsche etwa schreibt: „Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reißt uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus.“ (GT III-1, 105) Auch hier zeigt sich wiederum, wie wichtig es ist, sich von Nietzsches bisweilen etwas ‚romantischen‘ Formulierungen nicht dazu hinreißen zu lassen, seine Theorie über die Tragödie und die darin angelegte Philosophie der Wissensform der Wissenschaft und deren künstlerische

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Reflexion allzu sehr in einem existenziellen Sinne misszuverstehen. Dieser Aspekt ist zwar nicht vollständig verkehrt, weil er in Nietzsches Denken über die gestaltende und bildende Individuierung am Grunde des begrifflichen und dann wissenschaft­lichen Verstehen enthalten ist.

Ein solches Verstehen wird jedoch dann vollständig falsch, wenn es isoliert und verabsolutiert wird. Gemeint ist hier in erster Linie, dass alles, was entsteht, in einem Prozess des Individuierens und Gestaltens entsteht. Diesen Prozess hat es in sich, so dass es keine an sich geltende und im Sein selbst begründete Existenz besitzt. Deshalb hat es auch seinen ‚Untergang‘ in sich, d. h. es steht ihm ein Wandlungsprozess in eine andere individuierte Gestalt bevor – oder aber seine Auflösung in seinem individuellen Dasein. Das könnten wir vom einzelnen Menschen ebenso wie von sozialen Gebilden sagen; aber nach Nietzsche gilt dies natürlich auch für Begriffe, Erkenntnisse und Wissensformen, die in diesem Sinne ‚Individuen‘ und damit Ergebnisse von Gestaltungs- und Bildungsprozessen sind, weshalb auch sie ihren ‚Untergang‘ in sich tragen.

Der entscheidende Begriff in der oben zitierten Stelle ist deshalb eigentlich der von ‚Wandelgestalten‘, unter dem wir Menschen, soziale Gebilde, Begriffe, Wissenschaften und Wissensformen selbst subsumieren können. Wenn Nietzsche an derselben Stelle dann von einem ‚metaphysischen Trost‘ spricht, so ist nicht gemeint, wir hätten in der Auflösung aller festen Bestimmtheiten und Existenzen die tiefere – oder ‚höhere‘ – Wahrheit gefunden. Ihre Wahrheit hat auch die Auflösung von Individuen – auch von Begriffen und Erkenntnissen – nur zusammen mit ihrer Gestaltung und Bildung bzw. Neugestaltung und Neubildung. Der ‚metaphysische‘ Trost liegt dann eigentlich darin, dass eine Erkenntnis in der Regel durch eine neue Erkenntnis abgelöst wird und wir meistens einen neuen Begriff finden, wenn ein alter im ‚Fortschritt‘ des Denkens oder des Wissens seine Bedeutung verloren hat.

1.5 Richard Wagner und die Wiederkehr des Tragischen

In dieser frühen Phase seines Schaffens hatte Nietzsche allerdings die Frage nach der Möglichkeit einer neuen prinzipiell tragischen Kunst für sich schon beantwortet. Damit sind wir bei Richard Wagner und seiner Musik, der Nietzsche in der frühen Phase seines Denkens eine große – um nicht zu sagen: weltbewegende – Bedeutung für die Kultur und alles Denken zuschrieb. Diese Bedeutung entstand aus der Frage, „ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern.“ (GT III-1, 107) An dieser Stelle bleibt also offen, dass die Tragödie

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ein Revival in dem Sinne erleben könnte, dass sie nicht als eine beliebige Kunstform unter anderen auftritt, sondern in dem ausgezeichneten Sinne im Zusammenhang des Erscheinens des Dionysischen in der Artikulation und damit im Apollinischen, wie Nietzsche dies für die griechische Tragödie behauptete. Zumindest eine Zeit lang war Nietzsche der Ansicht, dies könne im ‚Musiktheater‘ Richard Wagners der Fall sein.

Wenn an dieser Stelle von Richard Wagner die Rede ist, so muss zunächst berücksichtigt werden, dass dieser nach Nietzsches Auffassung gerade kein Opernkomponist war, wie wir dies heute wohl zu verstehen geneigt sind. Als solcher hätte er für ­Nietzsche überhaupt keine Bedeutung gewinnen können, denn die sokratische Kultur – also die Kultur der Wissensform der Wissenschaft und des theoretischen Menschen – war für ihn auf musikalischem Gebiet gerade die „Kultur der Oper“ (GT III-1, 116). Das bedeutet vor allem, dass in einem solchen Musiktheater nun der Dialog im Vordergrund steht (wie etwa im Rezitativ) und nicht die Musik, die nur zur Untermalung der Handlung und der Dialoge dient. Dagegen steht allerdings schon die Rettung bereit, die ­Nietzsche in etwas nahen sieht, das er als „die deutsche Musik“ bezeichnet: „Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Kultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Kultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, die deutsche Musik, wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben.“ (GT III-1, 123)

Warum es allerdings gerade die deutsche Musik sein soll, die eine solche rettende Kraft aufbringen können soll, und nicht die absolute Musik überhaupt, ist schwer zu verstehen. Man muss in diesem Zusammenhang auch akzeptieren, dass ­Nietzsche hier gegen Ende des Buches über die ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ so manche Überlegungen beginnt, bei denen man an seine nationalsozialistische Vereinnahmung denken sollte und daran, dass sich bei entsprechender Suche in seinen Texten die geeigneten Zitate dafür finden lassen – möge ein harmloses Beispiel genügen: „Dabei lebt in uns die Empfindung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hilfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knechtschaft unter ihrer Form gezwungen hatten.“ (GT III-1, 124) Das könnte so verstanden werden, als wollte ­Nietzsche gerade dem deutschen ‚Wesen‘ die größere Nähe zum Tragischen zuschreiben, welche nur durch das Walten ‚fremder‘ Mächte an der Realisierung gehindert werde. Lassen wir diese Abwege im Denken ­Nietzsches

 

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also auf sich beruhen – der Leser wird in den Werken reichlich vergleichbare Stellen finden, sollte ihm der Sinn merkwürdigerweise danach stehen.

Beschränken wir uns auf Richard Wagner und sein ‚Musiktheater‘. Im Unterschied zu dem, was sonst unter die Gattungsbezeichnung ‚Oper‘ gestellt wird, sieht ­Nietzsche in dessen Musikdramen – und speziell in ‚Tristan und Isolde‘ – jenes Verhältnis von Sprache und Musik wieder auferstehen, das mit der ‚klassischen‘ Tragödie bei ­Äschylos und Sophokles untergegangen war, und zwar letztlich durch das Heraufziehen des sokratisch-platonischen Geistes. Wagner sei es gelungen, aufs neue jene „prästabilierte Harmonie“ herzustellen, „die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet.“ (GT III-1, 133) Im Unterschied zur absoluten Musik kommt hier jedoch die Sprache hinzu, die aber im Unterschied zur Oper in Wagners Musikdramen gerade nicht durch die Musik ‚erläutert‘ wird. Durch diese Eigenständigkeit der Musik nimmt das Musikdrama eine besondere Bedeutung an: „Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen.“ (GT III-1, 134) Was daran sichtbar werden kann, ist also diese Einsicht: „die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben.“ (GT III-1, 134)

Darin soll der „ästhetische Zuhörer“ wiedergeboren worden sein, der sich auf eine „ästhetische Tätigkeit“ versteht (GT III-1, 138 –139). Mit dieser Tätigkeit ist vor allem eine Rezeption gemeint, die die Musik und vor allem die Tragödie nicht von dem her versteht, was sie uns sagen will – in der also die Musik als Musik aufgefasst wird und nicht als Illustration, Untermalung oder emotionale Verstärkung dessen, was auf der Bühne geschieht bzw. was der Zuhörer gerade an Vorstellungen über die Welt, das Leben oder seine privaten Wünsche im Kopf hat. Es handelt sich also um eine Rezeption vom Geiste der Musik her, nicht vom Geist der Sprache von Aussagen her. ­Nietzsche stellt dazu die ironisch-rhetorische Frage: „Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten: er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter ‚Bildung‘ vorstellt.“ (GT III-1, 140) Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: ­Nietzsche setzt natürlich voraus, dass seine Leser mittlerweile seine Gedanken über Musik, Sprache und Denken so weit verstanden haben, dass sie diese Frage ganz selbstverständlich etwa mit ‚auf keinen Fall, so jemand kann doch keinen guten Geschmack haben‘ beantworten. Unser Autor vertritt hier eine sehr radikale Auffassung über das Kunstwerk und seine sprachliche Unzugänglichkeit, die betont, dass dasjenige, was gerade wertvoll an einem Kunstwerk ist, nicht zum sprachlichen Ausdruck kommen kann, der einer anderen Dimension

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angehört, die nicht den Regeln der logisch-sprachlichen Dimension entspricht, weshalb sie dann untergeht, wenn jemand sie in solche Regeln zu zwingen versucht.

Dass man sich über Beethoven nicht unterhalten kann, dürfte für die meisten Menschen noch einleuchtend sein – obwohl man natürlich eine Beethoven-Aufführung als Anlass für eine Konversation nehmen kann, auch wenn man darin nichts über die Musik selbst sagen wird im Sinne eines Gegenstandes, der in der Sprache beschrieben wird. Weniger selbstverständlich ist aber, dass ­Nietzsche an dieser Stelle auch Shakespeare anführt als einen Autor, der einen ‚ästhetischen Zuhörer‘ mit einer ‚ästhetischen Tätigkeit‘ verlangt. Gerade Shakespeares Werk hat die psychologischen und quasi-philosophischen Interpreten angezogen, die seine Stücke als Ausdruck entsprechender Inhalte gedeutet haben – also solcher Inhalte, die eigentlich auch in einer nicht literarischen Form zum Ausdruck hätten kommen können. Dass damit etwas nicht stimmen kann, weiß jeder, der jemals ein Shakespeare-Werk gelesen hat, ohne sich den Verstand vorher mit psychologistischen Interpretamenten verdorben zu haben. Der Grund dafür ist nach ­Nietzsche, dass diese Werke zumindest in einem gewissen Ausmaß etwas von der musikalischen bzw. lyrischen Qualität der griechischen Tragödie enthalten und entsprechend nur von ihrer immanenten Musikalität her gelesen und angemessen aufgefasst werden können. Dass es von schlechtem Geschmack zeugt, sich über Shakespeare unterhalten zu wollen, soll also sagen, dass eine Reduzierung dieses Werkes auf psychologistische oder quasi-philosophische Themen und Aussagen nicht den innersten bzw. genuinen Gehalt erreicht, der nur für den ‚ästhetischen Zuhörer‘ zugänglich wird, genau so wie dies bei Beethovens Musik der Fall ist.

Das Thema Richard Wagner nimmt in ­Nietzsches Werken einen relativ großen Raum ein. Dessen philosophische Bedeutung entspricht diesen Relationen jedoch nicht. Deshalb soll schon an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass ­Nietzsches Auffassung sich später fundamental gewandelt hat, bis Wagner ihm als ein Komponist unter anderen erschien, dem gegenüber Bizet und dessen ‚Carmen‘ stets vorzuziehen sei, von dem ­Nietzsche dann sagte: „Diese Musik scheint mir vollkommen. Sie kommt leicht, biegsam, mit Höflichkeit daher. Sie ist liebenswürdig, sie schwitzt nicht. ‚Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füssen‘: erster Satz meiner Aesthetik. Diese Musik ist böse, raffiniert, fatalistisch: sie bleibt dabei populär – sie hat das Raffinement einer Rasse, nicht eines Einzelnen. Sie ist reich. Sie ist präzis.“ (FW VI-3, 7) Über Wagner hieß es dann in dem für ­Nietzsches spätere Werke typischen Tonfall: „Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht Alles krank, woran er rührt, – er hat die Musik krank gemacht“ (FW VI-3, 15).

Das Bemerkenswerte an dieser Veränderung des Urteils liegt vor allem darin, dass ­Nietzsche an Wagners Musik nun eben das kritisiert, dessen Abwesenheit zuvor gerade

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der Grund für sein überschwängliches Lob war. Wagners Musikdrama sollte die Wieder­geburt der Tragödie einleiten und damit eine Art von kultureller Revolution mit Auswirkung auf unsere Auffassung von Wissen und Wissenschaft darstellen können, weil sie den ‚Geist der Musik‘ nicht für eine Illustrierung des logisch-sprachlich Ausdrückbaren aufzugeben bereit war. Der spätere Vorwurf lautete jedoch, gerade bei Wagner finde man dieses Aufgeben in einem extremen Ausmaß: „Wagner war nicht Musiker von Instinkt. Dies bewies er damit, dass er alle Gesetzlichkeit und, bestimmter geredet, allen Stil in der Musik preisgab, um aus ihr zu machen, was er nötig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, der Gebärden-Verstärkung, der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken … Immer vorausgesetzt, dass man zuerst gelten lässt, Musik dürfe unter Umständen nicht Musik, sondern Sprache, sondern Werkzeug, sondern ancilla dramaturgica sein.“ (FW VI-3, 24) Die Kritik lautete also, gerade Wagner habe die Musik verraten, indem er von ihr forderte, etwas zu bedeuten: „Tatsächlich hat er sein ganzes Leben Einen Satz wiederholt: dass seine Musik nicht nur Musik bedeute! Sondern mehr! Sondern unendlich viel mehr!… ‚Nicht nur Musik‘ – so redet kein Musiker.“ (FW VI-3, 29)