Habermas leicht gemacht

Text
Aus der Reihe: Leicht gemacht
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2.2.2 Handlungen, Ursachen und Gründe

Wir können die Besonderheit des Handelns unter einer philosophischen Perspektive auf andere Weise noch im Ausgang von der neuzeitlichen Philosophie beginnend mit Hobbes erkennen. Hier geht es grundsätzlich nicht im engeren Sinne um ein moralisches Handeln, mit dem der Mensch sich als wollendes, vernünftig überlegendes und in der polis lebendes Wesen zum Ausdruck bringt. Zunächst erscheint Handeln hier als eine Veränderung in der Welt der Dinge, die sich grundsätzlich wie alles übrige Geschehen [<<54] nach Ursache und Wirkung vollzieht. Lediglich der Ursprung einer solchen Veränderung ist im Falle des Handelns radikal von der Welt der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge verschieden, denn er muss in einem Willensakt gesucht werden. Offenbar hält sich die aristotelische Auffassung vom Handeln bis zu einem gewissen Grade auch noch bis in diese radikal veränderte Gedankenwelt durch. Die Frage nach dem Handeln verlagert sich aber nun in die Frage nach dem Willen und seiner Fähigkeit, als Ursache in der Welt auftreten zu können, so dass er Wirkungen in der Außenwelt hervorrufen kann.

Dieses Problem setzt sich bis in die gegenwärtigen Debatten fort, die im Zusammenhang mit den Fortschritten der Gehirnforschung um Freiheit und neuronale Verursachung geführt werden. Man könnte sogar sagen, das zentrale Problem der ursprünglich in der angelsächsischen analytischen Philosophie ausgearbeiteten ‚Philosophie des Geistes‘ besteht in der Frage nach der ‚mentalen Verursachung‘. Es ist die Frage, ob und wie es zu verstehen ist, dass das Mentale (Geistige, Bewusste) zur Ursache in der physischen Welt werden kann, wenn doch das Denken des Physikalismus der physischen Welt einen durchgehenden Determinismus zuschreibt, so dass nur eine physikalisch beschreibbare Ursache eine Wirkung hervorrufen kann. Ist das Mentale aber eine solche Ursache, dann unterscheidet es sich gerade nicht von der physikalisch beschreibbaren Welt und ihrer Determiniertheit. Kann das Mentale aber auf diese Weise nicht zur Ursache werden, dann ist die Annahme seiner Existenz überflüssig – es macht für unsere Weltauffassung keinen Unterschied, wenn wir vom ‚Geist‘ als einem folgen- und bedeutungslosen Phänomen in der Welt sprechen.

Man könnte diese Frage im Zusammenhang unserer Thematik des Handelns auch so strukturieren: Entweder können wir handeln, d. h. durch Willensakte zu Ursachen in der Welt werden und damit auf die Welt wirken, oder wir können uns nur als Teil der physikalischen Welt verstehen und müssen unseren Zusammenhang mit der Welt und unser Leben in der Welt als Teil des auf dem gegenwärtigen Stande des Denkens nur mit den Mitteln der Physik angemessen zu beschreibenden Zusammenhangs von Ursachen und Wirkungen auffassen.

Auch wenn das Handeln in der Philosophie nach Aristoteles also von ethischen Determinanten gelöst wurde, so blieb es doch weiter ein Thema, das das Besondere des Menschen zum Ausdruck bringen sollte, obwohl es nur als Wirken in der Welt auf der Grundlage von Willensakten verstanden wurde. Einem bloßen Verhalten schreiben wir eine Verursachung im Willen offenbar nicht zu. Nur das Handeln ist nach dieser Vorstellung also das Ereignis in der Welt, in dem der menschliche Wille sich in das Verändern der Welt übersetzt.

In der Folge der aristotelischen Ansätze entstand deshalb schließlich eine Auffassung von Handlungen, in denen diese Theorie mithilfe dualistischer Auffassungen [<<55] des Geistes ausgeformt wurde. ‚Dualistisch‘ heißt hier, dass Geist und Materie als zwei Entitäten in der Welt aufgefasst werden, wohingegen eine ‚monistische‘ Auffassung dann vertreten wird, wenn mentale bzw. geistige Phänomene so auf materielle Prozesse zurückgeführt werden, dass sie nur noch Begleiterscheinungen der Letzteren darstellen, oder – was prinzipiell auch möglich wäre, obwohl es in der neueren Philosophie keine Bedeutung mehr besitzt –, wenn materielle Phänomene so von geistigen Prozessen abgeleitet werden können, dass ihnen keine eigenständige Wirklichkeit mehr zukommt. Ein mentaler Akt, wie etwa ein Willensakt, führt nach der dualistischen Auffassung dazu, dass ein materielles Ereignis stattfindet – wie etwa die Bewegung eines Armes, einer Hand und eines Fingers, der sich um den Abzug einer Pistole krümmt –, wodurch eine bestimmte Veränderung in der materiellen Welt ausgelöst wird. Durch den Willensakt werden also desire und belief in eine Handlung transformiert.

Wir könnten nun versuchen, von Handeln nur dann zu sprechen, wenn ein Mensch für sein Verhalten Gründe angeben kann. Dabei müssen wir aber die Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen beachten. Gibt jemand Ursachen für sein Verhalten an, so sagt er geradezu, er habe nicht gehandelt, obwohl es möglich ist, dass er einen Teil seines Verhaltens als frei und einen anderen Teil als verursacht auffasst, so dass er es teilweise als bloßes Verhalten und teilweise als Handlung zu verstehen sucht. Etwa könnte er ausführen, seine natürlichen Neigungen (= Ursachen) würden ihn zu Aggressionen führen, die er aber durch seine Willensanstrengung kontrolliert, so dass seine tatsächliche Handlung auf Gründen beruht, die jene Aggressivität nicht zum Ausbruch haben kommen lassen.

Von einem Grund im Unterschied zu einer Ursache wird in der philosophischen Tradition seit David Hume dann gesprochen, wenn sich ein Begehren (desire) mit einem Wissen bzw. einer Meinung (belief) des Handelnden verbindet. Die Meinung bzw. das Wissen ist deshalb wichtig, weil wir ohne Kenntnis der Zusammenhänge zwischen einem Verhalten und der Möglichkeit, durch dieses Verhalten ein Ziel zu erreichen, überhaupt nicht handeln würden. Die Basis für diesen Gedanken fand sich schon bei Aristoteles: Wir handeln mit Vorsatz, also willentlich, um ein Ziel zu erreichen. So weit scheint sich eine Handlung allerdings noch nicht von einem Verhalten zu unterscheiden. Das allerdings ist nicht ganz richtig, denn gemeint ist hier eine bewusste Einsicht in einen Mittel-Ziel-Zusammenhang. Dabei kommt es allerdings nicht darauf an, dass es sich wirklich so verhält, wie derjenige annimmt, der unterwegs zu einer Handlung ist, weshalb Hume eben von belief sprach und nicht von einem Wissen. Darin verbirgt sich ein Haltung, in der wir ein Bewusstsein von einem solchen Zusammenhang besitzen. [<<56]

Wir neigen zu der Annahme, dass Tiere nicht über eine solche ‚Meinung‘ verfügen, d. h. sich nicht so von sich selbst und von der Welt distanzieren können, dass sie ein Bewusstsein über den Zusammenhang zwischen Mitteln und Zielen besitzen. Wenn die Katze an der Schranktüre kratzt und wir das so auffassen, dass sie ihren ‚Dosenöffner‘ dazu bewegen will, ihr die Katzenkekse zu offerieren, so nehmen wir doch nicht an, dass sie sich diesen motivationalen (das Kratzen motiviert den ‚Dosenöffner‘) oder kausalen (das Kratzen hat als Wirkung das Öffnen der Türe, weil ihr Mensch nicht anders kann, als das Geräusch zu beseitigen) Zusammenhang bewusst gemacht hat. Insofern können wir nicht sagen, sie habe eine ‚Meinung‘ oder ein ‚Wissen‘ eingesetzt. Wir pflegen in solchen Fällen von einem gelernten Verhalten zu sprechen, d. h., das Tier hat durch Lernen das Kratzen an der Türe mit dem Erhalten von Leckereien verbunden und verhält sich nun gemäß dieser Konditionierung; es handelt sich also letztlich um etwas, das wir als ‚Reflex‘ bezeichnen. Wir sollten wiederum beachten, dass wir uns so nicht ausdrücken müssen, aber es handelt sich doch um die vorherrschende und übliche Verstehensweise bei Menschen, die keine Katzen anbeten.

Ein solches Wissen bzw. eine solche Meinung setzen wir jedoch nicht ein ohne ein Begehren (desire). Das ist ein nicht unproblematischer Begriff, weil er schon bei David Hume sehr Vieles umfasste. Es wurde vorgeschlagen, an seine Stelle den Ausdruck ‚Wunsch‘ zu setzen, der aber nur neue Probleme aufwirft, weil er in der deutschen Sprache zu eng ist. Deshalb wurde diskutiert, den künstlichen Ausdruck ‚Pro-Einstellung‘ zu gebrauchen, was nur leider den Nachteil hat, dass darin nicht notwendig das Streben enthalten ist, das zur Auffassung von Handlungen nach dem Muster von belief und desire gehört. Vielleicht wäre ‚das Angestrebte‘ ein besserer Ausdruck. Wie auch immer, entscheidend ist dabei, dass es sich nicht einfach um die Präsenz von etwas ‚Attrahierendem‘ im Denken oder Vorstellen handelt, sondern dass dieses mit einer Einstellung des Handelnden verbunden ist, die dieser zu Handlungen einer bestimmten Art einnimmt. Das ist die Auffassung von Donald Davidson, der Humes Ansatz in der Gegenwart am konsequentesten fortgeführt hat.

Wiederum ist der Unterschied zum Verhalten eines Tieres deutlich zu sehen. Der an der Türe des Katzenkekse-Schrankes kratzenden Katze können wir sicherlich so etwas wie ein ‚Begehren‘ im Sinne eines ‚Triebes‘ nach dem Bezug von solchen Leckereien zuschreiben. Wir würden aber kaum sagen, dass sie einen Begriff von Handlungen einer bestimmten Art hat (wie Katzenkekse-Essen) und dass sie eine Einstellung zu einer solchen Art von Handlungen hat, wofür man offenbar jenen Begriff voraussetzen müsste. Menschen dagegen können von einzelnen Handlungen absehen und zu Vorstellungen von Arten von Handlungen gelangen, weil sie verschiedenes Verhalten unter einen gemeinsamen Begriff bringen können. Die Einstellung dazu beschränkt [<<57] sich dann nicht auf das individuelle Verhalten, sondern bezieht sich zumindest rudimentär auf etwas Allgemeines, zu dem Stellung genommen wird.

Auch nach Davidson kann der Zusammenhang von Begehren und Meinung demnach als der ‚primäre Grund‘ für die Ausführung einer Handlung bezeichnet werden, welcher von einer Ursache in der physikalischen Welt vor allem durch die Einstellungen des Handelnden zum Begehren und durch seine Haltung zu seiner Meinung unterschieden ist. Davidson geht von der Frage nach der Erklärbarkeit einer Handlung aus. Wir erklären eine Handlung, indem wir die Gründe auffinden und nennen, die für den Handelnden ausschlaggebend waren. Auch hier finden wir wieder den Bezug des Handelnden auf sich selbst, den eine Handlungserklärung berücksichtigen muss. Würde sie nur die Ursachen des Ereignisses erklären, das der Akteur in der Welt hervorgerufen hat, so wäre sie eine Kausalerklärung mithilfe von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, d. h., sie könnte auf einen Bezug auf den Selbstbezug des Akteurs verzichten.

 

In diesem Falle allerdings würde sie ihn nicht als Akteur in dem Sinne auffassen, wie er seit dem Beginn des Denkens über Handlungen bei Aristoteles entwickelt wurde. Es würde sich um eine Erklärung in dem Sinne handeln, wie wir das Phänomen der Gezeiten durch die Gravitationswirkung des Mondes erklären, wo wir nicht auf die Idee kommen, dem Meer Gründe zu unterstellen, die es motivieren, so zu ‚handeln‘, ebenso wenig wie wir den Mond in diesem Zusammenhang als Akteur auffassen würden.

Ein Erklären durch Gründe können wir auch auffassen als ein ‚rationalisieren‘, d. h., wir erklären, indem wir angeben, dass und inwiefern ein bestimmtes Handeln aus der Perspektive des Handelnden rational war. Es geht also nicht darum, dass es aus unserer Perspektive oder aus der Sicht einer übergeordneten Instanz, die ein überlegenes Wissen über Rationalität besitzt, rational war, sondern es geht um die Rationalität einer Handlung aus der Perspektive des Akteurs. Wir dürfen an diese Rationalität allerdings keine sehr hohen Ansprüche stellen, d. h., wir werden nicht fordern, dass der Handelnde seine Gründe vor der letzten Instanz der reinen Vernunft rechtfertigen könne. Im Grunde heißt ‚rational‘ hier nur, dass jemand mit Gründen gehandelt hat, die aus einer anderen Perspektive gut oder schlecht genannt werden können. Gründe in diesem Sinne können auch Wünsche, Leidenschaften, Befehle oder das Bewusstsein von einer moralischen Verpflichtung sein.

Davidson kommt in seiner Theorie des Handelns schließlich zu dem Versuch, Gründe als Ursachen aufzufassen, was durchaus an Aristoteles angeschlossen werden kann. In der Handlungstheorie vor Davidson war dies jedoch anders gesehen worden, weil man der Auffassung war, dass zwischen Grund und Handlung auf logisch-begrifflicher Grundlage eine so enge Beziehung besteht, dass man Gründe und Handlungen [<<58] nicht als zwei unterschiedene Ereignisse auffassen könne, weshalb man auch keine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen beiden annehmen dürfe. Allerdings geht Davidson nicht so weit, Handlungen auf der Grundlage allgemeiner Gesetze – wie in der Form deterministischer Naturgesetze – erklären zu wollen, was seine Theorie in die Schwierigkeit bringt, von Kausalität ohne Gesetzesform sprechen und schließlich eine Theorie vom ‚anomalen‘ Charakter des Mentalen heranziehen zu müssen (a-nomal bedeutet hier nicht-gesetzesförmig). Wir müssen an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen.

Wichtig ist jedoch, dass bis in unsere Gegenwart – Donald Davidson einschließend – Handlungen nicht als etwas angesehen wurden, das ohne Bezugnahme auf die Gründe des Handelnden selbst erklärt werden könne. Auch wenn Davidson die Gründe schließlich als Ursachen zu verstehen sucht, so nimmt er doch nicht an, dass eine entsprechende Handlungserklärung ‚von außen‘ gelingen könne, also nur aus der Perspektive des Erklärenden. Die Perspektive des Handelnden ist offenbar stets dann unverzichtbar, wenn es darum geht, Handlungen als solche zu erklären und sie nicht als ein Verhalten aufzufassen, das in der Welt so geschieht, wie ein Massenpunkt sich auf einen anderen Massenpunkt zubewegt, wie wir dies durch die Gravitationstheorie erklären können.

Aus der Struktur von belief und desire ergibt sich, dass von einer Handlung nur dann zu sprechen ist, wenn der Handelnde über ein gewisses Maß von Wissen verfügt. Dieses Wissen kann für uns, die sein Handeln beobachten und erklären, als falsch gelten und insofern kein Wissen darstellen, aber für den Handelnden selbst gilt doch, dass er es als ‚wahr‘ auffassen muss, zumindest in dem schwachen Sinne, dass es ‚belastbar‘ ist, um seine Handlung, mit der er sein desire verwirklichen bzw. erfüllen will, gerade so und nicht anders auszuführen. Ein solches Wissen kann u. U. Naturgesetze umfassen, die für die Erfüllung des aktuellen Strebens (desire) wichtig sind, es kann aber auch ein Erfahrungswissen darstellen auf der Basis der in der Vergangenheit erlebten Erfolge oder Misserfolge mit Handlungsversuchen. In der Regel ist das Handeln mit einem prognostischen Wissen verbunden, d. h., der Handelnde muss die Folgen abschätzen können und darüber hinaus auch die nicht beabsichtigten Nebenwirkungen, um zu einer ‚rationalen‘ Entscheidung über die Wahl seines Handelns gelangen zu können. In vielen Fällen kann es darüber hinaus notwendig sein, ein soziales Wissen einzuschließen, um die Erfolgswahrscheinlichkeit von Handlungen einschätzen zu können, deren Erfolg von anderen Menschen oder von der Orientierung an sozialen Regeln und/oder Gesetzen abhängig ist.

Die Theorie des Handelns und seiner Auszeichnungen begann bei Aristoteles damit, dass Handeln von Verhalten und von Ereignissen in der Welt dadurch unterschieden wurde, dass bei Ersterem das ‚bewegende Prinzip‘ (arche) – der Grund – im [<<59] Akteur selbst gesucht werden muss, weil eine Handlung nur dadurch zu verstehen ist, dass der Akteur selbst sich der besonderen Umstände seiner Handlung bewusst sein kann – nicht aber der äußere Beobachter des Ereignisses, in dem sich die Handlung in der Welt aus der Perspektive der anderen Menschen zeigt. Das Begehren und die Glaubensüberzeugungen des zum Handeln fähigen Wesens führen zu seiner Wahl bzw. Entscheidung, und diese Wahl/Entscheidung ist die Wirkursache der Handlung.

Von dieser Auffassung führte ein langer Weg bis zu der Auszeichnung des Handelns gemäß der Max Weber’schen Bestimmung von Handeln durch das Erleben von subjektivem Sinn, die einen aristotelischen Kern bewahrte, obwohl sie doch in soziologischer Absicht entstand und beide Auffassungen keineswegs identifiziert werden sollten.

2.2.3 Handlungsverstehen und Gründeverstehen

Für die Sozialwissenschaften als Wissenschaften von Handlungen bzw. vom sozialen Handeln gilt nach Habermas, dass sie Handlungen nur dann als solche beschreiben können, wenn sie sich mit den Gründen beschäftigen, die der Handelnde mit seinen Handlungen verbindet. Eine Handlung wird aber dann nicht als mit Gründen versehen und aufgrund von Gründen vollbracht bezeichnet, wenn nur die Äußerungen des Handelnden beschrieben werden. Damit ist er in diesem Denkzusammenhang nicht als Handelnder aufgefasst. Vielmehr besteht nach Habermas

„ein fundamentaler Zusammenhang zwischen dem Verständnis kommunikativer Handlungen und im Ansatz rationalen Deutungen. Fundamental ist dieser Zusammenhang, weil sich kommunikative Handlungen nicht zweistufig deuten, zunächst in ihrem faktischen Ablauf verstehen und dann erst mit einem idealtypischen Ablaufmodell vergleichen lassen.“ (TkH1 170)

Einer solchen Auffassung setzt Habermas entgegen, dass der Sozialwissenschaftler Handlungen nur angemessen verstehen kann, wenn er einen Hintergrundkonsens, eine gemeinsame Verstehensbasis und damit eine gemeinsame rationale Basis mit den Handelnden besitzt.

Auch ein „virtuell, ohne eigene Handlungsabsichten teilnehmender Interpret kann … den Sinn eines faktisch ablaufenden Verständigungsprozesses nur unter der Voraussetzung deskriptiv erfassen, dass er das Einverständnis und den Dissens, die Geltungsansprüche und die potentiellen Gründe, denen er konfrontiert ist, auf einer gemeinsamen, von ihm und den unmittelbar Beteiligten prinzipiell geteilten Grundlage beurteilt.“ (TkH1 170f.) Insofern tritt er als Sozialwissenschaftler stets in eine Auseinandersetzung mit dem Handelnden und dessen Gründegeben ein. Anders gesagt: [<<60] Habermas’ Behauptung lautet hier, dass man Gründe nicht beschreiben kann wie in der Welt vorkommende Gegenstände. Versuchte man dies, so würde man etwa physikalisch beschreibbare Laute wiedergeben, d. h., man würde den Begründenden zitieren, was aber nicht bedeutet, seine Gründe als Gründe zu verstehen. Dagegen setzt Habermas:

„Die Beschreibung von Gründen verlangt eo ipso eine Bewertung auch dann, wenn sich der, der die Beschreibung gibt, außerstande sieht, im Augenblick ihre Stichhaltigkeit zu beurteilen. Man kann Gründe nur in dem Maße verstehen, wie man versteht, warum sie stichhaltig oder nicht stichhaltig sind.“ (TkH1 169f.)

An einer Stelle gibt Habermas ein Beispiel für die gerade ausgeführte Notwendigkeit des Sinnverstehens und der rationalen Nachkonstruktion für das Verstehen von Handlungen. Das Beispiel bezieht sich auf eine gesuchte Erklärung für ein zunächst in seiner Motivation unbekanntes Lachen aus dem Publikum, das ein Redner wahrnimmt. Die Frage lautet also nun: Wie kann der Redner diese Handlung des Lachens wirklich verstehen? Habermas’ Antwort lautet wie folgt: „Der Interpret weiß auch im letzten, dem zunächst am wenigsten plausiblen Fall nicht, wie er die Publikumsreaktion verstehen soll, solange er sich aufgrund der verfügbaren Evidenzen nicht entscheiden kann, ob einige Zuhörer eine unbeabsichtigte Pointe in den Äußerungen des Redners entdeckt, ob sie den Redner missverstanden oder ob sie ihn ausgelacht haben – und wenn sie über eine unbeabsichtigte Pointe gelacht haben, ob es wirklich eine Pointe war oder warum diese ihnen nur als eine solche erscheinen musste. Er muss die Gründe verstehen, die dafür angeführt werden können, dass diese Reaktion als ein wirkliches Lachen zählt, in diesem Sinne eine ‚gültige‘ Äußerung ist.“ (Entgegnung 348) An dieser Stelle behauptet Habermas also, dass jenes Lachen, das der Redner aus dem Publikum vernimmt, ihm nur verständlich wird, wenn er Gründe für dieses Lachen erkennen kann, die er nachvollziehen kann, auch wenn er sie keineswegs billigt.

Um solche Gründe erkennen zu können, muss er jedoch deren Rationalität nachkonstruieren können, damit er die Gründe überhaupt als solche erkennen kann. Solange er also nur ein Lachen vernimmt, hat er es in seinem Charakter als ein soziales Handeln nicht verstanden. Will er aber verstehen, ob es sich etwa um ein Auslachen handelt, so genügt es nicht, auf die Umstände Bezug zu nehmen, wie etwa durch Vermutungen über die Art des Lachens, über die Begleitumstände gestischer oder mimischer Art. Er kann dies vielmehr nur herausfinden, wenn er nachzukonstruieren versucht, ob und welche Gründe die Zuhörer veranlasst haben, zum Auslachen zu kommen. Das bedeutet, um es nochmals zu betonen, nicht, dass er diese Gründe billigen muss. Er muss sie aber in [<<61] ihrer Rationalität zumindest nachverstehen können. Er muss nicht der Meinung sein, die Zuhörer hätten ihn mit gutem Grund ausgelacht, aber er muss nachkonstruieren können, dass die Zuhörer für sich gute Gründe gehabt haben, auch wenn er mit diesen Gründen keineswegs einverstanden ist. Nur wenn ihm dies gelingt, kann er das Lachen als eine kommunikative Handlung vollständig verstehen. Habermas drückt dies auch so aus, dass der erwähnte Redner dann „die Rolle des virtuellen Teilnehmers“ spielen muss. In Bezug auf das Lachen des Publikums muss er also,

„um kommunikative Erfahrungen zu machen, eine performative Einstellung einnehmen und am originalen Verständigungsvorgang, wie immer auch nur virtuell, teilnehmen.“ (TkH1 168)

Wir haben nun den Begriff des Handelns (a) mit Bezug auf Max Weber und seine Betonung der Sinnhaftigkeit von Handlungen und (b) im Ausgang von der aristotelischen Perspektive auf die praxis und (c) schließlich auf der Grundlage der an David Hume anschließenden postanalytischen Handlungsphilosophie insbesondere von Donald Davidson eingeführt. Schließlich sind wir auf dieser Grundlage an den Punkt gelangt, wo Habermas’ Denken vom Begriff des Handelns (und damit von der Soziologie) zu einer Grundlegung der Ethik (und damit zur praktischen Philosophie) fortschreiten muss. Offenbar folgt Habermas den Grundlinien der ‚klassischen‘ Handlungstheorie so weit, dass er das Phänomen des Handelns verschwinden sieht, wenn es nicht mithilfe solcher Ansätze untersucht wird, die sich von der ‚intentio recta‘ der – vor allem – Naturwissenschaften grundlegend unterscheiden. Von Handeln können wir nur sprechen, wenn wir bereit sind, praktische Fragen zu diskutieren und Gründe des Handelnden nachzuvollziehen. Damit sind wir bereits auf dem Weg vom Begriff des Handelns zu Habermas’ Diskursethik.

 

Im Habermas’schen Denkzusammenhang rechtfertigt sich der Begriff des Handelns letztlich durch die Diskursethik, und die Diskursethik wird begründet aus ihrem Status als Bedingung alles Sprechens. Damit wird der Begriff von Handeln im Sinne von praxis also gerechtfertigt aus den Bedingungen von gelingender Verständigung – von Kommunikation. Der Begriff des kommunikativen Handelns rechtfertigt sich also daraus, dass ein solches Handeln die menschliche Sprache möglich macht, die es uns durch die ihr innewohnende Rationalität ermöglicht, überhaupt zu handeln.

Dagegen könnte vonseiten einer naturalistischen Position ein Einwand gegen jede ‚Ethisierung‘ des Handelns vorgebracht werden. Dass eine Handlung sich von einem Verhalten unterscheidet und dass diese Unterscheidung etwas mit Ethik und damit der Frage nach der moralischen Richtigkeit des Tuns zu tun hat, könnte zwar auch [<<62] von einem Vertreter einer rein wissenschaftlichen – oder besser: naturwissenschaftlichen – Auffassung des Handelns zugestanden werden. Allerdings müsste diese Position dann, wenn sie die prinzipiell praktische und damit an der moralischen Richtigkeit ausgerichtete Orientierung von Handlungen zugesteht, die Ethik selbst als etwas auffassen, was ‚in der Natur‘ vorkommt, d. h. als etwas, das zwar Orientierung im Handeln gibt, aber selbst mithilfe von Naturursachen erklärt werden kann. Dann wäre die ‚Ordnung der Natur‘ im Sinne der deterministischen Naturwissenschaft wiederhergestellt.

Dies könnte nur dann gelingen, wenn wir einen eigenen Wahrheitsanspruch für das, was wir als ethisch richtig bezeichnen, aufzugeben bereit sind. Was in diesem Sinne als richtig gilt, ist dann Teil des Ereignisses, als das wir die Handlung ansehen können, die nur durch ein spezielles Ereignis unter dem Titel ‚Sinn‘ oder ‚praktische Richtigkeit‘ näher charakterisiert wird. Nur dann könnte das Handeln von seinem Bezug auf die praktische Philosophie gelöst und als Teil der natürlichen Welt aufgefasst werden, wie wir sie mit den Mitteln der beobachtenden und speziell experimentierenden Naturwissenschaft in theoretischen Zusammenhängen beschreiben können.

Jene ‚Naturalisierung‘ des Handelns kann aber nur unter der Bedingung gelingen, dass die innere Praxis-Orientierung des Handelns nicht durch eine Ethik beschrieben werden muss, die ihren Anspruch auf Wahrheit aufrechterhält. Genau dieser Wahrheitsanspruch der Ethik ist aber das zentrale Thema von Habermas’ praktischer Philosophie im engeren Sinne. Die Bestimmung des Handlungsbegriffes unter praktischen Vorzeichen führt bei Habermas also weiter in die Theorie der Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen. Sein Anspruch lautet gegen die bei Kant beginnende Tradition der Ethik mit ihrer nur ‚kritischen‘ – also die Vernunftansprüche der Ethik abgrenzenden und eingrenzenden – Stoßrichtung, es könne gelingen, ethische Richtigkeit so zu begründen, dass weder ein vorkantischer Dogmatismus noch eine hegelsche Reduktion der Ethik auf die geschichtlich gewordene Sittlichkeit, noch eine Ethik durch Analyse der herrschenden Sprachspiele und kulturellen Bestände erreicht wird.

Dagegen setzt Habermas den Anspruch, den Begriff des Handelns letztlich durch eine ethische Begründungsform ausweisen zu können, die universell insofern ist, als sie einen Anspruch auf Gültigkeit für jedermann erheben kann, und die individualistisch insofern ist, als sie diesen Anspruch jedem Einzelnen demonstrieren kann, ohne ihn im gleichen Atemzug seiner Individualität zu berauben und ihn als Fall einer Klasse von Menschen aufzufassen. Wir sind damit schon fast beim Zusammenhang von Handeln und Wahrheit im und durch Diskurs angelangt. Bevor wir uns diesem Thema aber näher widmen, müssen wir Habermas’ Auffassung von der Besonderheit des Handelns noch näher aufklären. Dabei muss es um das Handeln gehen, das im Zentrum seines Denkens und im Titel seines ‚Hauptwerkes‘ steht: das kommunikative Handeln. [<<63]

2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 1, Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 23, Tübingen 2013, S. 149.

3 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 23, Tübingen 2013, S. 163.

4 „The most fundamental theorem of the theory of action seems to me to be that the structure of systems of action consists in institutionalized (in social and cultural systems) and/or internalized (in personalities and organisms) patterns of cultural meaning.“ Talcott Parsons, The Point of View of the Author, in: Black, Max, ed., The Social Theories of Talcott Parsons. A Critical Examination, Englewood Cliffs 1961, p. 311–363, p. 342.

5 Alfred Schütz, Parsons’ Theorie sozialen Handelns, in: Alfred Schütz, Talcott Parsons. Zur Theorie sozialen Handelns, Frankfurt/Main 1977, S. 25–76, S. 52.

6 Niklas Luhmann, Einige Probleme mit ‚reflexivem Recht‘, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6/1985, S. 1–18, S. 8.

7 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1987, S. 228.

8 Niklas Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: Haferkamp, Hans/Schmid, Michael, Hg., Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Beiträge zu Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main 1987, S. 307–324, S. 321 (Anm. 7).

9 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, § 1, Max Weber Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 23, Tübingen 2013, S. 149.

10 Diese Charakterisierung von Handlungen folgt grundsätzlich Werner Greve, Handeln in Widerfahrniskontexten. Handlungsabsichten, Handlungsbedingungen und Bedingungen von Handlungsabsichten, in: Jaeger, Friedrich/Straub, Jürgen, Hg., Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 220–248, S. 223f.