Habermas leicht gemacht

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2.1.2 Handeln als Grundbegriff der Soziologie: Max Weber

Vollständig neu ist eine solche Sichtweise keineswegs. Dies gilt für die Philosophie, auf die wir noch näher eingehen (Kapitel 2.2), aber auch für die Soziologie dort, wo sie mit einer Reflexion ihrer eigenen Grundlagen beschäftigt war. Es wird sich allerdings noch zeigen, dass Habermas dieses Verhältnis in Bezug auf das Phänomen des Handelns auf eine durchaus neue Weise denken wird. Beschränken wir uns aber zunächst auf die Soziologie. In der auf Max Weber aufbauenden und an ihn anschließenden Soziologie gilt die Soziologie als die Wissenschaft vom ‚sozialen Handeln‘, weshalb Handeln als der Grundbegriff der Soziologie erscheint. Alle anderen Phänomene, mit denen sich diese Wissenschaft beschäftigt, lassen sich von diesem Begriff her bestimmen, d. h., sie werden als besondere Formen des Handelns aufgefasst. Das ist von solchen Richtungen her nicht unmittelbar einsichtig, die ‚Gesellschaft‘ oder ‚soziale Systeme‘ bzw. ‚Institutionen‘ als Grundbegriffe der Sozialwissenschaften auszeichnen möchten. Max Weber hatte jedoch zwei Gründe für die Wahl von Handlungen als Ausgangspunkt der soziologischen Analysen.

Zum einen sind Handlungen besser zu identifizieren als etwa ‚Gesellschaften‘, m. a. W.: Jeder ist aus seiner Alltagswelt mit dem vertraut, was wir als ‚Handlungen‘ bezeichnen. Wir können uns also darauf verlassen, dass wir das, was damit gemeint ist, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ohne große Probleme identifizieren können. Unser Alltagsleben hat ständig mit Handlungen zu tun, seien es die eigenen oder diejenigen anderer Menschen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Man könnte dies auch so ausdrücken: Handlungen sind intersubjektiv leicht festzustellen, und damit haben wir so etwas wie eine objektive Beschreibbarkeit solcher Phänomene, auf die wissenschaftlich aufgebaut werden kann. Daraus ergibt sich, dass es die Aufgabe der Soziologie nach Max Weber ist, Handlungen nach ihren allgemeinen Zügen zu beschreiben und sie von solchen Ereignissen im menschlichen Leben abzugrenzen, die wir nicht als Handlungen auffassen können.

Zum Zweiten sind soziale Phänomene nach Max Weber auf verschiedene Weisen Formen von Handlungen von Menschen, in denen sie sich aufeinander beziehen, genauer gesagt: Es sind Formen von Handlungen, die sich auf Handlungen anderer Personen beziehen. Auf diese Weise lassen sich soziale Sachverhalte identifizieren, indem sie aus sozialen Handlungen als ihrer Basis verstanden werden.

Wenn wir jedoch von sozialen Handlungen sprechen, so nehmen wir offenbar eine Unterscheidung innerhalb dessen vor, was wir als Handlungen bezeichnen wollen. Das war in der Tat auch Max Webers Absicht. Es gibt demnach soziale Handlungen, aber es gibt auch solche Handlungen, die man nicht als ‚sozial‘ in dem hier gemeinten Sinne verstehen kann. Solche Handlungen können etwa nur die einzelne Person [<<35] angehen, oder sie können sich auf den Umgang mit der nichtmenschlichen Welt beziehen. Daraus entsteht allerdings das Problem, dass wir damit behaupten, solche Handlungen würden nicht im sozialen Zusammenhang geschehen.

Dagegen spricht, dass auch der Umgang des Individuums mit sich selbst und mit der physikalischen Welt durch kulturelle Normen bestimmt ist, die wiederum auf soziale Zusammenhänge zurückführen und damit auf Formen sozialen Handelns. Jedenfalls ist dieser Zusammenhang für das Denken von Habermas von Bedeutung, der Max Webers Denken überbietet durch die Auffassung, dass Handeln im Grunde stets sozial ist und dass wir darin die Grundlagen der Vernunft und gleichzeitig des Zusammenlebens in der sozialen Welt aktualisieren, die uns als Menschen ausmachen. Wenn die Soziologie also Handlungen zu ihrem Thema nimmt, so hat sie zu ihrem Gegenstand ebenso jene Grundlagen der Vernunft und damit die Selbstunterscheidung des Menschen von der nichtmenschlichen Welt.

Daraus ergibt sich, dass wir offenbar noch früher als im sozialen Zusammenhang ansetzen müssen, wenn wir Handeln bzw. Handlungen von Verhalten bzw. Ereignissen unterscheiden wollen. Eine der Pointen in Habermas’ Denken liegt gerade darin, dass wir aus diesem Unterscheiden den sozialen Zusammenhang gerade nicht ausblenden können. Natürlich sind wir damit schon beim zentralen Thema von Habermas’ Philosophie und Soziologie: dem Handeln, das kommunikativ ist und deshalb kommunikatives Handeln genannt wird. Bevor wir diesen Begriff genauer erklären, wollen wir jedoch die Frage der philosophischen und soziologischen Herkunft des Begriffes der Handlung noch nach einigen Hinsichten zu beantworten suchen.

Bei Max Weber gewinnt der Begriff der Handlung noch einige Auszeichnungen, die ihn bereits in die Nähe derjenigen Charakterisierung bringen, die wir letztlich schon bei Aristoteles – also am Anfang der Philosophie – finden können. Webers Definition von Handeln lautet so:

„,Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden.“2

Danach stellt Verhalten den Oberbegriff dar, von dem sich Handeln dadurch unterscheidet, dass es subjektiv sinnhaft ist. Ein Handeln ist also ein spezielles Verhalten, [<<36] und ein Verhalten ist noch kein Handeln, außer wenn es durch diese Charakterisierung ausgezeichnet ist.

Wichtig ist nun, dass es für Handeln nicht ausreicht, dass der Sinn einem Verhalten durch äußere Beobachter zugeschrieben wird. Wenn die Katze also an der Schranktür kratzt und ihr ‚Dosenöffner‘ sich sagt, sie wolle noch mehr Katzenkekse, dann könnte man zwar sagen, er habe damit ihrem Verhalten einen Sinn zugeschrieben. Aber das führt nicht dazu, dass wir von einem Handeln im Sinne von Max Weber sprechen können. Der Sinn muss vielmehr subjektiv mit dem Verhalten verbunden werden, also von dem Akteur selbst aus, der eben dadurch überhaupt zu einem solchen wird, also zu jemandem, der handelt und sich nicht nur verhält. Wir müssen hier nicht diskutieren, ob manche Tiere zu einen solchen ‚sinnhaften‘ Verhalten fähig sind. Angemerkt sei jedoch, dass Max Weber dies durchaus für möglich hielt; zumindest wies er in einer Klammer darauf hin: „viele Tiere ‚verstehen‘ Befehl, Zorn, Liebe, Angriffsabsicht und reagieren darauf offenbar vielfach nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv, sondern irgendwie auch bewusst sinnhaft und erfahrungsorientiert.“3

Kann ein Lebewesen subjektiv Sinn mit seinem Verhalten verbinden, so muss es sich offenbar auf sich selbst beziehen können, d. h., es muss ein Bewusstsein von sich selbst haben. Solange ein solches Wesen in der Außenwelt einen Reiz (Geruch von Katzenkeksen) wahrnimmt und sich daraufhin, über physiologische Vorgänge und neuronale Prozesse vermittelt, auf eine bestimmte Weise verhält (am Schrank kratzt), sprechen wir nur von Verhalten. Dies gilt auch dann noch, wenn dieses Lebewesen sich aufgrund von neuronal abgespeicherten Lernprozessen zur Erfüllung des Strebens eines anderes Lebewesens (seines ‚Dosenöffners‘) zu bedienen versucht, um sein Ziel zu erreichen. Wir sprechen hier in der Regel von Reiz-Reaktions-Prozessen im Sinne von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, weil wir auch einem so hoch entwickelten Tier wie einer Katze kein Bewusstsein von sich selbst zuschreiben, durch das es sein Verhalten mit einem subjektiven Sinn verbinden könnte. Wir nehmen nicht an, dass es sein eigenes Verhalten als motiviert verstehen kann – obwohl wir uns durchaus sagen könnten, das Motiv für das Kratzen am Schrank liege darin, den ‚Dosenöffner‘ zum Öffnen der Tür und zur Bereitstellung der angestrebten Katzenkekse zu bewegen.

Wir unterstellen der Katze also keine Absichten im vollen Sinne dieses Wortes, ebenso wenig wie wir von dem Schlagen unseres eigenen Herzens sagen würden, es geschehe mit Absicht und wir würden ein Motiv damit verbinden. An dieser Stelle [<<37] wird aber schon deutlich, dass die Abgrenzung zwischen Verhalten und Handeln nicht sehr trennscharf ist. Max Weber hat dies im Zusammenhang mit einem bestimmten Handlungstyp auch zugegeben. Handeln kann aus bloßer Gewohnheit geschehen und wir können dann von ‚traditionalem Handeln‘ sprechen. Wir überlegen dann nicht mehr, sondern führen komplizierte Bewegungsabläufe aus, weil wir es jeden Tag so tun, etwa beim Zähneputzen oder Rasieren. Es könnte aber auch sein, dass jemand überhaupt nicht bereit ist, dem Verhalten der Katze jeden Sinn abzusprechen, und ihr sehr wohl ein Mindestmaß an Bewusstsein von sich selbst zuschreiben möchte, wie es für ein solch subjektives Erleben und für Verhalten auf der Grundlage von Absichten notwendig ist. Dagegen hätte man in früherer Zeit die kulturellen Selbstverständlichkeiten vorgebracht, auf deren Grundlage wir Tieren so etwas eben nicht zuschreiben. Heute sind unsere Vorstellungen anders, weshalb jene Unterscheidung noch weniger trennscharf geworden ist, als sie es aus sich selbst heraus schon ist.

Damit sind wir aber schon bei einem weiteren Begriff, der für das Verständnis des Handelns entscheidend ist. Dass ein anderes Lebewesen gehandelt – und sich nicht nur verhalten – hat, dies können wir durch bloße Beobachtung nicht erkennen. Das Standardbeispiel ist hier das Heben des Armes. Dieser Vorgang lässt sich zunächst als Ereignis in der natürlichen Welt vollständig objektiv beschreiben, wobei wir auch physiologische und neurologische Begriffe heranziehen können. Aber dieses Ereignis kann auch ein Grüßen oder eine Warnung bedeuten und damit eine Handlung darstellen, für die subjektiv ein Motiv bzw. eine Absicht besteht. Es stellt sich also in Bezug auf die Unterscheidung die Frage, wie wir – die Beobachter – das eine vom anderen unterscheiden. Wir müssen dafür ja offensichtlich erkennen, dass das andere Lebewesen subjektiven Sinn mit seinem Verhalten verbindet, d. h., dass es grüßen oder warnen will und den Arm nicht etwa nur gehoben hat, weil es durch ein Muskelzucken dazu gezwungen war. Die Antwort darauf lautet: Handeln können wir nicht durch bloßes Beobachten erkennen, sondern wir müssen es deutend verstehen.

 

Wir interpretieren (‚deuten‘) das beobachtbare Heben des Armes als Grüßen oder als Warnen, d. h., wir nehmen etwas als etwas und bleiben nicht bei der bloßen Beobachtung stehen. Dies geschieht im Falle des Handelns aber nicht so, wie wir eine Hauskatze als der Gattung der Feliden zugehörig auffassen (also sie in die zoologische Klassifikation nach Arten und Gattungen einordnen) oder ein Muskelzucken als Wirkung eines elektrischen Reizes bezeichnen können (also ein Ereignis durch seine Ursache erklären). Das hier gemeinte Interpretieren sollten wir besser von der Interpretation eines Textes her auffassen. Wir lesen ein belletristisches Werk und versuchen beim Lesen den Sinn aufzufinden, was etwa das sein könnte, was der Autor des Buches sagen wollte. Das können wir nicht durch Beobachtung feststellen, sondern indem wir deutend verstehen. [<<38] Wir erklären den Text aber nicht und wir suchen nicht nach Ursachen. Wir stellen also eine Motivations- bzw. Absichtsbeziehung zwischen dem Autor und dem Text her und sagen dann, wir hätten das Werk verstanden.

Damit sind wir wieder bei jenem Bewusstsein von sich selbst, das wir oben schon als Kriterium für die Unterscheidung einer Handlung von einem Verhalten (einem Ereignis in der Welt) herangezogen hatten. Wir müssen in der Deutung eines Verhaltens dazu kommen, ein Selbstverstehen zu erkennen, um darin einen Akteur zu erkennen (Habermas schreibt übrigens meistens ‚Aktor‘). Das können wir aber nicht durch die bloße Beobachtung, obwohl wir ohne Beobachten nicht die Grundlage für ein Verstehen gewinnen können; denn wenn wir nicht sehen, dass jemand den Arm hebt, können wir auch nicht interpretieren, dies sei zum Zwecke und aus der Motivation des Grüßens geschehen.

Eine Handlung fassen wir also nur durch die Leistung eines Fremdverstehens als solche auf. Wir verstehen, dass ein anderes Lebewesen sich so auf sich bezieht, dass es sich versteht und damit seinem Verhalten einen Sinn, eine Motivation und damit eine Deutung gibt. Wir verstehen, dass das Heben des Arms von eben diesem Menschen, der den Arm hebt, als Grüßen gemeint ist. Das können wir demnach nur, wenn wir uns selbst ebenso als verstehende Lebewesen auffassen, die ein bewusstes Verhältnis zu sich selbst einnehmen.

In dieser Tradition können wir demnach also keine scharfe Grenze zwischen Bewusstseinsprozessen und sozialen Vorgängen als Handlungszusammenhängen ziehen. Wir könnten auch sagen, dass sich im Begriff des Handelns das Psychische (verstanden als Bezug des Handelnden auf sich selbst) und das Soziale (verstanden als aufeinander bezogene Handlungen und Systeme von Handlungen) so eng miteinander verbinden, dass eine Trennung nur abstraktiv möglich ist.

2.1.3 Handeln, Kommunikation und ‚System‘

Wir können an dieser Stelle diesen Ausgangspunkt der Habermas’schen Philosophie in ihrer Verschränkung mit Soziologie abgrenzen von dem Gegenspieler in der Soziologie, mit dem sich Habermas besonders intensiv auseinandergesetzt hat, nämlich von Niklas Luhmann und seiner Systemtheorie. Hier beruht das Verständnis des Sozialen keineswegs auf Handlungen, sondern die ‚Basiseinheit‘ des Sozialen stellt Kommunikation dar – allerdings nicht in der Gestalt eines kommunikativen Handelns. Als ‚Kommunikation‘ gilt bei Luhmann die Operation eines sozialen Systems, durch welche es sich von seiner Umwelt abgrenzt und dadurch als solches erzeugt und erhält. ‚Kommunikation‘ wird in diesem Zusammenhang als vollständig unabhängig von Bewusstseinsprozessen der beteiligten Personen aufgefasst. [<<39]

Die zentrale Kategorie ist hier vielmehr das ‚kommunikative Verstehen‘, d. h., Kommunikation hängt nicht von dem ab, was jemand gemeint hat, sondern von der Auffassung bzw. Zuschreibung eines Verhaltens als kommunikativ durch den Anschluss von anderem Verhalten, das wiederum als kommunikativ aufgefasst wird, weil es wiederum Anschlusshandlungen bzw. –äußerungen produziert. ‚Kommunikativ‘ wird ein Verhalten also nur deshalb, weil es so aufgefasst wird – die Meinung des dann als ‚kommunizierend‘ bezeichneten Akteurs ist dafür vollständig gleichgültig. Die Bewusstseinsprozesse der beteiligten Menschen und damit ihre ‚psychischen‘ Zustände können dabei gänzlich außer Acht bleiben.

Die Gegenposition zu der Auffassung von Handlungen, an die sich Habermas mit seiner Theorie des sozialen und kommunikativen Handelns anschließt, könnte sich also darauf berufen, dass soziale Phänomene nicht von Akteuren her erklärt werden können, sondern dass solche Erklärungen in erster Linie Bezug auf soziale Strukturen oder soziale Systeme nehmen müssen oder, in einer sehr simplifizierten Form, auf ‚die Gesellschaft‘. Einen wichtigen Anfang für eine solche Form des Erklärens von ‚Handlungen‘ (wobei wir diesen Ausdruck nun in Anführungszeichen setzen müssen, weil es fraglich erscheint, ob hier das Gleiche gemeint ist wie in der Theorie, auf deren Grundlagen das Denken von Habermas entstanden ist) können wir etwa schon in der strukturalistischen Handlungstheorie von Talcott Parsons sehen, dem zufolge das fundamentale Theorem der Handlungstheorie darin bestehen müsse,

„dass die Struktur von Handlungssystemen aus institutionalisierten (in sozialen und kulturellen Systemen) und/oder internalisierten (in Persönlichkeiten und Organismen) Mustern kultureller Bedeutung“

besteht.4 Auch eine Soziologie, die auf der Grundlage der Tradition steht, in der Max Weber stand und an die sich auch Habermas im Grundsatz anschließt, wird jene ‚Muster kultureller Bedeutung‘ für eine Handlungserklärung heranziehen. Aber sie wird sie nicht als solche als Grundlage für das Erklären verwenden, sondern nur in dem Sinne, dass sich Akteure, also mit subjektivem Sinn Handelnde, solcher Muster bedienen, um ihrem Handlungssinn eine Gestalt zu geben und sinnhafte Handlungsentwürfe [<<40] zu finden, auf deren Grundlage sie die Situation deuten und auf der Grundlage des so gewonnenen Sinnes handeln können.

Jene ‚strukturalistische‘ Handlungstheorie stellt den Anfang auf dem Weg zu der ‚strukturfunktionalistischen‘ Soziologie von Niklas Luhmann dar, die wir oben schon eingeführt haben. Habermas hat seine sehr berühmt gewordene Kontroverse mit diesem Theoretiker sozialer Systeme in einem einflussreichen Buch dokumentiert. Die Grundlagen dieser Auseinandersetzung lassen sich allerdings nur verstehen, wenn wir noch etwas weitergehen und einige weitere Aspekte des Begriffes vom Handeln heranziehen, wie er aus der Tradition der Philosophie und der sich daraus verselbständigenden Soziologie seine Bedeutung gewonnen hat.

Wir können uns den wichtigen Unterschied zwischen den Ansätzen einer am ‚traditionellen‘ Begriff der Handlung orientierten Soziologie, wie er sich von philosophischen Ansätzen aus über Max Weber bis hin zu Jürgen Habermas fortsetzt, und einer an Strukturen oder Systemen ausgerichteten Soziologie, die diesen ‚traditionellen‘ Begriff der Handlung aufgeben will, noch unter einem anderen Aspekt verdeutlichen. Er zeigt sich gut in einer Kritik von einem der wichtigsten Vertreter der ‚verstehenden‘ Soziologie, nämlich Alfred Schütz, an Parsons’ Ansatz. Das Problem der ‚strukturalistischen‘ Soziologie von Parsons – und damit ebenso das etwa der strukturfunktionalistischen Soziologie von Habermas’ Kontrahenten Niklas Luhmann – liege darin, dass „die subjektiven Ereignisse im Bewusstsein des Handelnden durch ein Interpretationsschema für solche Ereignisse, über das nur der Beobachter verfügt“, ersetzt werden.5

Der Begriff der Handlung, wie ihn die Tradition in Philosophie und Soziologie aufgefasst hatte und an den Habermas anschließt, ist dann aufgegeben, wenn die Soziologie zur Wissenschaft von einem ‚Objekt‘ wird, dessen Interpretation nur durch Schemata der Beobachter von sozialen Phänomenen geleitet wird, ohne dass die ‚subjektiven Ereignisse im Bewusstsein des Handelnden‘, also dessen subjektive Sinngebung, in die wissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung eingehen kann.

Dem setzt Luhmann an einer Stelle mit Bezug auf Max Weber den folgenden Einwand entgegen: Bei Verwendung eines ‚subjektiven‘ Handlungsbegriffes gerät die Soziologie in die Lage, „dass nur das ‚Subjekt‘ wissen könne, ob es gehandelt habe oder nicht, und die Folgerung ist: man muss es fragen.“6 Habermas’ Antwort darauf [<<41] würde vielleicht lauten: ‚Eben! Genau!‘ Just aufgrund dieser Besonderheit einer Wissenschaft vom Handeln wird Habermas auf seinem Weg durch das philosophische Denken über Sprache, Wissen, Begründung und moralische Rechtfertigung zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Soziologie nur in einem gedanklichen Kontext möglich ist, der Handeln und Wahrheitsansprüche bzw. Ansprüche auf moralische Richtigkeit in einen unauflösbaren Zusammenhang bringt.

Er würde auf jene Kritik hin also vermutlich etwa so argumentieren: Wenn man den Akteur nur dann als Akteur auffasst, wenn man ihn fragt, so muss man ihm die Fähigkeit zuschreiben, solche Ansprüche zu erheben, und ihn damit als begründungswilliges und begründungsfähiges Wesen anerkennen. Damit anerkennt man ihn auch als Wesen, das durch Sinn Selektivität erzeugen kann und sie nicht nur als vorgegeben hinnehmen muss, d. h., das aus einem Raum möglicher Ereignisse die Realisierung bestimmter Ereignisse zumindest bis zu einem gewissen Grad steuern kann. Offenbar ist der Begriff des Handelns nach diesem Gedanken nicht unabhängig von den Vorstellungen von Freiheit im Handeln zu verstehen.

Luhmann selbst stellt dem allerdings eine ganz andere Weise des wissenschaftlichen Umgangs mit Handlungen entgegen. Auch hier ist die Kategorie Sinn für den Begriff des Handelns von Bedeutung, allerdings nun so, dass eine ‚Handlung‘ dadurch zustande kommt, dass ein Verhalten durch andere als sinnhaft gedeutet wird: „Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert.“7 Solche Zurechnungen haben eine wichtige Aufgabe für den Bezug von sozialen Systemen auf sich selbst, den Luhmann als ‚Selbstbeobachtung‘ sozialer Systeme bezeichnet. Deshalb gibt er den Handlungsbegriff keineswegs auf, aber dieser erfährt nun eine „Rekonstruktion als Konstrukt von Zurechnungsprozessen im Kontext von Selbstbeobachtungen sozialer Systeme.“8

Nach der systemtheoretischen Soziologie von Niklas Luhmann können wir also soziale Prozesse erklären ohne jeden Rekurs auf Bewusstsein und Sinnzuschreibung durch Akteure. Man könnte das auch noch anders und etwas provozierender formulieren. In einem sozialen System geht es nicht nur nicht um Bewusstsein und nicht um Sinn, es geht auch nicht um Denken. Ein soziales System entsteht durch Kommunikation, d. h. durch die Verknüpfung von kommunikativen Ereignissen mit kommunikativen Ereignissen, die sich als kommunikativ jeweils durch die Reaktion [<<42] darauf erweisen. Ein soziales System zeichnet sich deshalb durch die Selbstreferenz einer ‚operativen Geschlossenheit‘ aus.

Damit ist etwas ganz Einfaches gemeint: Es schließen sich stets nur Operationen desselben Typs aneinander an, d. h., in einem sozialen System werden nur und ausschließlich kommunikative Ereignisse mit nur und ausschließlich kommunikativen Ereignissen verknüpft. Gerade durch diese ‚Abstraktion‘ erhalten sie sich, da alles das, was wir im alltagssprachlichen Sinne mit Kommunikation verbinden, wie etwa Dinge, über die wir kommunizieren, Körper, mit denen wir etwa durch Sprechen oder durch Gesten Kommunikationsereignisse produzieren, Gedanken, die wir im Kommunizieren zum Ausdruck bringen, oder auch Menschen, mit denen wir kommunizieren, nicht zum sozialen System gehören soll, sondern zu seiner Umwelt.

Das soll nicht heißen, dass nach Luhmann Kommunikationen sich nicht auf Gesprächsgegenstände, Gedanken oder Wahrnehmungen beziehen können. Aber damit wird die durch Kommunikation im Luhmann’schen Sinne erreichte operative Geschlossenheit durchbrochen. Es geschieht also eine Fremdreferenz in jenem in sich geschlossenen System, in dem kommunikative Ereignisse mit anderen kommunikativen Ereignissen verbunden werden, indem sie als solche aufgefasst werden. Aber, und das ist die Pointe dieser Konzeption, mit der sie sich strikt von Habermas’ Verständnis des Sozialen unterscheidet, die Gedanken etwa, auf die in der Kommunikation eine Fremdreferenz stattfindet, gehören nicht in den Zusammenhang des sozialen Systems, das ausschließlich durch Kommunikation zustande kommt. ‚Operative Geschlossenheit‘ bedeutet an dieser Stelle, dass Gedanken sich nur an Gedanken anschließen können, nicht aber an kommunikative Ereignisse. Das bedeutet schließlich, dass Gedanken sich nur im Bewusstsein aneinander anschließen, nicht aber in der Kommunikation. Die Letztere kann darauf nur im Sinne einer Fremdreferenz Bezug nehmen, und dieser Bezug ist für das Verbinden kommunikativer Ereignisse nicht notwendig, mit dem soziale Systeme existieren und sich entwickeln.

 

Ein soziales System kann also in der Soziologie untersucht werden, ohne dass dabei an irgendeiner Stelle von Bewusstsein oder von Subjektivität oder von Sinn die Rede sein müsste. Es muss auch nicht Bezug genommen werden auf das, was Subjekte gemeint haben. Deshalb kann man mit Recht sagen, dass in einem sozialen System gemäß der Konzeption der Systemtheorie von Niklas Luhmann nicht gedacht wird. Aber umgekehrt kann ein Bewusstsein auch nicht kommunizieren, sondern nur denken, d. h. Gedanken an Gedanken anschließen, wenn sie nicht in den Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen eingehen, der als soziales System betrachtet wird.

Das bedeutet jedoch nicht, dass in dieser Theorie der Begriff Sinn überhaupt nicht vorkommt, der, wie schon ausgeführt, für die ‚traditionelle‘ Soziologie als Wissenschaft [<<43] vom sozialen Handeln aufgrund seiner Bedeutung für den Begriff des Handelns unverzichtbar war. Aber ‚Sinn‘ bezieht sich hier nicht auf ein Verhältnis eines Bewusstseins zu seinen Handlungsentwürfen, die eben dadurch zu seinen werden, dass es ein Verhältnis zu sich selbst unterhält. ‚Sinn‘ ist vielmehr eine Art und Weise, wie Systeme die systemintern verfügbare Komplexität verarbeiten können.

‚Komplexität‘ bedeutet im Grunde den einfachen Sachverhalt, dass sich einem System mehr Möglichkeiten bieten, als realisiert werden können, d. h., es könnte mehr Zustände annehmen, als mit seiner Identität vereinbar wären, d. h., es gibt mehr operative Verknüpfungen, als mit seiner Identität vereinbar sind. Deshalb muss es ‚Komplexität reduzieren‘ – man könnte auch sagen: Es besteht nur in diesem Vorgang. Es ist überhaupt nur ein System, weil in ihm weniger möglich ist als außer ihm: Wer zur Schule geht oder einem Parlament angehört, muss die Grenzen zwischen ‚Schule‘ bzw. ‚Parlament‘ und deren Umwelt kennen, weil er jenseits von Schule oder Parlament anders handeln und reden kann als in diesen Systemen.

Durch ‚Sinn‘ sorgt ein System jedoch nun dafür, dass die ausgeschlossenen Möglichkeiten nicht endgültig eliminiert werden, sondern immer noch zur Verfügung stehen, aber ohne dass sie die Systemidentität gefährden würden. Es bleibt möglich, außerschulische bzw. außerparlamentarische Handlungsweisen einzubringen, allerdings nicht unbegrenzt und nicht ohne Risiko. Wichtig ist dabei jedoch, dass dieser Begriff von Sinn nichts mehr mit jenem ‚subjektiven Sinn‘ zu tun hat, der nach Max Weber und der an ihn anschließenden Soziologie das Handeln und dann das soziale Handeln konstituiert.

Wie stellt sich das Verhältnis von Handeln und Kommunikation auf der Grundlage dieser Konzeption des Sozialen dar? Es ist zunächst deutlich geworden, dass eine Kommunikation nicht auf eine Handlung eines Akteurs zurückgehen kann, d. h., ihr Zustandekommen ist unabhängig von dem ‚subjektiven Sinn‘, den ein Akteur damit verbindet. Aber sie kann auch nicht auf soziales Handeln zurückgeführt werden, in dem zwei Akteure wechselseitig aufeinander bezogen handeln. Das geht darauf zurück, dass Verstehen nun als passiver Vorgang verstanden wird. Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, was sich schon daran zeigt, dass verschiedene Menschen auf die gleiche Äußerung ganz verschieden reagieren können. Der Verstehende konstruiert also auch, aber dieses Konstruieren muss gerade im Verstehen ausgeblendet werden, denn nur dann, wenn er sein Verstehen nicht als eigenes Konstruieren auffasst, kann er kommunikativ an die Kommunikation des anderen anschließen, wodurch erst Kommunikation zustande kommt. Erst dann können wir in Luhmanns Systemtheorie von einem sozialen System sprechen. Das schließt allerdings prinzipiell nicht aus, dass Verstehen auch als Handlung aufgefasst werden kann, dies jedoch erst dann, wenn in [<<44] der Kommunikation Hemmungen auftauchen, die eine explizite Interpretation als Verdeutlichen des Gemeinten erfordern. Das ist jedoch nicht die ‚normale‘ Leistung in der Kommunikation.