Habermas leicht gemacht

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3 Kommunikatives Handeln
3.1 Handeln zwischen Strategie und Verständigung
3.1.1 Handeln: instrumentell, strategisch, kommunikativ

Es könnte an manchen Stellen so scheinen, als würde Habermas mit dem kommunikativen Handeln eine spezielle Form des Handelns zum Thema machen wollen, bei dessen Thematisierung er Defizite in der Geschichte der Handlungstheorien in Philosophie und Soziologie ausgemacht hatte. Das ist durchaus nicht ganz falsch. In der Tat sieht er das Defizit der soziologischen Handlungstheorien darin, das kommunikative Handeln nicht angemessen zum Thema gemacht zu haben. Das bedeutet aber nicht, dass dieses Handeln nur eine Sonderform des Handelns darstellt – obwohl dies auch der Fall ist: Kommunikatives Handeln stellt durchaus eine spezielle Art des Handelns dar.

Aber – und dies ist für das Verständnis von Habermas’ Denken über das menschliche Handeln von zentraler Bedeutung – alles Handeln ist auf eine bestimmte Weise auf gerade dieses Handeln bezogen, obwohl keineswegs jedes Handeln auf kommunikative Weise geschieht. Dieser Bezug besteht darin, dass auch routiniertes Handeln, das für sich genommen ohne kommunikative Ausrichtung abläuft, auf kommunikatives Handeln angewiesen ist, wenn es gestört wird, d. h., wenn die Routinen unterbrochen werden. Dies gilt vor allem dann, wenn das ‚gewöhnliche‘ Handeln nicht mehr selbstverständlich abläuft, d. h., wenn es gerechtfertigt werden muss, indem seine Normen infrage gestellt und einer Begründung bedürftig werden.

Deshalb ist die Theorie des kommunikativen Handelns (hier als philosophische Aufgabe und nicht als Buchtitel verstanden) nicht nur eine Spezialtheorie über eine bestimmte Handlungsform – obwohl sie das auch ist. Sie gewinnt aber Bedeutung für ein Verständnis des menschlichen Handelns überhaupt, weil das kommunikative Handeln dasjenige Handeln darstellt, in dem wir bei Störungen und Problemen bzw. generell beim Verlust der Selbstverständlichkeit des Handelns überhaupt auf eben dieses reflektieren und uns über seine Gründe und seine Rechtfertigung verständigen müssen. Mit dem kommunikativen Handeln ist bei Habermas also im Grunde stets alles Handeln thematisch, obwohl damit nicht alle Aspekte des Handelns untersucht werden. [<<65]

Damit ist also eine Pluralität von Handlungskonzeptionen keineswegs ausgeschlossen, deren thematische Bedeutung bei Habermas sich aber letztlich durch ihren Zusammenhang mit dem kommunikativen Handeln rechtfertigt. Diese Pluralität entsteht aus einer Rekonstruktion der Geschichte von Handlungstheorien, die Habermas in Anknüpfung an die Unterscheidung zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen ableitet. Diese drei Dimensionen sind die der objektiven Welt, diejenige der sozialen Welt und schließlich die der subjektiven Welt; und jede Welt lässt sich so interpretieren, dass der Fokus auf sie zu einer speziellen Auffassung von Handlungen führt.

Das Handeln aus der Perspektive auf die objektive Welt erscheint als teleologisch, d. h., hier wird aus der Akteursperspektive ohne Berücksichtigung sozialer Zusammenhänge die erfolgversprechendste unter verschiedenen Optionen gewählt, um ein gegebenes Ziel zu erreichen. Dementsprechend können wir die Fortsetzung eines solchen Handelns in Konzeptionen instrumentellen Handelns sehen, in welchem es dem Akteur nur um die Wahl der geeigneten Instrumente geht, mit denen sich seine Wünsche erfüllen lassen.

Darüber hinaus ist ein Handeln aber auch in der Dimension der subjektiven Welt möglich. Habermas exemplifiziert dies insbesondere mit dem ‚dramaturgischen‘ Handeln, d. h. mit Handeln nicht in der Ausrichtung an Zielen in der objektiven Welt, sondern an der Inszenierung des eigenen Selbst. Hier gewinnt jedoch der soziale Zusammenhang bereits eine eigene Bedeutung, denn offenbar gelingt eine erfolgreiche Selbstdarstellung nur dann, wenn man fähig ist, die Erwartungen des situationsspezifisch verschiedenen Publikums entsprechend zu antizipieren und demgemäß die Dramaturgie des Selbst anzupassen.

Damit beginnt bereits eine darüber hinausgehende Erweiterung des Handlungsbegriffes, die sich daraus ergibt, dass für die Handlungsplanung die Erwartungen der im Zusammenhang einer geplanten Handlung zu berücksichtigenden Menschen einbezogen werden müssen. Wenn Habermas von einem strategischen Handeln spricht, so wird damit die soziale Dimension des Handelns betont. Dafür müssen offensichtlich die Erwartungen anderer Menschen im sozialen Zusammenhang des Handelns berücksichtigt werden. Wichtig ist hier, dass diese Berücksichtigung dazu führt, dass ein soziales Handeln nicht mehr durch technische (bei Kant: hypothetische) Regeln allein reguliert wird, also nicht mehr durch Regeln vom Typ ‚Wenn ich eine Schraube eindrehen will, dann sollte ich einen Schraubenzieher gebrauchen‘.

Vielmehr wird ein Handeln im sozialen Zusammenhang durch Normen geleitet. Normen sind nichts, was eine Person alleine für sich erfinden und alleine befolgen könnte. Damit ist strategisches Handeln also in zweierlei Hinsicht auf den sozialen Zusammenhang bezogen: Zum einen gehen in die Handlungsplanung die Erwartungen [<<66] der zu berücksichtigenden Kooperationspartner ein (ein Anwalt erwartet, dass sein Mandant bereit ist, seine Interessen mit rechtlichen Mitteln zu verfolgen), zum anderen aber wird es geleitet durch Normen, die grundsätzlich nicht von einem sozialen Lebenszusammenhang getrennt werden können (Streitigkeiten regelt man heute durch Gerichtsverfahren und nicht durch Faustrecht; im Wilden Westen dagegen griff man in solchen Fällen zur Smith & Wesson). Das folgende Schaubild fasst diese Zusammenhänge zwischen den verschiedenen ‚Welten‘ und den entsprechenden Handlungsformen zusammen.


Objektive Welt:
Subjektive Welt:
Soziale Welt:teleologisches Handeln→ strategisches HandelnTechnik und soziale Welt der Normen (sozial-kulturelle ‚Richtigkeiten‘)

Der Ansatzpunkt für eine Theorie des kommunikativen Handelns ist demnach in der ‚sozialen Welt‘ zu suchen bzw. in dem Handeln, das sich in dieser Welt bewegt. Das ist schon durch die Eigenschaft ‚kommunikativ‘, also ‚verständigungsorientiert‘, gegeben. Nach Habermas ist ein solches Handeln normenreguliert. Hier findet sich eine Anknüpfung an Aristoteles und dessen Auffassung von moralischem Handeln (vgl. Kap. 3.2.1), da sich ein solches Handeln nicht ‚nur‘ an Zwecken außerhalb seiner selbst orientiert, sondern sich auf das Tun selbst bezieht. Damit ist der wesentliche Gegensatz innerhalb von Habermas’ Konzeption des Handelns offenbar der zwischen einem ‚rein‘ instrumentellen Handeln und einem normenregulierten Handeln, das wir in allem strategischen Handeln finden, so wie Habermas diesen Ausdruck verwendet, d. h. für ein solches Handeln, das stets Bezug auf Erwartungen aus der sozialen Welt und damit vonseiten der Interaktionspartner nimmt.

Dies schließt das ausdrücklich so genannte strategische Handeln ebenso ein wie ein dramaturgisches Handeln. Beim Ersteren ist dies unmittelbar deutlich, da hier die Erwartungen der Interaktionspartner in die Bestimmung des eigenen Handelns eingehen. Aber auch wer dramaturgisch handelt und sich vor allem selbst darstellen will, wird dabei nicht erfolgreich sein, wenn er die Erwartungen anderer und die Wirkungen seiner Selbst-Dramaturgie nicht antizipiert und damit sein Handeln in dem sozialen Zusammenhang situiert und auf ihn orientiert, in dem er handelt und/oder wirken will. Ein soziales Handeln in diesen beiden Richtungen ist also zumindest in einem rudimentären Sinne dialogisch strukturiert. Das muss allerdings noch nicht heißen, dass Handelnde wirklich mithilfe von expliziten Dialogen mit Menschen, die [<<67] auf irgendeine Weise von ihren Handlungsweisen betroffen sind, ihre Handlungen bestimmen. Der Ausdruck ‚dialogisch‘ muss hier zunächst in einem sehr schwachen Sinn verstanden werden, d. h., er bringt lediglich zum Ausdruck, dass in die Bestimmung des Handelns ein Bezug auf die Erwartungen eingeht, die im sozialen Zusammenhang wahrgenommen und antizipiert werden müssen. Wir sind also noch nicht beim kommunikativen Handeln angelangt, und die Berücksichtigung anderer Menschen geschieht noch nicht so, dass prinzipiell ein Übergang in solche Dialogformen notwendig wird, die Habermas ‚Diskurse‘ nennt.

Einen Bezug auf solche Dialoge, die er als Diskurse bezeichnet, führt Habermas erst als Bedingung für ein in einem weitergehenden Sinne dialogisches Handeln ein. Wir können also zunächst nicht sagen, dass ein strategisches Handeln – sei es teleologisch oder dramaturgisch – schon ‚diskursiv‘ sei. Dass dies über einige Voraussetzungen von Handeln dann doch in gewissem Sinne so ist, dies wird Habermas erst aufgrund weitergehender Überlegungen begründen, in denen er bestimmte Bedingungen eines im sozialen Zusammenhang stehenden Handelns ausarbeitet. Dies führt zum einen in kommunikationstheoretische und dann in sprachtheoretische Argumentationen, wobei die letzteren eine begründende Funktion für die ersteren besitzen. Die sprachtheoretischen Argumentationen bestehen bei Habermas im Wesentlichen in einer sozialwissenschaftlich reformulierten und ergänzten Rezeption der sog. Sprechakttheorie, die von John Austin und John Searle ausgearbeitet worden war. Darauf werden wir im nächsten Kapitel kommen.

 

Aber der Grundgedanke, der dieser Rezeption zugrunde liegt, beginnt bereits an dieser Stelle deutlich zu werden: Ein Handeln, das durch die Interaktionszusammenhänge im sozialen Leben bestimmt ist, ist grundlegend sprachlich bestimmt. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass sich Handelnde auf ihre Interaktionspartner, von denen der Erfolg ihrer Handlungen abhängt, ohne sprachliche Mittel beziehen können. Wer dramaturgisch handelt und sich anderen gegenüber darstellen will, der muss sich einige Erfolgsbedingungen dieses Handelns vergegenwärtigt haben. Wer sich als sozial engagiert darstellen will, der wird vor entsprechenden Demonstrationen Urteile gefällt haben müssen darüber, dass dies in dem Publikum, das er erreichen will bzw. dem er sich darstellen will, entsprechend ‚ankommt‘, und zuvor schon, dass es richtig ‚aufgefasst‘ wird. Wer sich als exzentrisch, progressiv, umweltschützerisch oder auch nur als ‚tough‘ oder ‚cool‘ darstellen will, der ist ebenso auf entsprechende ‚dass-Sätze‘ angewiesen, etwa von der Form ‚Ich unterstelle, dass gerade dieses Verhalten zu einer Erhöhung meines Ansehens gerade bei dieser mir wichtigen Gruppe von Menschen führt‘.

Er muss also über Urteile über den sozialen Zusammenhang verfügen, die er zumindest sprachlich zum Ausdruck bringen könnte. Das gilt natürlich auch für jeden, der [<<68] über ein dramaturgisches Handeln hinaus strategisch handelt. Er könnte etwa Urteile über die Kaufbereitschaft der potentiellen Nachfrager fällen müssen, denen er seine Waren oder Dienstleistungen verkaufen will. Wer eine Frau (einen Mann) erobern will, wird sinnvollerweise einige Urteile über deren (dessen) Zugänglichkeit zugrunde legen. Wer politisch erfolgreich handeln will, der benötigt eine Menge urteilsförmiger Informationen über die Wählerschaft, die Medien und die Parteifreunde, und auch diese Bedingungen eines strategischen Handelns werden sprachlich vorliegen. Deshalb kann eine sprachtheoretische Untersuchung der kommunikativen – ‚dialogischen‘ – Struktur des Handelns Bedingungen und Prozesse des Handelns selbst aufklären.

In einem relativ frühen Stadium seines Denkens hielt Habermas es sogar für möglich, dass sich eine Handlungstheorie vollständig auf sprachtheoretischer Grundlage ausarbeiten lasse (ThG 101ff.). Im späteren Werk mit dem Titel ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ allerdings revidierte er diesen Anspruch ein wenig. Dies sollte jedoch nicht zu der Vorstellung verleiten, dass die sprachtheoretischen Argumentationen nicht mehr im Vordergrund stehen würden. Die Revision hatte vor allem damit zu tun, dass Habermas nun für eine genuin soziologische Handlungstheorie einen anderen Ausgangspunkt sah. Dies könnte zu der These führen, dass unter philosophischen Gesichtspunkten die sprachphilosophische Grundlage weiterhin an erster Stelle steht, während unter dem soziologischen Gesichtspunkt eine Auffassung vom sozialen Handeln an Bedeutung gewinnt, die den sprachtheoretischen Ansatzpunkt etwas relativiert.

Dies geht vor allem darauf zurück, dass Habermas nun ein bereits früher von Talcott Parsons behandeltes Problem aufnimmt, das man als dasjenige der ‚doppelten Kontingenz‘ bezeichnen könnte. Das ist ein etwas komplizierter Ausdruck für die einfache Tatsache, dass in einer sozialen Handlungsbeziehung prinzipiell beide Akteure tun können, was immer sie wollen. Wird einem die Türe aufgehalten, so kann man statt mit einem Dank oder einem freundlichen Lächeln auch mit einem Vortrag über Habermas und die Grundlagen der Theorie des kommunikativen Handelns reagieren, auch wenn das selten vorkommen wird. Der höfliche Mensch, der die Türe aufgehalten hatte, könnte darauf mit einer Ohrfeige antworten, was aber auch selten vorkommen dürfte. Auf jeden Fall ist in einem solchen Fall die Koordinierung der beiden Handlungen nicht so gelungen, wie dies im alltäglichen Umgang erwartet wird, in dem das Schema lautet: ‚Türe aufhalten‘ + ‚Dank‘.

Die Frage der Handlungskoordinierung kann man nun nicht einfach mit einer Analyse der sprachtheoretischen Bedingungen ihrer Möglichkeit beantworten. Notwendig ist vielmehr der Bezug auf „Ordnungsleistungen“, die sich nur aus vorargumentativ und vorsprachlich akzeptierten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens begründen. Solche Regeln benötigen den „Hintergrund einer intersubjektiv geteilten [<<69] Überlieferung, vor allem gemeinsam akzeptierter Werte“ (TkH2 321). Man könnte sagen, dass Habermas hier den hegelschen Gedanken der ‚Sittlichkeit‘ stärker zur Geltung bringt, als er dies zuvor in der Orientierung an der kantischen Argumentation über die voraussetzungslogische Analyse der Bedingungen der Möglichkeit zu tun bereit gewesen war. Aber dies sollte eben nicht dazu führen, die Bedeutung der sprachabhängigen Verständigungsprozesse für Habermas nun als geringer aufzufassen. Solche Verständigungen gelingen allerdings vor dem Hintergrund von überkommenen Ordnungsleistungen. Das heißt aber nicht, dass ihre Abhängigkeit von Sprache keine theoretische Bedeutung mehr einnehmen würde. Genau das Gegenteil ist der Fall. An dem inneren Bezug des Handelns auf sprachliche Vorgänge bzw. auf dessen Vorbedingungen in der Möglichkeit eines Wechsels von rudimentären dialogischen Formen in diskursive Sprechsituationen hielt Habermas stets fest.

3.1.2 Die Bedeutung des ‚kommunikativen‘ Handelns

Nun steht im Zentrum von Habermas’ Interesse aber das Handeln, das er als kommunikativ bezeichnet. Wir könnten diesen Ausdruck zunächst durch ‚verständigungsorientiert‘ ersetzen und dies spezifizieren durch ‚in einem sprachlichen Sinne verständigungsorientiert‘. Es wird sich aber noch zeigen, dass diese Übersetzung nicht ausreicht. Die Besonderheit von Habermas’ Begriff des kommunikativen Handelns ergibt sich erst, wenn wir es auffassen und erklären als den Begriff eines „an Geltungsansprüchen orientierten Handelns“ (KpS1–4 484). Diese Charakterisierung erfordert des Näheren aber einige Vorbereitungen, die wir im weiteren Verlauf des Kapitel 3 durchführen werden.

Zunächst aber kann man ‚kommunikatives Handeln‘ in dem Sinne, wie Habermas diesen Begriff versteht, als durch drei Kriterien charakterisiert auffassen: (1) Es handelt sich um ein soziales Handeln, (2) zu einem solchen Handeln gehört die Interaktion von sprachfähigen Subjekten, und diese Akteure gehen dabei (3) eine interpersonale Beziehung ein:

„Der Begriff des kommunikativen Handelns … bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren.“ (TkH1 128). [<<70]

Damit erscheint kommunikatives Handeln zunächst als ein Begriff, der als Grundbegriff der soziologischen Handlungstheorie dienen soll.

In einem sehr frühen Werk hatte Habermas den Begriff des kommunikativen Handelns ganz ähnlich so zum Ausdruck gebracht:

„Unter kommunikativem Handeln verstehe ich … eine symbolisch vermittelte Interaktion. Sie richtet sich nach obligatorisch geltenden Normen, die reziproke Verhaltenserwartungen definieren und von mindestens zwei handelnden Subjekten anerkannt werden müssen. Gesellschaftliche Normen sind durch Sanktionen bekräftigt. Ihr Sinn objektiviert sich in umgangssprachlicher Kommunikation.“ (TW 62f.)

Ihre Geltung ist „allein in der Intersubjektivität der Verständigung über Intentionen begründet und durch die allgemeine Anerkennung von Obligationen gesichert.“ (TW 63)

Charakteristisch für ein solches Handeln ist aber, dass sich Akteure mithilfe von Sprechakten – worauf wir im nächsten Kapitel näher eingehen – oder zumindest mithilfe solcher Handlungen, die sie sprachlich darstellen und beschreiben können, auf andere Mithandelnde beziehen, so dass eine für sie gemeinsame Handlungssituation entsteht. Als ‚Interaktion‘ ist dabei zu verstehen, dass Handlungen zumindest wechselseitig aufeinander bezogen werden – was nicht bedeutet, aber auch nicht ausschließt, dass sie kooperativ ausgeführt werden (sie können also auch kompetitiv sein). Dieser wechselseitige Bezug muss so sein, dass die Beteiligten sich sprachlich darin aufeinander beziehen, die Handlungssituation beschreiben und sich auf Normen und damit auch auf andere Menschen beziehen können, so dass sie sich ihnen gegenüber selbst darstellen können. Durch diesen Bezug nimmt die Situation einen normativen Status an, der wiederum in ihren wechselseitigen sprachlichen Bezügen repräsentiert wird. Die interpersonale Beziehung muss dabei nicht unbedingt über explizit sprachliche Äußerungen hergestellt werden, sondern es können etwa auch andere Formen der Verständigung herangezogen werden, wie etwa Gesten oder Mimik, die wir aber als sprachanalog auffassen können.

Dass ein solches Handeln kommunikativ ist, hat gegenüber anderen Handlungsbegriffen den Vorteil, dass auf diese Weise eine vereinheitlichende Grundlage für verschiedene Aspekte des Handelns gefunden werden kann. Den Ausgangspunkt dafür sieht Habermas in der Verwendung der Sprache. Mithilfe des kommunikativen Charakters von Handlungen will Habermas also die Abstraktionen aufheben, die den von ihm zunächst unterschiedenen Modellen des strategischen, des normengeleiteten [<<71] und ebenso des dramaturgischen Handelns innewohnen. Mit der sprachlichen Vermittlung von Handlungsabsichten und Handlungsinterpretationen können sich die Akteure gleichzeitig auf alle diese Aspekte des Handelns beziehen, die eben durch die sprachliche Auszeichnung erst zu Aspekten werden, ohne dass dadurch noch eigene Handlungstypen unterschieden werden müssten (obwohl eine solche Unterscheidung im Ausgang von der sprachlichen Vermittlung natürlich möglich bleibt, je nach dem im Vordergrund stehenden Ziel).

Die grundlegende Auszeichnung des kommunikativen Handelns besteht darin, dass es verständigungsorientiert ist. Damit unterscheidet es sich sowohl von einem instrumentellen Handeln, bei dem wir technisch oder ökonomisch geeignete Mittel für gegebene Ziele erwägen und einsetzen, als auch von einem strategischen Handeln, bei dem wir die voraussichtlichen Reaktionen der Menschen im relevanten sozialen Zusammenhang antizipieren, um die Handlung nicht nur technisch, sondern auch in Bezug auf diese Reaktionen erfolgreich werden zu lassen.

Auf diese Weise entsteht aber eine fundamentale Schwierigkeit in Habermas’ philosophisch-soziologischer Konzeption. Es ist bereits deutlich geworden, dass auch strategisches Handeln in gewisser Weise verständigungsorientiert ist, indem wir darin die Vorstellungen, Wünsche und möglichen Reaktionen anderer Menschen für unsere eigenen Handlungsabsichten wirksam werden lassen. Das kann zwar auch ohne direkte Kommunikation geschehen, etwa wenn wir psychologische oder soziologische Informationen oder auch nur die bisher gemachten Erfahrungen heranziehen, um die wahrscheinlichen Reaktionen unserer sozialen Umwelt auf bestimmte Handlungsvorhaben herauszufinden, bevor wir unser Handeln dementsprechend modifizieren. Aber es kann auch durch direkte Kommunikation vonstattengehen, etwa wenn uns für uns persönlich wichtige Menschen mit klaren Worten zu verstehen geben, dass sie über eine bestimmte Handlung ‚not amused‘ wären. Wie unterscheiden sich die kommunikativen Verhältnisse in diesen Situationen von dem, was Habermas als ‚kommunikatives Handeln‘ auszeichnet?

Darüber hinaus ist damit eine weitere Frage verbunden, die direkt ins Zentrum des philosophischen Denkens von Habermas führt und darüber hinaus an die Stelle, wo das soziologische Denken genuin philosophisch wird. Habermas ist durchaus der Meinung, dass es kommunikatives Handeln in der Welt gibt. Das klingt unmittelbar plausibel, wenn wir an Situationen denken, in denen wir in familiären Beziehungen oder Freundschaften über eigene Handlungsvorhaben diskutieren und die Einwände der Gesprächspartner ernst nehmen, so dass es zu Handlungskorrekturen kommt, weil wir überzeugt werden, dass die Einwände berechtigt sind, und weil wir Nachteile für andere Menschen deshalb vermeiden wollen, nicht weil wir im anderen Fall [<<72] Schwierigkeiten für unser Handeln – vielleicht auch nur in der Zukunft – befürchten müssten, sondern weil wir anderen Menschen das Recht zugestehen, mit ihren Wünschen berücksichtigt zu werden. Soweit hätten wir allerdings nur einen ‚neuen‘ Handlungstypus aufgefunden – der so neu sicherlich nicht ist. Für die Typen instrumentellen und strategischen Handelns dagegen hätte sich nichts verändert. Wir werden jedoch sehen, dass kommunikatives Handeln für Habermas so etwas wie das Paradigma alles Handelns darstellt. Dies wird deutlicher werden, wenn wir sehen, dass Sprechakte und die in ihnen erhobenen Geltungsansprüche so in die kommunikative Grundlage des Handelns verwoben sind, dass die Bedingungen der Verständigung auch die Bedingungen alles Handelns darstellen.

 

Ein Handeln nennt Habermas also grundsätzlich dann ‚kommunikativ‘,

„wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden.“ (TkH1 385)

Das muss allerdings nicht heißen, dass in einem solchen Handeln die Beteiligten keine egoistischen Ziele verfolgen, wie man diese Stelle vielleicht missverstehen könnte. Kommunikatives Handeln ist zunächst keineswegs am Wohle der beteiligten anderen Menschen oder sogar aller Menschen orientiert. Der entscheidende Unterschied zu einem rein instrumentellen Handeln liegt vielmehr in dem Ausdruck ‚über Akte der Verständigung koordiniert‘. Ein kommunikatives Handeln liegt dann vor, wenn die Handlungen mit anderen Menschen auf sprachliche Weise koordiniert werden müssen.

‚Koordination‘ ist dabei nicht als ein Zustand der Harmonie und allgemeinen Menschenverbrüderung zu verstehen. Ein solches Handeln kann vielmehr auch in einer Situation der Herrschaft vorliegen – entscheidend ist nur, dass Handlungen durch Sprache aufeinander abgestimmt werden müssen. Wenn der sich als von Gottes Gnaden dazu bestimmt auffassende Herrscher verfügt, dass bestimmte Handlungen ausgeführt werden müssen, dann handelt es sich auch dabei um ein kommunikatives Handeln, denn (a) ist es ein verständigungsorientiertes Handeln, das auf Sprache angewiesen ist, und (b) wird die Handlungsanweisung begründet, hier etwa durch die Berechtigung, solche Handlungen zu verlangen, weil der Befehlende ‚von Gottes Gnaden‘ dafür auserwählt wurde. Es können also wohl ‚egozentrische Erfolgskalküle‘ vorliegen, aber die Handlungen können nicht ausgeführt werden, wenn sie nicht mit anderen Menschen durch Verständigung koordiniert werden. Kommunikatives Handeln ist nicht unbedingt das Handeln netter Leute. [<<73]

Habermas’ Anspruch ist es nun, das kommunikative Handeln unter der Perspektive der darin geschehenden Verständigung so zu analysieren, dass sich

„allgemeine Voraussetzungen kommunikativen Handelns“ ergeben, die sich als gleichbedeutend mit den „universale[n] Bedingungen möglicher Verständigung“ und damit als die allgemeinen Voraussetzungen jeder Kommunikation erweisen (VE 353).

Diese Gleichsetzung kann deshalb vorgenommen werden, weil das verständigungsorientierte Verwenden der Sprache den „Originalmodus“ des Sich-Verständigens darstellt (TkH1 388), so dass sich ein instrumenteller Sprachgebrauch als eine Ableitung zeigt, die von jenem Original abhängig bleibt. Habermas spricht davon, dass sich ein instrumentelles Sprechen geradezu „parasitär“ zu einem kommunikativen Handeln verhält, in dem die Sprache verständigungsorientiert verwendet wird (TkH1 388). Sprache ist danach also nicht vom „Telos der Verständigung“ zu trennen (Entgegnung 364).

Es stellt eine der grundlegenden Behauptungen dar, die der Begriff des kommunikativen Handelns im Sinne von Habermas einschließt, dass soziales Handeln erst durch die sprachliche Verständigung als solches möglich wird. Damit zeigt sich schon, dass Habermas damit nicht einfach eine Handlungstheorie in einem engeren Sinne anstrebt, sondern letztlich eine Theorie der Gesellschaft auf kommunikationstheoretischer Grundlage. Dies rechtfertigt sich in erster Linie daraus, dass Gesellschaft als ein symbolisch verfasster und erzeugter Zusammenhang von aufeinander bezogenen Handlungen auf der Grundlage von Normen und Institutionen verstanden werden muss. Anders gesagt: Gesellschaft entsteht nicht dadurch, dass sich mehrere – bzw. viele – Menschen in einem abgrenzbaren geographischen Raum aufhalten, sondern erst dadurch, dass Menschen soziale Erscheinungen verstehen, d. h., sie bringt eine ‚symbolische‘ Struktur auf der Grundlage sprachlicher Verständigung mit sich, über die der einzelne Akteur zwar nicht verfügen kann, an deren Aufrechterhaltung und deren Veränderung er aber mit seinen Handlungen mitarbeitet.

Ein solches Verstehen ist ein voraussetzungsvolles Geschehen. Was eine soziale Erscheinung bedeutet, kann nicht der einzelne Beteiligte für sich bestimmen, sondern er muss sich dabei auf überindividuelle Bedeutungen beziehen können, anders gesagt: Zumindest mehrere Menschen müssen sie zumindest soweit identisch verstehen können, dass sie zu einem aufeinander bezogenen Handeln kommen. Gesellschaft setzt also ‚Praktiken‘ voraus, d. h., die Beteiligten müssen Regeln kennen, um die Bedeutungen von Erscheinungen deuten zu können, und dieses ‚Kennen‘ kann nicht im Sinne eines Wörterbuchs und damit auf rein sprachlicher Ebene verbleiben, sondern [<<74] es muss sich um ein ‚Praktizieren‘ handeln, d. h. um eine Realisierung der Regeln in einer Verwendung der Sprache, in der gemeinsam gehandelt wird. An einer Stelle weist Habermas etwa im Anschluss an Wittgenstein darauf hin, dass das Befolgen einer Regel voraussetzt, dass jemand anders eine Handlung als Befolgen und eine andere Handlung als Verletzung der Regel bezeichnen kann (während der einzelne Mensch sich einfach neue Regeln konstruieren könnte, so dass man nie sagen könnte, ob er regelabweichend handelt, weshalb es auch keinen Sinn machen würde, von ihm zu sagen, er habe regelgemäß gehandelt) (VE 75ff.).

Dass wir uns im Sprechen verständigen können, setzt also analoge Bedingungen voraus wie die Möglichkeit, dass wir sozial – aufeinander bezogen und damit nach Regeln – handeln können. Das analoge Paradigma ist demnach das des gemeinsamen Regelbefolgens, das ebenso für die sprachliche Verständigung wie für die Verständigung im sozialen Handeln notwendig ist. Sozial – also aufeinander bezogen – handeln wir dann, wenn wir uns darüber verständigen können. Deshalb ist die strukturelle Analogie von Sprechen und Handeln nicht nur eine Analogie, sondern die Bedingungen der Möglichkeit des Sprechens sind ebenso die Bedingungen der Möglichkeit des sozialen Handelns. Ein kommunikatives bzw. sprachlich verständigungsorientiertes Handeln ist offenbar eine komplizierte Angelegenheit, die mit einer einfachen Begriffserklärung von ‚kommunikativ‘ noch lange nicht aufgeklärt ist.

Die Koordination von Handlungen im sozialen Zusammenhang geschieht nach Habermas auf der Grundlage des Funktionierens von Handlungen, die in das soziale Funktionieren von Sprache eingelassen sind, d. h. von Sprechhandlungen (dazu im nächsten Kapitel mehr). In einer solchen Sprechhandlung gelingt das Sprechen als Handeln letztlich nur dann, wenn der Angesprochene nicht nur den ‚Sinn‘ der Äußerung versteht, wie dies auf der Grundlage einer Theorie der Bedeutung aufgefasst werden könnte, die vor Wittgensteins Kritik weit verbreitet war, sondern wenn er eine interpersonale Beziehung zum Sprecher eingeht, die in dessen Sprechhandlung bereits angelegt war, und so dessen Sprechhandlung erst gelingen lässt.

Etwa versteht er eine Proposition (‚dass du mir dein Auto leihst‘), die kommunikativ als Bitte situiert wird und nur so ihre Bedeutung erhält (‚ich bitte dich, dass du mir dein Auto leihst‘), nur dann, wenn er sie auch als Bitte auffasst und sie z. B. entsprechend ablehnt, ihre Erfüllung verweigert oder sie empört zurückweist oder sie einfach gewährt. Ganz entsprechend fasst Habermas das Erheben von Geltungsansprüchen und deren Verstehen als Ansprüche als Grundlage einer Handlungskoordination auf. Es gibt keine Anschlusshandlungen ohne ein Verstehen und damit ohne die intersubjektive Anerkennung von Geltungsansprüchen – ob akzeptiert oder bestritten (Entgegnung 362ff.). Damit sollte etwas deutlicher geworden sein, warum Habermas’ Begriff [<<75] des kommunikativen Handelns kaum zu verstehen ist ohne Begriffe wie ‚Sprechhandlungen‘ und ‚Geltungsansprüche‘ und damit ohne die Bezüge, die mit solchen Handlungen und Ansprüchen zwischen sich miteinander verständigenden Menschen hergestellt werden.

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