Buch lesen: «Claus Störtebecker», Seite 4
»Wer bist du?« atmete Claus fast unhörbar. Angeschmiedet hing er an seinen Rudern und wagte kaum durch eine Bewegung die Rede seines Gastes zu unterbrechen. Und als es von neuem fein und wisperstimmig aus dem milchigen Schwaden heraustönte, da mußte sich der Bursche besinnen, ob jetzt ein Mann oder ein Weib spräche.
»Wer ich bin?« lachte es zierlich, und eine zarte weiße Hand glitt für einen Augenblick aus dem Nebel. »Wenn du Magister probandus des Kollegiums zu Paris wärest, du Holder, du hättest keine schwierigere Aufgabe ersinnen können. Doch immerhin, laß uns untersuchen. Laut Testimonium logicum ist das »ich« von dem »bin« abhängig. Prüfen wir hingegen die Frage nach jure praesente, dann, mein schöner Telemach, dann wäre ich Strandgut, von dir gefunden und nach Gutdünken zu verwenden. Darum gestatte mir, das Examen mit der Gegenfrage zu schließen: Was gedenkst du mit mir Hungrigem zu beginnen?«
Claus Beckera rührte sich nicht. Sprachlos, kaum einen erstickten Laut in der Kehle, starrte er zu der feingliedrigen Gestalt hinüber, und nur wenn sich die Wolle des Nebels ein wenig zerfaserte, dann wagte sein scheuer Blick über das zerrissene braune Schifferwams des Fremden zu streifen, der so unverständliche Dinge vorbrachte. Glühende Neugier peinigte ihn, ob jene beschmutzten Lumpen wirklich einen Mann verbargen. Weiß Gott, das war zweifelhaft. Gar zu weich und zärtlich zeichneten sich mädchenhafte Glieder unter den Fetzen ab, und man brauchte nur die an einigen Stellen der Blöße hervorglänzende weiße Haut zu betrachten oder die langen gelben Haare, die ein schmales bartloses Antlitz einschlossen, um von neuem der Unsicherheit zu verfallen. Und dann noch eins. Wie kam der Landstreicher zu der dicken goldenen Kette um seinen entblößten Hals? Wie zu dem köstlichen Schlangenreif um die rechte Handfessel? Nein, nein, Claus regte sich nicht, denn die Unsicherheit betäubte ihn. Hatte er womöglich ein Weib in der Höhle zwischen den Kreidefelsen gefunden?
Mit einem vieldeutigen Lächeln nahm der Fremde diese heimliche Untersuchung auf, dann aber schien ihn Ungeduld anzuwandeln, und plötzlich, als ob ihm daran läge, sich ein für allemal zu offenbaren, riß er sich hastig die eng anschließende lederne Kappe vom Haupt. Zu gleicher Zeit jedoch sprang er zur Höhe und raffte einen langen, verkorbten Hieber an sich, wie er wohl nur in Welschland gebraucht wurde.
Was war das?
Der Fischerjunge fiel beinahe rücklings in den Stern seines Bootes. Diese ungestüme, kräftige Bewegung, die das Fahrzeug, obschon es bereits zwischen den Steinen eingeklemmt lag, zum Zittern brachte – und dann vor allen Dingen die breite blutige Narbe auf der Stirn des Fremden, sie warfen alle Vermutungen des Unerfahrenen über den Haufen. Gott bewahre, nun stand es fest – vor ihm, auf den Hieber gestützt, wiegte sich trotz allem ein Mann und offenbar kein ungefährlicher, denn unter den sanften Brauen des Fremden begann ein mißtrauisches, unstetes Flackern aufzuleben. Und jetzt, jetzt bemerkte Claus erst, sein Gast besaß doppelfarbige Augen, ein blaues und ein schwarzes, wodurch eine unheimliche Zwiespältigkeit hervorgerufen wurde. Denn während der blaue Stern unverändert lachte, schien aus dem dunklen eine drohend ernste Frage auf den Sitzenden herniederzublitzen.
»Höre, mein Täubchen«, sprach der Fremde nachdrücklich, und auch das seine Wispern war aus seiner Stimme verschwunden, »ich habe dir die opinio vulgi, die Treuherzigkeit des gemeinen Haufens, geglaubt, als ich aus meiner Zurückgezogenheit in deinen Kahn sprang. Ich habe nicht angenommen, daß du ein Fuchs bist, der einem hinten herum in die Beine fährt. Solltest du aber trotzdem einen derartigen Scherz planen, dann, mein Prinz, würde ich sehr gegen meinen Willen die Leitung dieses Kahnes übernehmen müssen, denn ich verstehe mich, wie ich dir schon andeutete, gar nicht übel auf das Rudern, und wir würden auffallend rasch in den acherontischen Gewässern anlangen. Begreifst du mich?«
Schlank, mädchenhaft hing die biegsame Figur, die fast um einen Kopf geringer war als die von Claus Beckera, an ihrer ausländischen Waffe, aber über das blasse, bartlose Antlitz lief zugleich ein so verbissener, warnender Zug, die gepflegte Rechte zuckte so bedeutsam an der dicken goldenen Kette, daß Claus, er wußte selbst nicht warum, von dem Gedanken gestochen wurde, man könnte dies Zierstück wohl auch dazu verwenden, jemand den Hals abzuschnüren.
Allein der Junge fürchtete sich nicht, keck flog er empor, und als er sich jetzt, um ein Haupt überragend, neben dem Fremden aufreckte, da leuchtete ihm von der Stirn stolz und rein der Helferwille der Jugend. Betroffen mußte der Landstreicher die unwillkürlich edle Art seines Fährmanns anerkennen, und während er seine zwiespältigen Augen eindringlich auf dem anderen ruhen ließ, drehte er nachdenklich und prüfend an seinen gelben Haaren. Er schien kein geringer Menschenkenner zu sein.
»Du kommst nur zu gemeinen Leuten«, sprach Nikolaus mit Aufgebot seiner hellen Vernunft, damit das Abenteuer nicht vollkommen Herr über ihn würde, »und deine schönen Worte gefallen mir wohl, obwohl ich sie nicht verstehe, denn mein Verstand ist ungelehrt.« Hier schwankte seine Stimme zwar ein wenig, und seine Fäuste wollten sich ballen, doch sofort gewann sein frisches Wesen wieder die Oberhand. Ja, er konnte seinen Gast jetzt sogar freimütig anlächeln. »Wenn es aber wirklich deine Absicht ist, bei uns eine Weile als Fischerknecht zu bleiben, weil du dich, wie du sagst, vor den Nachstellungen der Reichen und Mächtigen verkriechen mußt – wenn das alles wahr ist, dann will ich meinen Vater wohl dahin bringen. Denn, kuck, Fremder, du gefällst mir, und da wir selbst bedrückte und gepeinigte Leute sind, so kennen wir Hunger und Peitsche zu gut, als daß wir Verfolgten und Bettlern nicht gern weiterhelfen sollten. Nur eines« – und er wandte sich mit der ganzen Offenheit eines um Freundschaft Werbenden an den kleinen strohblonden Mann und streckte ihm die Hand entgegen, »sage mir, du meinst es doch redlich?«
Über den Nebeln war rot und blendend ein schmaler Abschnitt der Frühsonne in die Höhe gebrochen. Davon ränderten sich die schwarzen Wolken, und ein sengender Strahl spielte in das Boot hinein. Doch den Strohblonden schien die unerwartete Helligkeit zu stören, ungewiß scheuerte er sich hin und her, und während er sich ungemütlich in seine Lumpen hüllte, da warf er erst noch einen spähenden Blick auf die menschenleere Küste, bevor er endlich mit raschem Griff die dargebotene Rechte des Knaben an sich riß. Aber die zarten Finger preßten, daß Claus hätte schreien mögen.
»Komm, Kleiner«, sprach es wieder mit einer kosenden Mädchenstimme, »du verstehst dein Handwerk, bist ein Menschenfischer, wie ihn der Zauberer von Rom nicht besser brauchen könnte. Und willst du ein Zeichen dafür, wie sehr du meine arme Seele geangelt hast – hier – hier –« Ohne Besinnen sprengte er die goldene Kette vom Halse und drückte sie gemeinsam mit dem Hieber seinem Führer in den Arm. »Gib mir ein Stück Brot dafür, süßer Telemach. Aber schnell, schnell, denn mich lüstet nach einer Streu im Winkel des Stalles.«
Wohlwollend, fast zärtlich streichelte er dem verdutzten Jungen die Wange, dann duckte sich der Kleine und fuhr wie ein Wind an den Strand der Sassen.
IV
Es war eine lange Beratung erforderlich, bevor die Beckeras den Fremden zu dauerndem Dienst in ihrer Behausung duldeten. Zu verschiedenen Malen zogen sie, laut streitend, vor den Ziegenstall, wo der Ankömmling sich wie ein Igel in einer Ecke zusammengerollt hatte. Denn ein Landstreicher, der goldene Ketten verschenken konnte, erregte der Hausmutter unstillbaren Argwohn. Und dennoch schwieg sie und blickte mit mütterlicher Teilnahme auf die zierliche Puppe hinab, die, das Haupt mit den wirren blonden Haaren auf den Arm gebettet, einem arglosen Schlummer verfallen war. Zwar ihren Haupteinwand ließ sich die Kluge nicht rauben. Das Schmuckstück, das der Kleine sicherlich nicht auf ehrliche Weise erworben, das stopfte sie ihm gleich bei ihrem ersten gemeinschaftlichen Besuch hastig und abgeneigt unter das Heulager, und ihre Züge verfinsterten sich, als sie dabei bemerken mußte, wie sehnsüchtig ihr Sohn das Verschwinden der Schnur verfolgte.
»Teufelsgold«, sagte sie hart. »Fängt Seelen. Ich kenn' das.«
Kräftig stützte sie sich auf die offene Stalltür, und ihr Argwohn flog zu ihrem Eheherrn hinüber, ob er wohl das rasche Wort verstanden haben könnte. Allein der kranke Riese hatte sich längst entwöhnt, seinem Weibe nachzuspähen. Auch beschäftigten ihn seine eigenen Vermutungen viel zu gründlich, woher sich der Fremde wohl die blutige Narbe über der Stirn geholt haben könnte. Zu jener Zeit redeten solche Schrammen mit der Stimme unserer Zeitungen, anregend, jede ungeübte Vorstellung beflügelnd, und so kam es, daß auch dem großen, schlank gewachsenen Jungen die heimliche Parteinahme für den Fremdling beide Wangen färbte. Das Herumtasten, das Rätseln an einem bereits beneideten Leben, das trieb seine Einbildungskraft über Stock und Stein, durch Heldentum und undeutliches Verbrechen.
Es war eine Stunde des Erwachens.
Tief seufzte er auf, als seine dunklen Augen sich, durch ein Wort seiner Mutter aufgescheucht, von dem Hingestreckten trennen mußten.
»Mann«, forderte Hilda von ihrem Eheherrn, »was denkst du?«
Da besah sich der alte Claus Beckera nochmals eingehend den Hieber, den er fürsorglich an sich genommen, wog das feine, biegsame Eisen und darüber den merkwürdig verästelten Korb am Griff – ein Stück, wie es im Norden, allwo breite, gerade Schwerter geschmiedet wurden, nirgends im Gebrauch war, und dann schüttelte der Kranke von neuem nachdenklich das Haupt.
»Mutting«, flüsterte er mit offenem Munde, da sich seinem dumpfen Verstande die Herkunft und das Wesen des winzigen Kerlchens immer dunkler verschleierte, »Mutting«, meinte er und hob unsicher die Waffe, »er muß wohl von weit herkommen. Und daß ihn der Junge in der Spalte zwischen den Felsen gefunden – meiner Treu, ich wüßt' gar nicht, daß sich dahinter solch eine weite Höhle auftut –, ja, da möcht man wohl denken, daß der Mensch Grund hat, sich zu verstecken. Schnurrig – ist noch so jung«, setzte er wärmer hinzu.
»Nicht älter als ich«, fiel hier der Sohn lebhaft ein, der schon dafür zu kämpfen bereit war, an dem Schläfer einen Genossen gefunden zu haben.
Doch das Weib bog sich weit über die Stalltür, um dem Umstrittenen noch einmal gründlich das schmale Antlitz zu durchmustern. Dabei fielen der Kundigen die vielen scharfen Fältchen um den Mund des Fremden auf, und daneben entdeckte sie, wie genußsüchtig und verächtlich sich sogar im Schlummer die Lippen und Nüstern dieses angeblichen Knäbchens wölbten.
»Nein«, die Hausfrau richtete sich auf und entschied bestimmt, »der hat schon viel durchgemacht. Mag sich in Kot und auf Seide gewälzt haben. Und zählt wohl so beiläufig gegen dreiunddreißig Jahr.«
»Das wäre«, murmelte der alte Claus verdutzt und glättete sich verlegen den Bart. Aber gleich darauf sammelte er seinen Glauben zu der Meinung, die schon lange in dem Stillen nistete: »Kuck, Hilda, es sind wilde Zeiten, die werfen den Menschen hin und her. Ich merk's an mir, es ist eine Unruhe über die Armen gekommen, so daß keiner mehr weiß, wo er seinen Platz hat. Deshalb, Mutting, mein' ich, wer ein Haus hat und Weib und Kind, der soll solch Friedlosen nicht wegjagen, sondern festhalten, so er anwachsen will. Denn der Wind treibt uns alle. Heute mich, morgen dich. Wer kann wissen, wann wir selbst ausgerissen werden?«
Da schwiegen die Streitenden und spähten ängstlich über sich in den hellen Tag.
***
Als aber gegen Mittag das zierliche Knäblein fein und sittsam am Tische der Sassen in der Hütte saß, als es die wohlgeformten Beine hübsch rücksichtsvoll unter den Schemel zog, damit der ohnehin schmale Raum nicht unnötig verengt würde, als der blonde Gast nicht, wie die anderen, mit der Faust in die dampfende Schüssel voll Brot — und Käsesuppe langte, um seinen Anteil zu erwischen, sondern aus seinen Lumpen ein zinkiges Holzstäbchen hervorzog, womit er die Bissen säuberlich aufspießte, und wie der Fremdling vor allen Dingen mit seiner wohllautenden, kosenden Stimme bescheidentlich und höchst verständlich – ja ganz in der Sprache des bäuerlichen Mannes – die alten Beckeras über Herkunft, Stand und fernere Absichten belehrte, da zerstreuten sich allmählich die Bedenken der mißtrauischen Häusler, und ihr harmloser Sinn merkte gar nicht, auf welch feine und schmeichelnde Art ihr Widerstreben in seidene Fäden eingesponnen wurde. Wie wußte das kleine Kerlchen aber auch zu erzählen, wie rollten unter seinen Worten dichte Wolkenschleier in die Höhe, hinter denen die Küsten ferner Länder auftauchten, und Schlösser und Städte und Händel und Getriebe der Welt. Wo hatte er sich überall umgetan, in welch verschiedene Geschäfte und Gewerbe seine sanften Kinderhände gesteckt; und hauptsächlich, wie lebendig er Geschehenes und Gesehenes zu formen wußte, um es gegenwärtig auf die Diele der Sassenkammer hinzuzaubern, bald durch eine Bewegung, bald durch nachahmendes Spiel, das zog ihm seine Zuhörer willfährig entgegen. Und mit einem kaum sichtbaren Lächeln trieb er die gewonnenen Seelen vor sich her. Nur der junge Claus Beckera, der mit verkrampften Händen und keuchender Brust lauschend neben dem Stuhl des Fremden hing, als ob ihm der geistige Lauf noch immer nicht schnell genug ginge, ihm zitterten mitten durch seine leidenschaftliche Bewunderung hie und da die Einwürfe einer kühlen Vernunft hindurch, und dann kam ihm zwischen all dem bunten Maskenspiel der Einwand, warum wohl der Ankömmling zwei voneinander so gründlich verschiedene Sprachen redete. Denn das merkte der achtsame Scharfsinn des Jungen sofort, die Weise des Zierlichen klang anders, seitdem er sich an die Alten wendete. Einfach, schlicht, bauernmäßig, all der vornehme und unverständliche Putz fehlte, durch den er vorhin seinen Fährmann im Kahn so sehr gefesselt und geblendet hatte. Und der junge Claus erriet mit Widerstreben, daß der Angespülte offenbar einen gewichtigen Teil seines Wesens zu verdunkeln strebte, als ob gerade dasjenige Gefahr brächte, was dem nach Wissen gequälten Buben so köstlich und erstrebenswert erschien. Deshalb preßte der Junge auch widerwillig den Mund zusammen, und die Angaben des Fremden, die er jetzt auf Forderung der Alten über sein bisheriges Treiben machte, sie glitten belanglos und unwahrscheinlich an dem Aufgestörten vorüber. Nein, nein, schon jetzt beschloß er, er wollte binnen kurzem eine vertraute Stunde wahrnehmen, um den gewandten Taschenspieler härter zu prüfen. So wappnete sich Claus denn mit einer künstlichen Gleichgültigkeit, und doch, kaum hatte der strohblonde Mensch in seiner mitreißenden Lebhaftigkeit die Geschichte seiner Fahrten begonnen, da summte es dem jüngsten der Zuhörer auch schon vor den Ohren, und siehe da, ganz gegen seinen Willen schleppte ihn der starke, fremde Strom von bannen. Und es handelte sich doch nur um eine Begebenheit, absichtlich einfach und alltäglich ersonnen.
»Nichts für ungut«, hörte der Sohn den alten Beckera tasten, denn der Riese schämte sich, seine Wohltat an Bedingungen zu knüpfen. »Wie magst du dich heißen, Mann?«
Der Kleine zupfte an seinen gelben Haaren und lächelte unschuldig. Eine Erinnerung an seine Kindheit schien ihn zu haschen.
»Heino Wichmann«, erwiderte er, sich leichthin verbeugend, was er jedoch mitten in der Bewegung unterdrückte. »Meine Wiege hing in Hamburg zwischen zwei Lederriemen.«
Da streichelte der junge Claus unwillkürlich über den Schemel seines Gastes. Er wußte selbst nicht warum, aber aus dem Namen des Kleinen musizierte es auf, wie von Flötenspiel auf einer Kirmeß.
»Heino«, flüsterte er zärtlich.
Die Mutter jedoch schlug abwehrend mit der flachen Hand über den Tisch. »Und dein Vater?« fragte sie lauernd.
Heino Wichmann schloß das schwarze Auge. Er glich gänzlich einem guten sanften Kinde, als er nun ehrfürchtig vorbrachte:
»Ich brauche euch nichts zu verbergen. Mein Vater war ein zünftiger Sattler, und ich selbst hatte schon in seiner Werkstatt auf dem Mönkedamm mein Gesellenstück gefertigt, einen Kutschbock für den Herrn Alderman Tschokke, als mich der Rat mit anderer Jungmannschaft aushob, damit wir als hansische Besatzung drüben nach dem dänischen Schonen in das feste Schloß Helsingborg gelegt würden.«
»Dänemark«, atmete der alte Claus vor sich hin und hob witternd die Nase gegen die Fensterluke, hinter der sich der blaue Strich des Meeres hob und senkte. Für ihn lag das Nachbargestade unmeßbar fern hinter den schaukelnden Glashügeln. »Schonen? Helsingborg, so weit?« dachte er kopfschüttelnd.
Sein Sohn aber fühlte sich vom Erdboden aufgehoben. Waren doch an ihm erst gestern die Sendlinge einer bunten, kaum begreifbaren Gemeinschaft vorübergezogen, die seidenen Fahnen ihrer Gewandung hatten ihn gestreift, halbverstandene aufregende Andeutungen sein gärendes Hirn getroffen, jetzt drängte es den auf dem Gewoge der Unwissenheit wütend Herumgeworfenen, sich irgendwo anzuklammern.
Wundersam bedrängt spannte er den braunen Lockenkopf in beide Hände, und während er bohrend vor sich hinstarrte, löste es sich wie die Hülle eines inneren Traumes von ihm ab:
»Dort herrscht ein Weib. Wie war's doch? – Margareta.«
Der Ausruf klang wie das Sehnen eines Eingekerkerten, wie der Hilfeschrei eines Unfreien, der in einer Grube hockt und den Himmel um Licht anfleht, und sofort richteten sich auch die Häupter der Seinen unheimlich berührt und abmahnend gegen den in inneres Schauen Verlorenen.
Was sollte das? Woher kam dem Ungelehrten diese Kunde? Und konnte dem Sassensohne der Drang nach so gewaltigen Dingen nicht Unsegen stiften? Denn darauf kam für sie alles an. Man wollte doch ungestört leben!
Auch über das halbgeschlossene schwarze Auge des Gastes war bei dem unerwarteten Einwurf ein kurzes Zucken gelaufen, dann jedoch bewegte er gleichgültig die schmalen Schultern, und als wäre nichts besonders Auffälliges geschehen, fuhr er ruhig in seiner bescheidenen Schilderung fort.
»Ja, ja, Margareta«, nickte er, sich schwierig besinnend. »Ich meine, so heißt die Wittib. Hat ein kleines zartes Büblein, für das sie die Herrschaft in acht nimmt. Mag sie. Was schiert uns Geringe die Plackerei der Großen? Wenn wir nur unsere Löhnung pünktlich erhalten und sonst in Ruhe unser Brot essen können.«
»Ja«, stimmte Hilda zum erstenmal gierig zu, »das ist das rechte.«
Den alten Claus dagegen zog es aus dem Allgemeinen zu etwas Näherem. »Nun«, hüstelte er gespannt, »habt ihr Hansischen pünktlich eure Löhnung erhalten? Habt ihr in Ruhe euer Brot gegessen?«
Jetzt hob auch der junge Claus das Haupt, und aus seinen schwarzen Augen züngelten ungestüme Flammen nach Abenteuer und Erlebnis.
»Wie war's?« stammelte er.
»Unruhig, lärmvoll«, sagte der Kleine und faltete die Hände auf dem Tisch wie ein artiges Kind, das eine Geschichte wiedergeben soll. »Ihr könnt euch denken, die Frau hat viele Widersacher innen und außen. Ist eben doch ein Spinnrocken, dem sich der Schnauzbart ungern beugt. In der Nähe streckt, wie man sagt, der dürre Schwedenkönig Albrecht die Finger nach dem saftigen Erbe und treibt seinen ausgehungerten Spott über den Unterrock und die Kunkel. Da könnt ihr in jeder Schenke hören, wie er erst jüngstens der »Dirne der Pfaffen‹ – also schimpft er die Regentin – feierlich Schere und Fingerhut überreichen ließ nebst einem Wetzstein, damit sie ihre Nadeln daran schärfe. Und innen da schreien die Krämer darüber, weil sie uns Hansische in Helsingborg, Falsterbo und Ikanör einliegen ließ, denn wir Deutschen, heulen sie, nähmen ihnen den Markt. So kommt es dann oftmals zu Aufläufen, und bei einer solchen Zusammenrottung, seht ihr, da zeichnete mir ein vorlauter Schwertfeger seine Zunftmarke auf die Stirn.«
Hier lachte der Strohblonde wie über einen wohlgelungenen Streich, wickelte sich die gelben Haare spielend um den Finger und ließ die wohlgeformten Beine vergnügt schaukeln.
»Und du?« stotterte Nikolaus erwartungsvoll, denn seine verehrungsheiße Hingabe an den Fremden verlangte dringend von Gegenwehr und scharfer Vergeltung zu hören. »Was tatest du?«
»Ich?« Erst maß der Kleine die alten Beckeras, in deren stumpfen Gesichtern sich schweigend der Abscheu vor Bürgerkampf und Söldnerübergriff malte, dann hob er ebenfalls abgeneigt die Achseln, um sofort in seiner leisen, unschuldigen Art zu hauchen: »Mir liegt nichts an derlei Ehrenschuld. Daran dürft ihr nicht glauben. Gott bewahre, ich bin ein Bürgersohn und will nur hoffen, daß dem Ehrsamen der kleine Hautritz gut bekommen sei.« Und damit er nicht tiefer in diesen Punkt verstrickt würde, begann er emsig auf der rohen Tischplatte hin und her zu zeichnen, als ob er das folgende schriftlich niederzulegen hätte. »Wie es aber so geht, ihr guten Leute, es erhob sich trotzdem ein wildes Geschrei bei den Dänischen, und schließlich waren unsere Hauptleute um des lieben Friedens willen gezwungen, etliche ihrer Leute von sich zu tun. Darunter wunderbarerweise auch mich, Heino Wichmann.«
»Heino«, wiederholte hier der junge Claus, abermals von Liebe getroffen, und legte seinem Gaste zärtlich die Rechte auf die Schulter. Gepackt wandte jetzt auch der Kleine dem glühenden Jungen sein schmales Antlitz zu, seine beiden Augen öffneten sich weit und zogen förmlich die flatternde Seele des Unbehüteten an sich. Das geschah aufblitzend, schnell, wie ein einfallender Lichtstrahl. Die alten Beckeras merkten nichts von dem geschlossenen Bund, weil sich ihren Werktagsblicken nur enthüllte, wie das Kerlchen emsig auf den Tisch hämmerte, gleich jemand, der das Wichtigste rasch vorzubringen wünscht.
»Es lag gerade eine Freibeuterkogge unterhalb Helsingborg«, bemühte er sich, unauffällig vorüberzugleiten, und man konnte meinen, jemand, der eine dünne Eisdecke unter sich brechen spürt, wage hastig prüfende Sprünge dem Lande zu. »Ein mächtiges Schiff«, wollte er fortfahren, »das dort Handel trieb. Dorthin brachte man uns.« Allein mitten in den flüchtenden Sätzen fand er sich festgehalten, gepackt von sechs ängstlich zitternden Augen, die sich wie eine Kette über seinen Weg spannten. Zugleich flüsterten und schrien heisere Stimmen, in Beklemmung und Schrecken, durcheinander.
»Wohin brachte man dich, Unglücklicher? – Wohin?«
»Gott, auf ein Fahrzeug der Schuimer, der Schwarzflaggen, oder wie man sie sonst nennt«, huschte der Kleine mit dem Ton der Gleichgültigkeit weiter, obwohl seine Finger ihr Spiel auf der Tischplatte viel unruhiger fortsetzten. »Sie werden ja überall gern geduldet, die Freunde des armen Mannes, weil sie für jedermann eine Zuflucht in der Not sind, und hauptsächlich, da sie für billiges Geld sonst unerschwingliche Dinge ins Land bringen. Gewürz und Tuche, Bier und Rauchwerk. Nicht wahr, so meint man doch? Zudem, meine Freunde, wurde der Seeadler von einem Gewaltigen der Schuimer kommandiert, der großes Ansehen weit umher genoß. Kurz, dieser Kapitän sollte uns Verwundete um Schiffsdienst und ohne Fährgeld heimführen. So hatte Frau Margareta verabredet, denn sie tut ihren Beutel für abgediente Leute nicht eben weit auf. Aber seht, ihr Lieben, auf der Heimreise unter den schönen roten Segeln, bei dem leichten Verdienst und mitten zwischen den freien Menschen, denen alles gehört und die überall ihre Heimat haben, da fing sich der Hauptmann ohne große Mühe meine Genossen ein, einen nach dem anderen, da wurden sie »Gottes Freund und aller Welt Feind«, wie ihr gotteslästerlicher Eid lautet, und nur ich –«
»Und nur du?« lallte der junge Claus aus seinem wachen, düster lodernden Traum heraus und packte den Erzähler ungestüm an der Brust, als ob er ihn hindern wollte, von dem gespenstisch mitten durch die Stube rauschenden Schiffe zu entwischen.
Der andere schüttelte ihn überraschend kräftig ab.
»Laß mich«, wehrte er sich. »Mein Leben riecht nach Leder und Pfriem. Mich zieht es nach einem warmen Ofen und friedfertigen Tagen. Wo ich die finde, da wohnt mein Heiland. Deshalb, mein Büblein, siehst du, sprang ich eines Nachts, gerade als die Schuimer hier dicht vor der Küste unter Wind lagen, denn sie lauerten auf das Schiff der dänischen Gesandten – aus diesem Grund sprang ich in Gottes und aller Heiligen Namen über Bord, bekam den Fels zu packen, kletterte in die Höhle, und von dort hast du mich hervorgezogen. Dank sei dir und allen ehrlichen Menschen. Und jetzt« – geschmeidig glitt er von dem viel zu hohen Stuhl herunter, und aus den wiegenden Schritten, mit denen er sich aalglatt durch den engen Raum wand, wurde allmählich ein munterer Tanz. Es zuckte und sprang in allen Sehnen des Kleinen, die langen gelben Haare flatterten ihm wirr um die Schläfen, und den verständnislos hinschauenden Häuslern kam es vor, als ob auch die ungleichen Augensterne des Fremden in dem blassen Angesicht mithüpften. »Jetzt«, schmeichelte er und streckte die Arme, so daß sich ganz unerwartet ein paar derbe, harte Muskeln unter seinen Lumpen zeigten, »jetzt will ich euch weisen, wie man als Ruderknecht das Meer schlägt. Seht so – so, mit solch langen Strichen, wie man eine schöne Wange streichelt. Und dann die Fische. Ich kenne den Pfiff eines Bacchanten. Auf das Liedlein strecken sie halb toll die grünen Schnauzen aus dem Wasser. Oh, laßt mich nur machen.«
Plötzlich hielt Heino Wichmann auf seinem Weg inne, als besänne er sich, daß er vor den armen Sassen vielleicht allzu wunderliche Dinge geäußert. Doch die Beckeras blieben angeschmiedet an ihren Plätzen, in wesenlosem Hinbrüten darüber, wie solch grelle, blitzende Heiterkeit sich in ihrer dunklen Bohlenkammer entladen könnte. Und nur die Seele des alten Claus riß und zerrte an dem Widerhaken, an dem sie sich in dumpfer Gefügigkeit wand, denn von all den schmackhaften Ködern war ihm eine Lockspeise zwischen den Zähnen aufgequollen, bis er sie nicht mehr herunterwürgen konnte. Halb murmelnd, in unbestimmter, ferner Ahnung stieg es aus seiner trockenen Kehle, dazu hielt er die Beine weit von sich gestreckt, gleichsam zum Schutz gegen die erwartete Antwort.
»Nichts für ungut. Wichmann, wie sagst du doch – ich meine bloß –, wie hieß der Kapitän, der dich brachte?«
Kaum war das gleichgültige Wort verklungen, da war es mit dem Hüpfen und Springen des Kleinen vorbei. Eingefangen wurzelte er in einer Sonnenlache auf dem Fußboden fest, die unruhigen Augen begannen wieder von einem zum anderen zu huschen, und die Stimme verfiel von neuem in das harmlose Kinderwispern, als er nach einigem Zögern erwiderte:
»Ich sagte schon, es war ein Ansehnlicher unter den Freibeutern. Gödeke Michael.«
»Gödeke? – Gödeke Michael?« wiederholten die drei, langsam in die nächtige Kluft ihres Gedächtnisses hinabsteigend.
Eine Weile herrschte Stille, jeder horchte in den dunklen Schacht hinunter, gespannt, angestrengt, ob nicht dem Laut ein Echo heraufschalle, bis endlich vor dem kranken Fischer etwas Gestaltloses, mit Schrecken Bekleidetes emportappte.
»Laß mich – laß mich – Hab' doch schon mal gehört – Singsang – wie war's noch?«
Noch gelber stach das Antlitz des Leidenden unter dem wirren Bart hervor, da er mit Mühe die einzelnen Fetzen zusammensuchte. Scheu, verstohlen summte er vor sich hin:
»Der Gödeke, Gödeke Michael.
Der führt auf dem Schwarzschiff allein den Befehl.«
Da stürzte es aus dem Kleinen wie gezogen hervor, unbekümmert darum, was weiter daraus entstehen könnte:
»Seine Brust ist wohl eine Elle breit.
Den Bedürftigen schenkt er Speise und Kleid –«
Mutter und Sohn aber steckten die Köpfe zusammen, sie schränkten ihre Hände fest ineinander, und der Atem hörte ihnen auf zu wehen, als die anderen nun lauter anstimmten:
»Und tragt ihr Armen am Leben schwer –
Das Recht, das wohnt allein auf dem Meer.
Dort richtet die Reichen an Leib und Seel
Der Gödeke – Gödeke Michael.«
Viele Tage strahlten aus dem Meer und sanken erloschen wieder dahin zurück. Die Jahreszeiten stiegen auf Schneeschauern und Sonnenwolken an die Küste, gleich fremden Eroberern, die sich dann tief im Lande verlieren, und aus Heino Wichmann, dem mädchenhaften Knäblein, dem blondhaarumflatterten Geheimnis, war etwas Alltägliches geworden. Ein Ruderknecht, der seinen Seedienst willig verrichtete und von den Katenleuten nicht geschont wurde. Selbst dem Vogt, der sich bald nach der Ankunft des Fremdlings hartnäckig nach dem Woher und Wohin erkundigt hatte, leuchtete es ein, daß dieses zierliche Geschöpf für die Ruderbank geboren sein müsse, und er lobte heimlich die geschmeidige Gewandtheit, die der Kleine in der Führung eines Bootes an den Tag legte. Ja, sogar der auffallende Drang des Fremden, immer wieder zur Tag — und Nachtzeit in die Wogen hinauszuschneiden, er wurde schließlich von seinen neuen Genossen als der selbstverständliche Trieb eines dem Handwerk mit ganzer Seele Hingegebenen erachtet. Worüber man sich jedoch stets von neuem wunderte, das war die unermüdliche Zähigkeit, jene aus allen Gliedern des Kleinen rastlos quellende Frische, die an keinem Ding vorbeiglitt, die von jedem etwas wußte und sich überall zu betätigen strebte.
Heino Wichmann vermochte der Hausfrau höchst merkwürdige Aufschlüsse über Kochkunst und schmackhafte Gerichte zu erteilen, von denen die unverbildete Seele Hildas nicht nur bisher kein Sterbenswort geahnt hatte, sondern die ihre harmlose Rauheit zuerst auch als etwas beinahe Schädliches einschätzte. Aber mit der Zeit wurden auf dem Herde unter dem Rauchfang doch allerlei Versuche unternommen, und während der kleine Strohblonde mit verschmitztem Lächeln die verschiedenartigsten Kräuter und Wurzeln in den großen Kessel schleuderte, da zog von fern der süße Duft einer etwas milderen Lebensführung unter das Strohdach. Man schleckerte und schmatzte und erfuhr zu nicht geringem Befremden, wie köstliche Erfindungen zu Padua, in Wien oder gar zu Paris die Köche großer Herren aus Pilzen, aus Schaltieren und gedörrtem Fischfleisch ersonnen hätten. Wunderlich! Heino Wichmann war weit herum gewesen. Seine doppelfarbigen Augen hatten selbst auf das Geringste Obacht gegeben. Hilda begann ihm abzulernen. Nur zum Spiel, allmählich aber wurde eine Sucht daraus.