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Buch lesen: «Reise zur deutschen Front», Seite 5

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Man zeigt mir ein deutsches Geschoß und ein belgisches von gleichem Kaliber – die beiden sehen nebeneinander aus wie ein Mann und ein Kind. Solange die Sache nur Geplänkel ist, läßt man die belgischen Kinder fliegen, um deutsche Munition und deutsches Geld zu sparen. Wird's ernst, dann kommen unsere eisernen Männer dran. Ganz fürchterlich schlagen sie drein. In einem Kellerloch sind sie zu hohen Stößen aufgeschichtet, um ihrer Stunde zu warten.

Nun spaziere ich am Waldsaum entlang, wo ich die französischen Granaten einschlagen sah. Zwischen fünfzehn Explosionstrichtern, die gegen die stubengroßen Granatenlöcher auf dem Fort des Aivelles aussehen wie Spucknäpfe, finde ich vier »Ausbläser« und drei »Blindgänger«.

Durch Schlupfwege im verwüsteten Walde geht's zu einer Stelle, die genau so aussieht wie alles andere Gehölz. Hier soll ich abermals etwas entdecken. Erst nach längerem Spähen bemerke ich, daß aus einer Bodenstelle des gegen die französischen Linien gerichteten Waldsaumes etwas Bläuliches herauswirbelt. Dampft die Erde? Oder ist's Ofenrauch? Oder Zigarrenqualm? Über ein verstecktes Trepplein geht es hinunter. Das ist die Beobachtungsstelle der Batterie: ein Lehmsalon von etwa vier Quadratmeter; warm wie ein Backofen; immer schwitzen und triefen die Wände; ein Rauch, der die Augen zerbeißt; und ein Zwielicht, an das ich mich erst gewöhnen muß, bevor ich zu sehen beginne. Beim Ausguck steht das Scherenfernrohr; in die Lehmwand sind drei Telephonapparate eingebaut, und eine Ofenröhre dient als Sprachrohr. Ganz mystisch berührt es, wenn aus der Erde heraus die Stimmen quellen, die von der Batterie kommen, vom Unterstand der Mannschaft oder vom Offizierskellerchen. Mit uns dreien, die wir kamen, sind nun sieben Leute in dem kleinen Raum. Umdrehen kann man sich nimmer. Aber man plaudert und lacht – und in dem kleinen Dreckloch ist ein frischer, gesunder Humor, den ich mit Herz und Händen fassen und heimschicken möchte.

Ich sehe noch das feine Kellerchen, in dem der Batterie-Offizier sich aufhält. Das ist ein Lebenskünstler. Er hat ein Tischerl, ein Rokokofauteuilchen und ein zierliches Boudoirsofa, das ihm als Bett dient. Um darauf zu schlafen, ist es freilich viel zu kurz. – »Aber«, sagt er, »wenn man die Beine gegen die Wand hinaufstellt, liegt man ganz ausgezeichnet!« Diese Wand ist mit persischen Teppichen bekleidet, die aus einer kaputtgeschossenen Villa stammen; immer dampfen sie im Kampf zwischen Wärme und Feuchtigkeit, und ihre Farben beginnen unter sprossendem Schimmel zu erlöschen. »Wenn 's Frühjahr wird,« sagt der junge Offizier mit seinem gesunden Lachen, »dann kann ich da Schwammerln züchten! Die eß ich gerne.«

Durch einen Laufgraben, der nicht tief genug ist, um die Köpfe völlig zu schützen, müssen wir geduckt hinschleichen. Dieses stete Niederbeugen des Gesichtes hat etwas Gutes: man sieht immer ganz genau, wie tief die Stiefel in den vom Regen durchweichten Lehm hineinquatschen. – (Neulich versank ein allzu gewichtiger Reserveleutnant bis zu den Hüften; er selber konnte sich nimmer freimachen; als man ihn herauszog, hatte er keinen Stiefel mehr, nur noch einen Socken.)

Immer ist ein feines Pfeifen in der Luft. Und von der Tiefe des Feldhanges, der sich hinuntersenkt gegen das Tal der Somme, klingt ununterbrochen ein lustiges Knallen herauf, als stände da drunten die Schießstätte des Münchner Oktoberfestes.

Einmal, bei einer Biegung des Laufgrabens, sieht man hinunter ins Tal. Bis in weite Ferne kann ich mit dem Glas die aufgeworfenen Lehm- und Kreidesteinwälle der deutschen und französischen Schützengräben verfolgen. Manchmal nähern sie sich einander bis auf siebzig Meter und ziehen sich wieder auf drei-, vierhundert Meter zurück. Diese in die Ferne laufenden, gelben oder weißgrauen Striche bilden seltsame Ornamentlinien – und diese kunstvolle Durchackerung der Natur läuft jetzt von der Kanalküste durch Nord- und Ostfrankreich bis gegen Basel. In diesen Ackerfurchen des Krieges liegt eine Million unserer Feldgrauen und wacht in verläßlicher Treue bei Tag und Finsternis, um unsere deutsche Heimat vor den Bildern der Vernichtung zu behüten, die ich hier auf französischem Boden sehe bei Schritt und Tritt. Seid dankbar, ihr Deutschen daheim! Bleibt ruhig, zuversichtlich und opferfreudig! Und denkt bei jedem Atemzuge an das Kaiserwort: »Soldat und Bürger, die beiden müssen einander helfen, so gut sie können!«

Nirgends in der Landschaft ist ein Mensch zu sehen, alles öde, wie ausgestorben. Drunten im Tal, zwischen den deutschen und feindlichen Erdwällen, entdecke ich mit dem Glas auf einer fahlen Wiese zwei dunkelblaue Körper. Sie bewegen sich nicht, haben aber doch Menschenform und sehen aus wie friedliche Schläfer, die sich mit ihren Mänteln bedeckten: zwei gefallene Franzosen, die der Feind nicht zu holen und zu bergen wagte. So liegen die beiden schon seit dem 30. Oktober. Früher hatten sie vom Morgen bis zum Abend krächzende Gesellschaft; seit Wochen sind auch die Raben ausgeblieben.

Der Laufgraben mündet in einen tiefen Lehmkessel. Früher war da eine französische Stellung, die zurückweichen mußte um zwei Kilometer; noch sieht man die Feuerlöcher und die aufgeschütteten Deckungen, Feldflaschen, Konservenbüchsen, auch eine rote, vom Regen fast farblos gewordene Reithose. Und zwischen Stauden guckt aus der Erde der stumme, grinsende Tod heraus. Ein gefallener Franzose! Seine Kameraden, denen nicht die Zeit blieb, ihn zu bestatten, haben ihn nur fußhoch mit Erde bedeckt. Der Regen hat die Schollen halb wieder davongeschwemmt. Eine skelettierte Hand, die noch im blauen Soldatenärmel steckt, greift sehnsüchtig heraus ins Leben, und der ganze Kopf liegt frei, fast schon ein Totenschädel, aber noch mit Augenbrauen und Haarbüscheln. Die Hirnschale ist völlig zertrümmert – dieser Franzose hatte das Unglück, einem bayerischen Gewehrkolben in den Weg zu geraten.

Das Bild, das sich da herausstahl, aus der gelben Erde, ist nicht widerlich, nicht ekelerregend. Nur ernst, tiefernst und erschütternd ist es.

Du stiller Schläfer! Wer warst du? Wie klang dein Name? Wer weint um dich? Aus welchem Glück bist du herausgefallen, weil England es so begehrte von dir? Wir Deutschen hätten dir Leben und Namen und Glück gelassen. Aber England will bessere Geschäfte machen und seine Dividenden aufwärtsschrauben. Drum mußte dein Leben hinuntersinken! Bist du, früher ein Tor um Englands willen, jetzt unter der Erde ein Wissender geworden? Willst du wieder herauf in den Tag und die Hand erheben, um vor deinem Volk und Lande gegen den britischen Handelsmann zu klagen? – Der Schläfer gibt keine Antwort. Er schweigt, wird ewig schweigen.

Ich wende mich erschüttert ab. Weiter! Wieder in einen Laufgraben hinein, der sich immer tiefer in die Erde wühlt! Eine Wendung, und ich bin im Schützengraben. In langer Zeile seh' ich die Feldgrauen, nein, die Lehmgelben, bei den Schießscharten stehen. Scharf und hastig knallen die Schüsse, hin und her. Und immer wieder fliegt eines von den unsichtbaren Vögelchen, die so wunderlich pfeifen, über unsere Köpfe hinweg, surrt in die Erde hinein oder schlägt mit hellem Klirrton gegen einen Stahlschild.

Etwas Heißes ist in mir. Der schwüle Atem des Krieges hat mich angehaucht.

8

30. Januar 1915.

Eine tiefe Erregung brennt mir in allen Nerven. Das Herz schlägt mir bis in den Hals herauf.

Bei jedem Blick, bei jedem Schritt im Schützengraben seh' ich die tapfere Mühsal, die mutige Beharrlichkeit und treue Ausdauer unserer Feldgrauen, deren Uniformsfarbe völlig verschwindet unter dem gelben, klumpigen Lehmbehang.

Alle zehn Schritte steht bei einem kleinen, mit Bohlen ausgelegten Guckloch oder bei den schmalen Schießscharten der Stahlschilde ein Wachtposten mit blitzenden Späheraugen, in den von Nässe und Kälte zerschrumpften Händen das schußbereite Gewehr. Immer wieder sticht dieses scharfe Knallen in die dunstige Luft, hier im Graben und drunten im Tal, und immer wieder geht dieses feine Pfeifen der Kugeln über unsere Köpfe weg. Keiner von den Wachtposten kümmert sich um uns, keiner salutiert die Offiziere, die mich führen, jeder ist mit gespannter Aufmerksamkeit bei den feindlichen Dingen, die da draußen sind.

Von denen, die nicht auf Wache stehen, rasten die einen, die anderen arbeiten. Hier wird hastig geschaufelt, um den Schutt und Schlamm der vom Regen unterwaschenen und heruntergerutschten Lehmwände aus dem Graben zu werfen, eine Erdbewegung, die bei schlechtem Wetter ununterbrochen durch Tage und Nächte fortdauert. Dort werden Entwässerungskanäle gezogen und Löcher gegraben, in denen das Regen- und Sickerwasser versitzen kann.

Der Boden des Grabens ist, weil es einen Tag lang nimmer geregnet hat, schon leidlich trocken; aber die mannshohen Wände sind so klebrig, daß sich bei jedem stützenden Griff alle Finger gelb umwickeln. Und so eng ist der Gang, daß man bald rechts und bald links mit Ellenbogen und Schultern, mit Knien und Hüften, beim Umdrehen und Ausweichen auch mit Brust oder Rücken an diesen Lehmteig anstreift.

Jene Grabenschützen, die ein bißchen rasten können, sitzen oder liegen in den winzigen Schlupfen, die unterhalb der Schießscharten in die Lehmwände hineingehöhlt sind. Jedes Unterstandsloch hat knapp so viel Raum, daß zwei Soldaten sich nebeneinander zusammenhuscheln können; Wände und Decken sind manchmal, nicht immer, mit Brettern ausgepölzt; der Boden ist handhoch mit Stroh belegt, meist mit ungedroschenem Getreide, das von den Feldern weggerafft wurde; Mäntel, Zeltbahnen und Wolldecken, die in den Nächten vom Tropfwasser durchnäßt wurden, sind neben den Einschlupflöchern zum Trocknen aufgehängt; zuweilen ist in die Seitenwand der Löcher mit einigen Steinen ein kleiner, urweltlich ausschauender Ofen eingemauert, in dem die feuchten Prügelchen glühen und qualmen. Manche der Löcher sind mit Säcken verhängt, andere haben ein schützendes Türchen, das meist nur aus zwei oder drei zusammengenagelten Brettstücken besteht; aber auch feineres Material wurde zu diesem Zwecke verwendet: der grüne Fensterladen einer Villa, eine polierte Schranktüre, das bunt verglaste Fenster eines Gartenhäuschens; sogar die Kupeetür einer Droschke ist vertreten – alles herbeigeschleppt in finsteren Nächten, und an all diesen Dingen ist die Farbe halb verschwunden, alles ist gelb, alles gesprenkelt von den Griffen der lehmigen Hände.

In diesen Löchern sitzen die Rastenden und schwatzen ruhig und heiter; jene, die in der Nacht bei den Schießscharten wachen mußten, liegen jetzt am Tag in einem so bleischweren Schlaf, daß kein lautes Wort und kein knallender Gewehrschuß sie zu wecken vermag; andere liegen auf dem Bauch, benützen den Tornister als Schreibtisch und kritzeln einen Kartengruß, der in die Heimat wandern soll.

Von solch einem Schreibenden sah ich den Körper und die langsam bewegte, schwere Hand. Ich frage in das Loch hinein: »So? Wird an den Schatz geschrieben?« Da dreht sich ein blondbärtiges, strenges Gesicht herum, zwei blaue Mannsaugen sehen mich aus dem Zwielicht heraus sehr mißlaunig an, und eine unwillige Stimme sagt: »Was glaubst denn? An d' Frau!«

Ich kann nicht schildern, wie dieses schöne grobe Wort auf mich wirkte. Es war mir wie ein wundervolles Lied von der redlichen Herzensreinheit dieses deutschen Mannes. Seine Frau, seine Kinder, seine Heimatstreue und seine Soldatenpflicht – das ist seine Welt. Was anderes gibt es nicht für ihn. Und wie dieser eine, so sind Tausende, sind Millionen der Unseren. Wer will uns besiegen?

Auf- und niederklimmend durch den engen Graben, stapfe ich an hundert Lehmgelben vorüber, an vielen Dutzenden von diesen Schlupfen und Löchern. Ich höre nimmer die Schüsse knallen, höre nimmer das Pfeifen der bleiernen Vögelchen, die über uns wegfliegen oder in die Lehmwälle preschen. Immer muß ich schauen, immer vergleichen zwischen der heldenhaften Geduld, die ich hier sehe auf Schritt und Tritt, und zwischen der nervösen und krittelnden Ungeduld, deren wir uns schuldig machen in der Heimat. Und immer muß ich rechnen: daß diese Tapferen seit Ende September, die mit Arbeit ausgefüllten »Ruhezeiten« abgerechnet, in diesem Graben und in diesen Lehmlöchern volle sechzig oder siebzig Tage und Nächte ausgehalten haben, ohne an Kraft und Gesundheit einzubüßen, ohne von ihrer treuen Beharrlichkeit, von ihrer geduldigen Ausdauer nur eine Faser zu verlieren. Nicht verloren haben sie, nein, sie haben noch gewonnen. Einer sagt zu mir: »Z'erst is mir's schon a bisserl hart worden. Jetzt kennt man sich besser aus und weiß, wie man's machen muß. Auf d'Letzt lernt der Mensch alles.«

Mir werden die Augen feucht, und eine Weile vermag ich nimmer zu reden. Immer brennt die Frage in mir: »Was hat der da als Soldat geleistet, was ich als Bürger?« Ein bißchen gezahlt hab' ich, ein bißchen Geld eingebüßt, einen Teil meines Einkommens verloren, fast das ganze. Und da glaubte ich immer, was wunder ich leiste und trage und erdulde um meiner Heimat willen! Jetzt bin ich klein und stumm. Und eine heiße, schmerzende Scham ist in mir.

Einer von den Gelben sitzt in seinem Lehmloch neben dem heftig rauchenden Steinherdchen. Er scheint sich sehr wohl zu fühlen, schneidet feine Scheibchen sorgfältig und liebevoll von einer heimatlichen Speckschwarte herunter und schmaust.

Ich frage: »Schmeckt es?«

Da nickt er lachend: »Ah ja! A bißl ebbes darf man sich schon vergunnen. Wer weiß, wie lang 's dauert?«

Jetzt hör' ich plötzlich die Schüsse wieder, höre das Pfeifen der Kugeln. Und nicht weit von der Stelle, wo ich stehe, vernehm' ich einen wütenden Fluch: »Himi Herrgott Kreizteifi überanand!« Erschrocken springe ich hin. Ein langer Kerl mit zausigem Rotbart steht bei einer Schießscharte und repetiert das abgeschossene Gewehr. »Was ist denn,« frage ich, »sind Sie verwundet?«

»I? Ah na! Aber da drunt, an dem roten Stadel, da is a Loch. Da schießt allerweil einer außi. Und dös Luder kann i net derwischen. Allweil pulver i ums Loch umanand. Nie bring' i's sauber hin.«

Ich gucke neben dem Mann durch die Schießscharte hinaus und ins Tal hinunter. Der Ausschnitt der Landschaft, den ich sehe, ist wie ein Bild in hölzernem Rahmen: ein Stück Talgelände, die Erdwälle des französischen Schützengrabens und in der Mitte des Bildes ein halb in Schutt geschossenes, tot und öde liegendes Dorf mit umgestürztem Kirchturm und ausgebrannter Kirche. Alles, was Leben heißt, scheint erloschen da drunten. Aber Schüsse knallen, bald hier, bald dort; man sieht keinen Rauch, sieht keinen Feuerstrahl, weiß nicht, woher die pfeifenden Vögelchen kommen. Jetzt entdecke ich den »roten Stadel«; es ist ein plumper Bau aus Ziegelsteinen; und mitten in der roten Mauer ist ein kleiner, runder, schwarzer Fleck, ein in die Mauer geschlagenes Schießloch; von hier oben sieht es aus wie ein Tintenfleck, in Wirklichkeit mag es so groß sein wie ein Hut. Vierhundert Meter sind es bis dort hinunter. Eine feste Hand und ein sicheres Auge gehört dazu, um über solche Entfernung eine Kugel richtig auf den Fleck zu bringen. Ich gucke mit dem Feldstecher. In dem Loch ist nicht das geringste zu sehen, aber rings um den schwarzen Fleck herum erkenne ich an der roten Mauer die Einschlagtupfen der Kugeln, die umsonst da hinuntergeflogen sind.

»Wart', Brüderl,« sagt der Rotbärtige, noch mit heißem Zorn in der Stimme, und schiebt den Gewehrlauf langsam durch die kleine Scharte des Stahlschildes hinaus, »jetzt wird amal aufpaßt, urdentli!«

Drunten knallt es, der französische Vogel pfeift, und über unseren Köpfen spritzt der Lehm auseinander. Ich mache flink einen Schritt nach rückwärts, drehe mich um dabei – und muß herzlich lachen. Neben einem Gängelchen, das seitwärts hinaus gegraben ist, seh' ich eine kleine Holztafel hängen mit der Inschrift: »Zur Latrine und zur Kochstelle! Bitte nicht verwechseln!«

Solcher Heiterkeiten sind im Schützengraben neben der schlummerlosen Gefahr noch viele zu finden. Ein paar Dutzend Schritte weiter, neben dem Türchen, hinter dem der Unteroffizier seinen Nachtschlupf hat, steht angeschrieben: »Villa Granateneck«. Dieser Bezeichnung ist noch das lyrische Motto beigefügt: »Im tiefen Keller sitz' ich hier!« Und eine steil nach abwärts führende Stelle des Schützengrabens, die dem feindlichen Feuer ausgesetzt war und deshalb mit Wellblech und dick mit Erde überdeckt wurde, trägt die Inschrift: »Nordfranzösische Rodelbahn«.

Solcher Humor in einer Luft, in der bei jedem Kugelpfiff der Tod auf dem Sprunge nach einem deutschen Leben steht, ist nicht allein als der Ausfluß derber Gesundheit und guter Rasse zu erklären. Der schöne, klare Brunnen solch unverwüstlicher Heiterkeit am Rande des immer harrenden Grabes kann nur aus dem kraftschenkenden Bewußtsein redlichster Pflichterfüllung strömen.

Von dem Frohsinn, den ich hier sehe und höre, fliegen meine Gedanken immer heimwärts. Es ist wahr: wir in der Heimat leisten viel, Tausende leisten weit über ihre Kräfte, und gerade hier, auf erobertem Boden, höre ich immer wieder die herzlichste Anerkennung unseres Heimatwerkes. Aber neben den Opferwilligen gibt es auch Drückeberger, Vorsichtige, Zurückhaltende und Ängstliche. Täten wir alle daheim so bis zum letzten Atemzug unsere deutsche Pflicht, wie diese Getreuen hier im Schützengraben, dann wäre nicht ruhelose Ungeduld in vielen von uns, sondern Ruhe, Zuversicht und frohe Festigkeit wäre in uns allen. Da würde der Groschen nicht zählen, den wir verlieren, keine Bedrängnis unserer wirtschaftlichen Lage, keine nötige Einschränkung, keine Sorge und kein Opfer unseres Lebens! —

Der Schützengraben macht eine Wendung und ich stehe vor einem Bilde, das mich tief ergreift. Außerhalb des Grabens, gegen die französische Seite hin, ragt zwischen laublosen Bäumen ein mächtiges Feldkreuz in die Luft. Nicht nur das schwarze Kreuzholz, sondern auch das farbig bemalte, überlebensgroße Schnitzwerk, das den Erlöser zeigt, ist von vielen Kugelschüssen durchsplittert, von Schüssen, die aus der französischen Stellung kamen. Und der zerschossene Leib der ewigen Güte hält die Arme ausgebreitet mit einer großen, heiligen Gebärde, aus der etwas Schützendes und Hilfreiches zu mir redet.

Einer von den beiden Offizieren, die mich geführt haben, sagt nach einer Weile: »Es wird Abend. Irgendwo müssen wir umkehren. Das geht ja hier so weiter bis nach Ostende.«

Auf dem Rückweg gibt's einen Aufenthalt. Eine Lehmwand ist heruntergebrochen und hat auf zehn Schritte weit den Graben verschüttet. Vier Soldaten schaufeln, daß ihnen der Schweiß von den Gesichtern tropft; mehr können bei der Enge des Grabens an der Ausbesserung des Schadens nicht arbeiten. Während wir wartend dastehen, schlüpft einer, der mich kennt, durch das Türloch seines Höhlchens heraus – einer aus der Garmischer Gegend, der mich vor Jahren einmal auf die Alpspitze führte. Er begrüßt mich so herzlich und freudig, als wäre seine Heimat mit Haus und Berg zu ihm gekommen. Während wir schwatzen, immer von daheim, treten noch ein paar andere zu uns, jeder so gelb wie sein Kamerad, aber jeder mit dem gleichen, ruhigen, gesunden Gesicht. Allerlei Fragen richten sie an mich – gar manche ist darunter, die zu beantworten mir schwer fällt. Einer, mit dürstender Sehnsucht in den Augen, fragt mich: »Was meinen S', wie lang wird's denn noch dauern?«

Ich suche nach Worten. »Da bin ich überfragt. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, daß auf dem Festland die Hauptsache schon in sechs bis sieben Wochen zur Erledigung kommt. Aber es kann auch noch ebensoviele Monate dauern.«

Nach kurzem Schweigen eine feste Soldatenstimme: »No ja, muß man halt aushalten! Durchreißen tun wir's alleweil, so oder so!«

An dieses tapfere, zuversichtliche Wort schließt sich eine etwas wunderliche Frage, die mit dem vorausgegangenen Gespräch keinen Zusammenhang zu haben scheint. Dennoch ist eine Beziehung vorhanden. Eine sehr ernste.

»Sie, sagen S' amal, ob dös wahr is, was die Meinige allweil schreibt: daß daheim in der Stadt die jungen Weibsbilder so ausg'schaamt in die Kaffeehäuser hocken, pariserisch anzogen, daß man d' Haxen sieht bis halbert zur Grattl auffi?«

Trotz der derben Ausdrucksweise lacht keiner von den Lehmgelben; sie scheinen die Frage für eine sehr wichtige und würdevolle zu halten. Ich schüttle den Kopf. »Nein! So stimmt das nicht. Unsere deutschen Frauen und Mädchen sind da nicht gemeint. Nur ein paar dumme Modegänse, ein paar krankhafte Auslandsaffen. So was zählt doch nicht.«

Einer sagt: »Dö sollten uns anschauen!« Ein anderer brummt: »Bal s' vier Nächt lang da im Graben hocken müßten, in der nassen Sooß, bis übers Knie nauf, i glaub, dö taaten si' bald an andre Montur verlangen!« Und ein dritter gibt den Rat: man sollte diesen Ausnahmen jeden Tag ein paarmal jene Sache vollhauen, die Goethe durch einen Gedankenstrich bezeichnete – von diesem Gedankenstrich weiß natürlich der lehmgelbe Pädagoge nichts, er gebraucht im Ärger sehr ungeniert das übliche Volkswort.

Der Weg ist ausgeschaufelt. Wir können weitergehen. Ich komme an dem Rotbärtigen vorüber, der das Gewehr im Anschlag hat und immer lauert, ganz unbeweglich.

Nach wenigen Schritten gewahre ich etwas Seltsames. Beim Herweg fiel es mir nicht auf, erst jetzt entdecke ich's. Will mitten im harten Winter der grüne Frühling kommen? Eine Bodenstelle des Schützengrabens ist dick mit frischem, spannenlangem Gras überwuchert. Gras? Nein! Das ist junges Getreide. Von den ungedroschenen Garben, die ein Feldgrauer vor vier Monaten in seinen Unterschlupf hineinstreute, sind die Körner abgefallen und in die nasse Erde hineingetreten worden. Jetzt gehen sie auf. Ich sehe dieses frische, üppige Grün, und etwas Freudiges, Warmes und Hoffnungsvolles ist mir im Herzen.

Drunten bei den Franzosen kracht ein Schuß. In der Luft das feine Singen. Und wenige Schritte hinter mir spritzen von der Holzversteifung einer Schießscharte die Splitter weg. Jetzt ein Schuß im deutschen Graben. Dann die ruhige Stimme des Rotbärtigen, den ich nimmer sehe: »No also! Endli amal!«

Ich brauche nicht umzukehren. Auch ohne zu fragen, weiß ich, was der kurze, zufriedene Monolog des Rotbärtigen bedeutet. Wohl denke ich auch daran, daß jetzt da drunten im roten Stadel ein Leben verblutet; aber vor allem muß ich denken: daß unsere Feinde wieder weniger wurden um einen.

Ein langer Weg noch, durch den Laufgraben und über die dämmernden Rübenfelder.

Kanonenschüsse und Granatenschläge dröhnen in rascher Folge. Die Franzosen tasten wieder nach der deutschen Batterie umher und können sie nicht finden.

Beim Einsteigen in den Wagen bemerke ich, daß ich nicht viel anders ausschaue als die Lehmgelben im Schützengraben. Ich fühle aber doch einen beträchtlichen Unterschied. So heiß, wie an diesem Abend, hat noch nie die Frage in mir gebrannt: »Was kann ich leisten als Bürger, wie kann ich nützen?«

Im Westen ein leuchtender Streif und drüber ein zartes Blau und Weiß. Auch die Höhe klärt sich auf, und ich sehe den Schimmer des Vollmondes. Der Kaisertag hat gutes Wetter gebracht. Bleibt der Himmel so, dann werden es die Unseren im Schützengraben besser bekommen.