Buch lesen: «Illustration»
ILLUSTRATION.
DAS IDEENBUCH
Vollständige E-Book-Ausgabe
der im Stiebner Verlag erschienenen
Printausgabe (ISBN 978-3-8307-1447-7)
Text © 2018 Steven Heller und Gail Anderson Steven Heller and Gail Anderson have asserted their right under the Copyright, Designs and Patent Act 1988, to be identified as the Authors of this Work.
First published in 2018 by Laurence King Publishing Ltd., London.
Bildredaktion: Peter Kent
Lektorat: Felicity Maunder
Design (Printausgabe): Alexandre Coco
Titel der Originalausgabe: The Illustration Idea Book
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2018 der deutschen Ausgabe
Stiebner Verlag GmbH, Grünwald
Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Übersetzung aus dem Englischen: Mareike Weber
Satz und Redaktion der deutschen Printausgabe: Verlags- und Redaktionsbüro München, www.vrb-muenchen.de
ISBN 978-3-8307-3028-6
ILLUSTRATION.
DAS IDEENBUCH
INSPIRATION VON 50 MEISTERN
Steven Heller und Gail Anderson
Inhalt
Einleitung: Illustration – das Beste herausholen
Mit Schriftarten spielen
Stimmungen erzeugen
Erfinderische Ziffern
Unerwartete Materialien
Typografisches Wirrwarr
Sprechblasen
Hand Lettering
Figuren schaffen
Emotional ansprechende Tiere
Voll auf die Zwölf
Liebenswerte Kreaturen
Verwandlung
Unheimlich gut
Mit Proportionen spielen
Einen Konflikt erzeugen
Infantilisieren
Nostalgische Parodie
Neue Welten erfinden
Urbane Landschaften
Sich auf Chaos einlassen
Die Vielfalt der Natur
Reale Fantasien
Ein optisches Paradox
Geister heraufbeschwören
Style noir
Mit Karikaturen experimentieren
Das Gesicht als Symbol
Berühmte Vorbilder
Verzerrung
Gesichtserkennenung
Recycelte Materialien
Natürliche Wesensmerkmale
In der dritten Dimension
Mit Klischees spielen
Das Offensichtliche untergraben
Neue Kunst mit Altbekanntem
Humor mit ernstem Hintergrund
Intuitives Denken
Porträts variieren
Stereotypen auswählen
Zeichenobjekte
Symbole und Metaphern
Ideen von gestern
Interpretationsmöglichkeiten
Verblüff es Nebeneinander
Sinnlichkeit erzeugen
Rational romantisch
Unpräzise Präzision
Optische Pointen
Masken
Vieldeutig
Das Alltägliche transformieren
Daten visualisieren
Ironische Information
Vereinfachte Komplexität
Vielsagende Icons
Personalisierte Daten
Glossar
Literaturhinweise
Danksagungen & Bildnachweis
Einleitung:
Illustration – das Beste herausholen
________ Es ist nicht einfach, markante Konzepte für Illustrationen zu entwerfen, die genau ins Schwarze treffen. Während manche Illustratoren ihre Aufgabe scheinbar mit spielerischer Leichtigkeit erfüllen, verbringen andere viel Zeit damit, immer neue Ideen aufs Papier zu bringen und sie anschließend wieder zu verwerfen. »Etwas auszuprobieren« ist die Grundlage jedes kreativen Prozesses – eine intellektuelle und intuitive Fähigkeiten vereinende kreative Übung.
Bei einer guten Auftragsillustration geht es darum, die anvisierte Ziel-gruppe auf vielen Wahrnehmungs- und Verständnisebenen zu erreichen – erklärend oder kommentierend, unterhaltsam, erfinderisch oder reflektierend. Dabei konzentriert man sich auf das Wesentliche, spitzt zu, formuliert klar verständliche Botschaften – und bringt lange Geschichten genau auf den Punkt. Oft greift dabei auch ein Art Director in den Arbeitsprozess ein – aber ein guter Illustrator weiß selbst, wann ihm etwas gelungen ist (und ein guter Art Director weiß, wann er sich besser zurückhalten sollte).
Talent, Geschick und Übung machen aus einem guten Zeichner einen guten Illustrator. Wie in jeder Kunstform gibt es auch beim Illustrieren Regeln, und wie bei jeder guten Kunst kommt es auch in der Illustration darauf an, diese Regeln zu kennen, um sie anwenden und – kreativ brechen zu können. Denn: Eine Illustration, die alle Regeln befolgt, ist noch nicht zwangsläufig auch eine gute Illustration.
Vor allem aber: Kunst braucht Inspiration. Das gilt auch für die in diesem Buch vorgestellten Illustratoren. Sie sind alle Meister ihres Fachs, die sich selbst in ihrer ganzen Karriere immer wieder neu inspirieren ließen – und deren Arbeiten nun auch Ihnen eine wertvolle Inspirationsquelle sein werden: Holen Sie das Beste aus sich heraus!
Mit Schriftarten spielen
Stimmungen erzeugen
Wenn die Hand mächtiger ist als der Buchstabe
________ Illustrierte Buchstaben werden bei der Gestaltung von Buchcovern oft als symbolischer Ausdruck des Inhalts verwendet, der über die eigentliche Bedeutung der Wörter hinausgeht. So ist es bei Yuko Shimizus Cover für »A Wild Swan«, Michael Cunningshams 2017 auch auf Deutsch (»Ein wilder Schwan«) erschienener Sammlung düsterer Märchen, die für die Erwachsenen von heute modernisiert und – ebenfalls von Yuko Shimizu – neu illustriert wurden. Das Cover der Originalausgabe sollte diese fantastische Stimmung übermitteln, gleichzeitig aber deutlich machen, dass es kein Kinderbuch ist.
Das an sich schon unheimliche Märchen der eingesperrten Rapunzel ist eine dieser düsteren Geschichten. Art Director Rodrigo Corral traf die Entscheidung, den Fokus des Covers der Originalausgabe auf ein Detail der Rapunzelgeschichte als das Wesentliche zu legen. Er beauftragte die in New York lebende Japanerin Yuko Shimizu damit, das Lettering zu gestalten und Rapunzels Haar als Grundelement zu verwenden. »Rodrigo wusste, dass ich viele Bilder gezeichnet habe, auf denen Frauenhaar zu sehen ist«, erklärt Shimizu, deren Stil ein bisschen an den britischen Illustrator Aubrey Beardsley (1872–1898) erinnert.
Der nächste Schritt war die Kreation des ungewöhnlichen Lettering, das grazil, feminin und klassisch, dabei aber auch modern und etwas düster angelegt werden sollte. Die Schrift in Schwarz auf Weiß zu zeichnen, trug zum gewünschten Look bei, ebenso der feine und doch wilde Stil ihrer Gestaltung. Neben dem drahtigen Haar ist ein Schwan auf den Schutzumschlag geprägt, der nur dann ganz sichtbar ist, wenn der Leser den Umschlag abnimmt und ausklappt. »Wir hofften, die Leser würden die Message verstehen«, sagt Shimizu. »Die Geschichten sind sehr subtil, und das repräsentiert das Cover.«
Corrals Team stellte die Basis-Schrifttype zur Verfügung, und Shimizu zeichnete ihre Haarmuster darüber. Sie selbst ist keine Typografin, hat aber schon oft mit begabten Typographen zusammengearbeitet, um ein Lettering zu gestalten: »Ich glaube, dass sich der Einzelne ganz auf seine Stärken konzentrieren und sich bei seinen Schwächen von anderen helfen lassen sollte, die genau da ihre Stärken haben. In der Kombination lässt sich so das Beste herausholen.«
Verschiedene Wege zu finden, Ideen durch ein geschicktes Lettering zu illustrieren, kann gut Stimmungen erzeugen und bietet eine kluge Möglichkeit, Wort und Bild eins werden zu lassen.
Yuko Shimizu, 2015
A Wild Swan, Buchumschlag Farrar, Straus and Giroux
Art Director: Rodrigo Corral
Erfinderische Ziffern
Zahllose Wege, Zahlen zu zeichnen
________ Zahlen sind im Leben und in der Literatur ebenso wichtig wie Buchstaben. Und doch haben gezeichnete Ziffern aus irgendeinem Grund nicht den gleichen Stellenwert wie gezeichnete Buchstaben. Komisch. Das Gestalten von Zahlen ist ebenso sinnlich und konzeptionell außergewöhnlich wie das Gestalten egal welchen Alphabets, und die Möglichkeiten sind unendlich.
Als der in Rochester, New York, lebende und arbeitende Illustrator Andy Gilmore den Auftrag bekam, eine Zeichnung für die Ausgabe Nr. »25.04« des Magazins »Wired« zu kreieren, machte man ihm keinerlei konzeptionelle Vorgaben. Man kannte seine meist geometrisch angelegten, eine perfekte Synchronisation von Farbe und Form erzielenden Arbeiten, von denen oftmals eine geradezu hypnotische Wirkung ausgeht, und ermutigte ihn, seinem ganz persönlichen Stil treu zu bleiben.
Gilmore erklärt dazu: »Ich lasse mich nicht vom bereits Vorhandenen beeinflussen, wenn ich Buchstabenformen gestalte – ich lege einfach los und sehe, was dabei herauskommt.« Ein bisschen erinnern seine Zahlen an die Werke von Paul Klee, insbesondere in ihrer lebhaften Farbgebung. Neben der linearen Komposition ist es vor allem diese Farbgebung, die diesen Ziffern ihren Charakter und ihre Ausstrahlung verleiht.
Andy Gilmore, 2017
»WIRED 25.04 Splash Page« Magazin Wired
Art Director: Mike Ley
Unerwartete Materialien
Den gezeichneten Buchstaben personalisieren
________ Wir neigen dazu, beim Hand Lettering an klassische Buchillustrationen oder Variationen davon zu denken. Man stelle sich ein Gewölbe mit mittelalterlichen Schreibern in Mönchskutten vor, die sich mit Feder oder Pinsel in der Hand über Tische beugen, um dekorative Initialen auf alte Manuskripte zu zeichnen und sie anschließend zu kolorieren und zu schattieren. Man kann sich beim Lettering aber auch ganz von der traditionellen Buchmalerei entfernen. Jon Grays Pseudo-Typografie für dieses Taschenbuchcover ist aus Post-it-Notizzetteln gemacht – eine Collage aus gleich großen Schnipseln bunten Papiers.
Es gab einen logischen Grund für diese Lösung. Sie spielt auf die 388 Fußnoten an, die eine Schlüsselrolle beim Lesen von »Infinite Jest« (deutsch: »Unendlicher Spaß«), David Foster Wallaces tausendseitigem literarischen Meisterwerk von 1996 einnehmen, außerdem nimmt es Bezug auf die ursprünglich himmelblau gestalteten Cover früherer Buchausgaben.
»Das Konzept wurde genau auf dieses eine Buch zugeschnitten«, sagt der britische Design-Guru und Buchgestalter Jon Gray. »Ich würde diese Idee für kein anderes Projekt verwenden.« Es demonstriert die Vorstellungskraft und technische Bandbreite des Illustrierens – nicht nur als Bildmedium, sondern auch als Annäherung ans Lettering, insbesondere bei der Verwendung ungewöhnlicher Materialien. »Alle Formen stehen in engem Zusammenhang mit dem Inhalt des Buchs.«
Ein weiterer Grund, warum Gray diese besondere Herangehensweise wohl für kein anderes Projekt mehr wählen möchte, ist, dass das Kunstwerk zwei Meter hoch wurde und er drei Tage brauchte, um es herzustellen. Doch das Ergebnis überzeugt: Auch auf Buchcovergröße verkleinert hat sein Werk immer noch etwas Monumentales.
Jon Gray, 2016
Infinite Jest, Buchumschlag Little, Brown and Company
Art Directors: Mario Pulice und Nico Taylor
Typografisches Wirrwarr
Je mehr Durcheinander, desto besser
________ Poster aus dem 19. Jahrhundert zeigten oft eine Anhäufung verschiedenster typografischer Stile und Bilder, die meistens als Kupferstich oder Holzschnitt gefertigt wurden. Warum? Damals war die Drucktechnik noch so aufwendig und kostenintensiv, dass ein Drucker häufig nicht genug Material für alle Buchstaben hatte. Was also im späten 20. Jahrhundert ein modischer Trend wurde – das Wiederverwenden gebräuchlicher Formen –, war in früheren Jahren schlicht eine Notwendigkeit.
Von diesen Postern ließ sich der italienische Künstler Lorenzo Petrantoni für (s)einen (Un-)Kalender inspirieren, den er für eine Druckerei gestalten sollte. Mit einer Vielfalt von Schriftarten und Clip-art-Gravuren schuf er eine zeitgenössische Hommage an die historischen Gestaltungsformen.
Seine Absicht war, einen attraktiven, funktionalen Gegenstand zu gestalten, den die Menschen jeden Tag benutzen: »Ich wollte ein zeitgenössisches Objekt mit Bildern und Schrifttypen aus der Vergangenheit dekorieren – lebende Geschichte.« Und auch, wenn sie auf den ersten Blick ein bisschen chaotisch wirken mag, ist seine Illustration doch eine wohlproportionierte, symmetrisch hochdisziplinierte Zusammenstellung verschiedener exakt ausgewählter, collagenartig angeordneter Buchstaben und Bilder. Er verwendete dafür sowohl handgemalte Buchstaben als auch gewöhnliche Fonts in einer typografischen Inszenierung, die seine Idee perfekt umsetzt.
Lorenzo Petrantoni, 2016
»Uncalendar 2017« Alecom