Tränen einer Braut: 3 Romane

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14

Und dann wurde das Kind geboren. Elvira hatte fast bis zum letzten Augenblick in der Kneipenküche arbeiten müssen. Von den wenigen Almosen, die Albert ihr stets verächtlich zugeworfen hatte, erstand sie ein Bettchen und all die Dinge, die man für einen Säugling braucht. Manchmal zerbrach sie sich den Kopf und fragte sich, wie es weitergehen sollte, wenn das Kind da war. Sie musste doch arbeiten. Die erste Zeit ging es ja noch, da würde es viel schlafen. Aber später?

Die junge Frau hatte längst aufgegeben, an eine gute Zukunft zu denken. Ihr Mann war kein Mensch, sondern ein Teufel. Sie sprach kaum mehr ein Wort mit ihm. Jetzt war er übrigens fast nie mehr in der Kneipe. Lie-San und sie mussten alles allein bewältigen.

Er hatte seine erste Bar eröffnet. Und die war pompös und enorm. Dort gab es Aufführungen von gewagtem Strip und so weiter. Sie hatte gehört, dass sich die Männer abends auf dieser Lokalität drängten. Es sollte eine wahre Goldgrube sein. Woher Albert die Mädchen hatte, konnte sie nicht sagen. Bedrückt fragte sie sich oft, warum die Polizei nicht mehr auf ihn aufpasste.

Aber Albert war gerissen genug, nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Die kleinen Animiermädchen, die für ihn herumliefen und hin wieder auch sich selbst anboten, hatten sich selbst angeboten. Ja, er konnte regelrecht unter ihnen wählen. Er beteiligte sie am Umsatz. Kein Wunder, dass sie versuchten, möglichst viel an den Mann zu bringen. Was sie in den kleinen Hinterräumen trieben, das ging ihn einfach nichts an. Später würde er hier seine eigenen Pferdchen laufen lassen. Aber für dieses Unternehmen musste er erst die richtigen Mädchen finden.

In einer Regennacht wurde sein Sohn geboren. Als die Wehen einsetzten, schleppte sich Elvira mit letzter Kraft zum Koch und klopfte an seine Tür.

»Würden Sie mir ein Taxi besorgen?«, flüsterte sie und klammerte sich ans Treppengeländer.

»Ja, ja, sicher!«, rief er. »Ich ziehe mich nur rasch an. Ich bin gleich so weit.«

Wenige Augenblicke später stürzte er aus dem Haus. Elvira hatte die Tasche schon vor Wochen gepackt. So brauchte sie jetzt nichts zusammenzusuchen.

Lie-San begleitete sie zur Klinik.

»Das brauchst du nicht«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Du bist doch auch müde.«

»Jetzt spreche nicht, sei ganz still.«

Sie waren schon ein seltsames Paar, und in der Klinik hielt man den Chinesen für ihren Mann. Aber sie schüttelte nur den Kopf.

Die Wehen waren schrecklich. Der Arzt betrachtete ihren Körper. Sie sah mager und erschöpft aus, am Ende ihrer Kräfte. Er verstand einfach nicht, wie sie so lange hatte schaffen können. Und dazu ihre Jugendlichkeit.

Das Kind musste dann mit Kaiserschnitt geholt werden. Gegen Morgen endlich erhielt Lie-San Bescheid. Und er machte sich auf den Weg nach Hause. Er war todmüde und stolperte vor sich hin. Jetzt wollte er sich erst einmal eine starke Tasse Kaffee bereiten.

Als er die Küchentür aufstieß, sah er Albert. Er stand ans Fenster gelehnt. Als er jetzt den Chinesen kommen hörte, drehte er sich um.

»Ich suche dich schon die ganze Zeit. Wo warst du?«

Die schwarzen Augen des Asiaten sahen ihn ausdruckslos an.

»Bin ich dein Sklave?«, erwiderte er kalt.

Albert ballte die Hände. Es ärgerte ihn, dass der Chinese ihm immer überlegen sein würde. Er besaß Haltung und so etwas wie eine gute Bildung. Immer würde er ihn spüren lassen, dass sie nicht auf derselben Stufe standen. War er denn nicht ein Chinese und er ein Weißer?

»Ich muss mit dir sprechen«, sagte Albert hastig. »Du kannst das hier jetzt Elvira allein überlassen. Ab heute wirst du im Nachtclub für mich kochen.«

»Ich bleibe vorläufig noch hier«, sagte der Chinese.

»Aber die Küche ist fertig. Modern, leicht zu arbeiten. Du wirst deine Freude haben.«

»Trotzdem bleibe ich hier, oder du überlässt jemand anderem die Küche.«

»Du hast sie angelernt. Sie wird es doch wohl endlich können! Zu irgendetwas wird sie mir wohl nütze sein, verdammt noch mal!«

»Sie hat dir diese Nacht einen Sohn geboren. Sie muss sich jetzt um das Kind kümmern.«

Der Zuhälter starrte ihn an. »Das habe ich ganz vergessen.«

»Es ist so.«

Die beiden Männer maßen sich gegenseitig mit einem langen Blick. Albert war es, der die Augen niederschlug.

»So werde ich einen anderen suchen müssen«, murmelte er »Du wirst dann mitkommen?«

»Nur, wenn Elvira hier nicht mehr arbeiten muss.«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich mich dämm kümmern werde«, sagte er grantig.

Lie-San lächelte leicht. Nun hatte er endlich erreicht, dass die junge Frau nicht mehr so schwer arbeiten musste. Jetzt würde sie nur noch Zeit für ihren kleinen Sohn haben und sich selbst pflegen können, würde wieder lachen und heiter werden. Bei so einem kleinen Kind musste das Herz doch groß und weit werden. Hätte der Chinese nur Alberts Gedanken erraten können, hätte er sich anders verhalten.

»Sie liegt in der Klinik«, sagte Lie-San. »Du wirst hingehen! Die Formalitäten müssen erledigt werden.«

Albert vergaß zuerst, dass er einen Sohn hatte. Aber gegen Mittag erinnerte ihn Lie-San wieder daran. Und so fuhr er zur Klinik.

Elvira hatte nicht damit gerechnet, dass Albert sie besuchen würde. Umso erstaunter war sie dann, als sie ihn in der Tür stehen sah. Er hatte ihr nichts mitgebracht. Fast böse sagte er: »Nun hast du es ja erreicht! Das Kind ist also ehelich geboren. Du hast also alles bekommen, was du wolltest. In Zukunft wirst du also tun, was ich dir befehle.«

Sie duckte sich ins Bett hinein. Wahnsinnige Angst überfiel sie. Den ganzen Morgen hatte sie gegrübelt. Aber fortgehen, das konnte sie nicht. Der Krieg war noch nicht lange zu Ende, und Kinderkrippen gab es damals nicht. Entweder musste sie das Kind in ein Waisenhaus geben und arbeiten gehen, oder es behalten und Albert untertan sein. Nein, ihr Kind sollte keine freudlose Jugend erleben. Sie würde immer vor ihm stehen, es so vor Albert schützen.

So lag sie nur da mit zitternden Lippen und schaute ihn an, sagte aber kein Wort.

»Ich werde es anmelden. Wie soll es heißen?«

»Patrick«, stammelte sie.

»Gut, dann wäre also alles erledigt.«

»Du wirst das Krankenhaus bezahlen müssen. Ich habe nicht so viel Geld.«

Er fluchte wild vor sich hin.

»Bis jetzt habe ich für dich nur immer bezahlt, bezahlt und nochmals bezahlt. Du wirst mir alles zurückerstatten, das schwöre ich dir.«

15

Uber vierzehn Tage blieb sie in der Klinik. Und diese Zeit war die schönste für sie, seitdem sie von zu Hause fortgelaufen war, obwohl sie viele Schmerzen erdulden musste. Aber sie war glücklich. Hier waren nette Menschen, hier hatte sie ihren Sohn ganz für sich. Man wunderte sich darüber, dass sie nie Besuch bekam. Nur einmal tauchte Lie-San auf.

»Du wirst nicht mehr in der Küche arbeiten müssen. Ich gehe in die Nachtbar. Aber das habe ich für dich durchgedrückt, Elvira.«

Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»O Lie-San, du bist so gut zu mir. Einmal war ich so böse und habe dir nicht geglaubt, und du bist nur gut zu mir.«

»Jemand muss ein wenig Licht in dein Leben bringen«, sagte er ruhig. »Ohne Licht ein Mensch nicht leben, verkümmert.«

»Ich habe Angst vor der Zukunft. Und wenn ich jetzt nach Hause komme, dann bist du auch nicht mehr da, Lie-San. Ich werde sehr einsam sein.«

»Wenn es meine Zeit erlaubt, werde ich euch besuchen kommen und nachschauen, was der Kleine macht.«

Als er fort war, packte sie sein Geschenk aus. Es war eine kleine blaue Rassel für Patrick. Darüber musste sie so schrecklich weinen, dass die Schwestern sie kaum beruhigen konnten.

Aber dann war die schöne Zeit vorbei, und sie musste das Krankenhaus verlassen. Leer und traurig wirkte das Hinterzimmer, als sie mit Patrick einzog.

Zu später Stunde tauchte Albert auf, blieb breitbeinig in der Tür stehen, dann kam er langsam näher und sah mit gerunzelter Stirn auf das Kind.

»Wenn es Ärger macht, werfe ich es hinaus. Ich habe dir immer gesagt, dass ich es nicht haben will. Hast du mich verstanden?«

Sie erwiderte nichts.

»Du brauchst nicht mehr in der Küche zu arbeiten. Ich musste es dem verdammten Chinesen versprechen, sonst wäre er nicht mit in die Nachtbar gekommen.«

»Er hat es mir gesagt.«

Er schaute sie höhnisch an.

»Und du glaubst, du könntest jetzt wie eine Made im Speck hier leben? Irrtum! Ich habe dir gesagt, du wirst mir alles zurückzahlen. Alles, hast du kapiert! Ich habe Nachsicht mit dir gehabt. Aber in drei Wochen ist es vorbei, dann wirst du nachts für mich auf den Strich gehen. Im Hafenviertel. Kapiert? Du wirst so alle Gelder wieder reinbringen. Am Tage kannst du dich um das Balg kümmern, aber nachts wirst du für mich auf Anschaffe gehen.«

Sie starrte ihn so entgeistert an, dass er gemein auflachte. »Ich habe dich ja gut eingelernt. Du bist jetzt mit allen Taktiken vertraut. Und solltest du etwas noch nicht wissen, da sind ja Lola und Anke. Von ihnen kannst du noch viel lernen. Und sie werden dir auch sagen, was mit dir geschieht, wenn du nicht dein Soll erfüllst.«

Fassungslos ließ sie sich auf das Bett fallen. Sie würgte und würgte.

»Ich bin deine Frau«, brachte sie mühsam hervor. »Das kannst du doch nicht wirklich wollen! Was werden sie sagen?«

»Wer weiß das denn schon?«, höhnte er.

»Ich werde es sagen«, stammelte sie.

 

»Man wird dich für eine Spinnerin halten«, gab er brutal zurück.

Sie legte ihre kalten Hände an die pochenden Schläfen.

»Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mann seine Alte auf den Strich schickt«, lachte er. »Das ist denen hier nicht neu. Und sie kennen mich alle. Und weißt du auch, wie mein Spitzname lautet?«

»Nein!«

»Albert, der über Leichen geht!«

Ein kalter Schauer rann ihr über den Rücken. Und in dieser Sekunde wusste sie, dass alles so werden würde, wie er gesagt hatte.

Bewusstlos brach sie zusammen.

16

Patrick war fünf Wochen alt, als eines Abends Albert wieder bei ihr auftauchte. Das Kind schlief friedlich.

»So, die Zeit der Schonung ist jetzt um. Du wirst noch heute für mich auf den Strich gehen. Und da du noch ziemlich mickerig aussiehst, will ich das Soll nicht zu hochschrauben. Du wirst mir die erste Zeit dreihundert bringen oder ich prügele dich wund.«

Elvira hatte längst gemerkt, dass Aufmucken sich überhaupt nicht lohnte. Einen Augenblick lang hatte sie daran gedacht, zu Lie-San zu laufen. Aber er würde ihr auch nicht helfen können.

So stand sie mitten im Zimmer und blickte ihn starr an.

»Eines Tages wirst du dafür bezahlen müssen«, sagte sie kalt. »Eines Tages wirst du dich an mich erinnern und dich selbst verfluchen.«

»Hau endlich ab! Sonst nehmen sie dir die fetten Fische weg, und du hast dann das Nachsehen.«

Als sie auf der Straße stand, sah sie Lola und Anke unter der Laterne stehen. Langsam kamen sie näher geschaukelt. »Albert hat mit uns gesprochen. Ich kann dir sagen: Es ist ein Mist. Jetzt auch noch du! Je mehr stehen, umso schrecklicher ist das. Ich meine das Soll. Der Hafen wimmelt nur so von Huren. Und wie die Kerle mal sind, die suchen sich ihr Mädchen aus. Ich kann dir sagen: Wenn du ein paar Matrosen erwischst, musst du auch mal mit Prügeln rechnen. Die sind wirklich gemein.  Komm jetzt mit, sonst bilden sich die anderen ein, wir kämen heute nicht.«

Sie sahen noch verkommener und älter aus als damals, als sie die beiden in der Küche kennengelernt hatte. Und Elvira wusste, wenn sie dieses Leben mitmachte, dann würde sie bald genauso aussehen wie die beiden.

Ihr Magen drehte sich, und als sie dann unten an den Docks stand und sah, wie sich die Dirnen um die Kunden rissen, sich beinahe gegenseitig die Schädel einschlugen, da ekelte sie das so an, dass sie um die Ecke gehen musste und sich erbrach. Ihre Beine zitterten, sodass sie sich eine ganze Weile an den Schuppen lehnen musste.

Nein, das würde sie niemals können! So nahm sie in der ersten Nacht keinen Pfennig ein. Lola und Anke hatten ihr Soll mühsam erfüllt und schleppten sich gegen Morgen mehr tot als lebendig zur Kneipe zurück. Und Elvira dachte: Jetzt müssen sie das so schrecklich verdiente Geld Albert abliefern. Sie behalten nicht einmal einen Pfennig für sich. Ich verstehe die Mädchen nicht. Warum tun sie das nur? Wenn sie das Geld behalten und selbst Essen und Unterkunft bezahlen würden, dann bliebe noch was übrig, auch so etwas wie ein Selbstgefühl. Dann verstehe ich noch, wenn sie sich so anstrengen. Aber dies hier ist gemein und entwürdigend.

Als Elvira Albert sagte, sie hätte nichts verdient, denn sie wäre gar nicht dazu gekommen, sah er sie kalt an und sagte nur: »Wenn du morgen dein Soll nicht erfüllst, dann lernst du mich erst mal richtig kennen.«

Sie konnte es doch nicht! Gequält schlich sie sich nach oben und stand lange am Bettchen ihres Kindes. Sie wollte ja schuften, alles tun was er von ihr verlangte, aber nicht auf den Strich gehen. Das konnte er nicht verlangen.

Aber Albert ließ nicht mit sich reden. Er jagte sie auch am nächsten Abend hinaus.

Elvira wurde fast verrückt vor Angst und Ekel. Und dann dachte sie an den kleinen Knaben der jetzt allein in der Kammer schlief, und wenn er jetzt wach wurde und weinte und ein Fläschchen brauchte, wenn er spuckte. Bei einem so kleinen Kind musste man doch immer sofort zum Bettchen laufen, wenn es sich regte.

Sie stand an der Schuppenwand gelehnt, sah wieder dieses grässliche Schauspiel der sich schlagenden, beißenden Nutten, sah die Matrosen wie sie sich lustig über die Dirnen machten, sah auch, wie die Dirnen von den Matrosen betrogen wurden. Erst versprachen sie ihnen das Blaue vom Himmel, nahmen sie mit auf ihre Pötte, und nachdem die ganze Mannschaft über sie hergefallen waren, wurden sie mit Prügel fortgejagt. Heulend und fluchend versuchten sie nun die Zeit, die sie damit vergeudet hatten, wieder einzuholen. Aber je heller es wurde, umso weniger Kunden tauchten noch auf. Und wer in dieses Viertel kam, der wollte höchstens für fünf und zehn Mark eine Nummer schieben. Waren doch auch immer ziemlich abgebrannte Heinis.

Elvira hatte wieder nichts eingenommen. Und Albert nahm sie und prügelte sie windelweich. Den ganzen Tag wusste sie nicht, wie sie sich hinsetzen sollte. Wenn sie das Kind im Arm hielt um ihm die Flasche zu geben, dann hätte sie vor Schmerzen aufschreien mögen.

Instinktiv wusste sie, dass sie dieses Leben nicht lange ertragen konnte. Sie war ja jetzt schon am Zerbrechen. Albert kannte keine Gnade, und sie würde das verlangte niemals tun können.

Albert hasste sie und wollte sie bewusst vernichten. Sie dachte an das Kind. Aber sie konnte so wenig für Patrick tun! Vielleicht, so sagte sie sich, wird er für ihn sorgen, wenn ich nicht mehr da bin. Er muss es ja, denn er ist der Vater. Er kann ihn nicht abschieben wie mich. Das werden die Behörden schon nicht zulassen.

Ich bin für Patrick das Unglück, ich selbst. Nur wenn ich nicht mehr da bin, wenn er größer geworden ist und erfährt, was sie hatte tun müssen; wie grausam der eigene Vater zur Mutter war. Nein, er würde es gewiss nicht ertragen.

Elvira hatte einen Entschluss gefasst. Das Herz wollte ihr dabei zerbrechen. Aber sie wusste jetzt, dass sie alles bezahlen musste. Alles! Nichts war ihr geschenkt worden.

Als sie an diesem Abend von Albert auf die Straße geschoben wurde, hatte sie kurz vorher für immer von Patrick Abschied genommen. Sie wusste, sie würde ihr Kind nie mehr wiedersehen.

Mit den beiden Hafendirnen Lola und Anke ging sie hinunter zur Unterelbe. Die Kähne lagen am Kai. Leise schaukelten sie hin und her und rieben ihre großen Leiber an der Steinmauer. Elvira sah hinauf zum Himmel. Kein Stern war zu sehen.

»Lieber Gott, verzeih mir«, flüsterte sie leise.

»Haste was gesagt?« Lola schaute sie mit schräg geneigtem Kopf an. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, so versuch wenigstens ein paar Flöhe zu verdienen. Sonst schlägt er dich noch tot.«

»Das wird er nicht mehr können«, sagte sie leise.

»Da kennst du Albert schlecht.«

Elvira antwortete: »Doch, ich lass mich von ihm nicht mehr quälen. Nie mehr!«

»Na, das Rezept möcht ich wissen«, sagte die verlebte Dirne lachend. »Ich hab schon ’ne Menge versucht, aber der Kerl hat einen Bund mit dem Teufel. Der lässt nicht locker. Erst wenn du kein Blut mehr in den Adern hast, wirft er dich weg. Aber dann bist du auch zu nichts mehr nütze. Ich rate dir, Kleine, mach ihn nicht wild. Ich kann ein Lied davon singen.«

Elvira dachte: Was rede ich noch mit der Dirne? Ich weiß doch, was ich tun muss. Worauf warte ich noch? Wenn ich jetzt noch länger warte, habe ich keinen Mut mehr. Ich bin am Ende.

Und dann geschah alles sehr schnell. Die anderen hörten Lola wie wild kreischen, und die Dirnen kamen aus allen Ecken angelaufen:

»Was ist denn los? Wollte dich einer abmurksen?«

Lola stand mit weit auf gerissenen Augen unter der Laterne und starrte auf die Elbe. Sie keuchte und zitterte zugleich.

»Da, da!«, kreischte sie los. »So tut doch etwas. Die ersäuft doch!«

Anke schüttelte sie hin und her.

»Was faselst du? Red deutsch, wir verstehen kein Wort.«

»Verflucht, die ertrinkt doch!  Die Elvira, sie hat sich einfach in die Elbe geworfen.«

»Wo, wo, wo?«

Alles rannte zur Kaimauer.

Der Mond schob sich hinter einer dicken Wolke hervor. Und jetzt sahen auch die Dirnen einen hellen Fleck auf dem schmutzigen Wasser. Einige bekreuzigten sich.

»Sie hat nicht aufgepasst!«

»Nein, die ist reingesprungen!«, heulte Lola auf.

»Herrje, wir müssen was unternehmen!«

Aber die Dirnen liefen wild durcheinander. Und bis man endlich die Hafenpolizei benachrichtigt hatte, verging geraume Zeit. Aus der Ferne hörten sie einen Motor und die Polizeijacht kam näher.

Wild mit den Armen um sich rudernd, erklärte jede einzelne Dirne, wo Elvira verschwunden war. Mit Haken suchte man nach ihr. Und sie bekamen sie auch sofort zu fassen, was wirklich ein kleines Wunder war.

Elvira war tot.

»Kennt jemand die Kleine?«

»Sie ist Albert Lanners Frau«, schluchzte Lola.

Die Beamten staunten.

»Seit wann ist der denn verheiratet?«

»Schon eine Weile.«

»War es ein Unfall.«

»Nee«, heulte Lola. »Zuerst hat sie so komisch gequasselt und dann ist sie von ganz allein losgelaufen und reingesprungen.«

»Also Selbstmord?«

»Ja!«

»Gut, wir werden uns um alles kümmern.«

Man brachte sie ins Leichenschauhaus. Andere Beamten machten sich auf den Weg, um Albert, den Zuhälter, zu finden. Sie entdeckten ihn in seiner neuen Bar. Es war hektischer Betrieb. Gerade wurde ein scharfer Strip gezeigt. Albert lehnte an einer Säule und musterte die vielen Männer, die mit gierigen Augen um die kleine Bühne postiert waren. Alles Herren aus der oberen Schicht.

In zwei Wochen würde er seine zweite Bar eröffnen. Er hatte es ja gewust. Mit ihm ging es endlich aufwärts. Man begann, ihn zu fürchten.

Von hinten wurde ihm auf die Schulter getippt. Unwillig und wütend drehte er sich herum. Wer wagte es ihn zu stören? Aber als er die Polizeiuniform erblickte, zog er unmerklich seine Augen zusammen. Irgendein krummes Ding drehte er immer, und man konnte nie wissen, ob einer der Geschäftspartner ihn der Polizei verriet oder nicht.

»Was ist?«

»Bitte, kommen Sie mit!«

»Sie sehen doch, ich habe keine Zeit. Kann das nicht bis morgen warten?«

»Nein.«

»Wohin wollen Sie mich bringen?«

»Ins Leichenschauhaus.«

Er zuckte zusammen, dann sagte er hastig: »Wer ist denn umgebracht worden? Ich hab nichts damit zu tun! Ich hab ein Alibi, ich war die ganze Zeit hier.«

Die Beamten musterten ihn scharf. Schon lange waren sie hinter Albert her, aber er war zu gerissen. Sie konnten ihm nichts beweisen. Nicht einmal jetzt.

Böse vor sich hin knurrend fuhr er mit. Fieberhaft überlegte er, wen sie wohl umgebracht haben mochten. Wenn es jemand aus seinem Bekanntenkreis war, und man hatte ihn angezeigt  Himmel, er würde denjenigen finden, und ihm sämtliche Knochen brechen.

Aber dann zeigten sie ihm Elvira. An die hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Er prallte zurück.

»Was ist passiert? Welcher Kerl hat sie umgebracht?«

»Ist das Ihre Frau?«

»Wer sagt das?«

»Ein paar Dirnen im Hafen.«

»Ja, sie ist meine Frau«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

»Sie hat Selbstmord begangen. Können Sie uns sagen, warum?«

»Nein!«, schrie er ihnen ins Gesicht. »Das weiß ich nicht! Sie war eine dreckige, gemeine Hure. Ich hab mich nicht mehr viel um sie gekümmert.«

»Warum haben Sie sich dann nicht scheiden lassen?«

Albert war verblüfft.

»Ist das nicht vielleicht so, dass du sie gezwungen hast dazu, für dich auf den Strich zu gehen?«, sagten die Beamten scharf.

Er wurde weiß. Dieses verdammte Luder! Sogar noch nach ihrem Tod machte sie ihm Ärger und Scherereien.

»Ihr könnt mir nichts nachweisen!«, schrie er. »Gar nichts!«

»Im Augenblick nicht«, sagten sie kalt. »Aber Albert, wir bleiben am Ball, hörst du? Sei auf der Hut.«

Fluchend verließ er das Leichenschauhaus.

»Du wirst dich jetzt um alles kümmern?«, fragten die Beamten draußen.

»Was denn jetzt noch?«

»Die Beerdigung«, sagten sie sanft.

Albert winkte ein Taxi. Jetzt musste er schon wieder Geld für sie ausgeben, dieses verdammte Luder. Nun hatte sie es also geschafft. Durch ihren Tod hatte sie die Bullen auf ihn gehetzt. Und er konnte sich nicht einmal an ihr rächen. Er kannte keinen Augenblick lang Gewissensbisse. Er war nur wütend, dass sie ihm entglitten war.

 

Nach Stunden erinnerte er sich wieder an das Kind. Das brachte seinen Zorn zum Sieden. Was sollte denn jetzt mit ihm geschehen?

Gegen Morgen betrat er die kleine, schäbige Kammer. Dort lag das Kind und schlief. Er stand da und sah es zornig an. Und zum ersten Mal bemerkte er die Ähnlichkeit mit sich selbst. Der Knabe war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Voll Staunen sah er auf diese winzige Ausgabe, und dabei ging ihm so richtig auf, dass das sein Sohn war!

Er kam aus dem tiefsten Milieu. Tiefer konnte man gar nicht mehr sinken. Aber durch Zähigkeit und Härte hatte er sich emporgearbeitet. Er war jetzt jemand und er hatte schon eine Menge Geld auf der Bank. Sein Sinn stand immer nach mehr und noch mehr Geld. Alles wollte er an sich reißen und reich und mächtig werden. Dann musste man ihn respektieren  auch die großen »Tiere«, die ihn jetzt noch verächtlich über die Schulter ansahen, wenn sie in seine Bar kamen, um sich an lockeren Mädchen zu erfreuen. War er aber erst einmal sehr reich, dann durften sie es nicht mehr wagen, sich ihn zum Feinde zu machen.

Er strebte nach zügelloser Macht in der Unterwelt. Bald würden ihm alle gehorchen. Bis jetzt hatte ihm das auch genützt  aber in diesem Augenblick, als er in das Gesicht seines Sohnes starrte, wusste er: Von jetzt an würde es noch eine Triebfeder mehr für ihn geben.

Die anderen Zuhälterbosse kannten nur sich und ihre Gier, aber er hatte einen Sohn. Für ihn würde er jetzt arbeiten. Patrick würde einmal reich sein und groß rauskommen. Niemand würde es wagen, ihn so zu behandeln wie man seinen Vater behandelt hatte.

Er würde sich selbst um seihe Erziehung kümmern. Nichts würde zu teuer für ihn sein. Wie einen Prinzen wollte er ihn großziehen.

Patrick würde eines Tages stolz auf seinen Vater sein, so wie er stolz auf seinen Sohn sein würde.

Er hatte einen Sohn!

Dieses Wissen machte ihn plötzlich ganz schwindelig. Darüber vergaß er alles, sogar die Mutter des Kindes. Er sah nur Patrick, er betete ihn an.

Ganz behutsam nahm er das Kind aus dem schäbigen Bettchen. Er trug es in seine eigene Wohnung. Dort legte er den Jungen auf das Sofa. Natürlich konnte er dort nicht bleiben. Aber Albert musste jetzt erst einmal gründlich nachdenken. Er zog sich einen Stuhl heran, saß nun vor seinem schlafenden Sohn und betrachtete dessen Gesicht.

»Nun, kleiner Mann  du wirst alles haben, das verspricht dir dein Daddy. Und wenn ich dafür einigen Leuten den Hals umdrehen müsste. Ich werde dir ein kleines Imperium schaffen, und eines Tages werden wir beide reich sein, sehr reich. Und die ganz großen Bosse müssen uns anerkennen. Bis dahin ist noch ein weiter Weg, ich weiß es. Aber du bist ja auch noch sehr klein, und es dauert noch eine Weile, bis du alt genug bist, um dich vernünftig mit mir zu unterhalten.«

Patrick hörte natürlich nichts davon und er wusste auch nicht, dass er jetzt keine Mutter mehr, hatte.

Nachdem Albert über eine Stunde lang über sein zukünftiges Leben nachgesonnen hatte, kam er zu dem Entschluss, für Patrick das beste und teuerste Kinderheim der Stadt zu suchen. Ihm würde es an nichts fehlen. Und sobald er alt genug war, um zur Schule zu gehen, würde er ihn in ein Schweizer Internat schicken. Patrick sollte mit den Anrüchigkeiten seines Berufes nichts zu tun haben. Makellos würde seine Weste bleiben. Und bis er alt genug war, um selbständig zu denken, würde er, Albert, schon so hoch stehen, das er sich mit diesen miesen, kleinen Geschäftspraktiken nicht mehr abplagen musste. Dafür würde er dann seine Untergebenen haben.

So suchte er also im Telefonbuch nach der Adresse und rief an. Es machte ihm nichts aus, dass es noch sehr früh war. Die Leiterin war exzentrische Leute gewöhnt. Zum anderen lebte sie davon, und so überraschte sie es keineswegs, als man ihr sagte, man würde gleich ein Kind bringen.

Behutsam wickelte er den Kleinen in eine Decke und trug ihn zum Wagen. Hamburg erwachte zögernd. Als Albert Lanner der Vorsteherin das Kind in die Hand drückte, sagte er mit grollender Stimme: »Es soll ihm an nichts fehlen. Nichts, verstanden!«

»Bei uns werden die Kinder vorzüglich versorgt«, sagte diese etwas spitz. »Wir haben Kinder von Schauspielern und anderen Persönlichkeiten hier. Wären wir nicht gut zu ihnen, so würde man sie nicht bei uns lassen.»

Diese Antwort befriedigte ihn.

Als sie nun seinen Beruf wissen wollte, zögerte er einen Augenblick. Dann sagte er: »Barbesitzer.«

Sie machte einen spitzen Mund. Mit so niedrigen Kreaturen gab sie sich in der Regel nicht ab.

»Mein Herr, haben Sie auch bedacht, wie hoch der Preis monatlich ist?«

Er fauchte sie an. »Glauben Sie, ich würde nicht zahlen können? Pünktlich auf die Minute werden Sie Ihr Geld haben, darauf können Sie sich verlassen!«

»Ich wollte Sie nur daran erinnern  wir müssen auch leben. Wir sind kein Wohlfahrtsinstitut.«

Albert knirschte mit den Zähnen. Am liebsten hätte er etwas Scharfes erwidert. Doch er mäßigte sich. »Darf ich sehen, wo mein Sohn leben wird?«

»Selbstverständlich.«

Der Luxus, in dem diese Kinder aufwuchsen, befriedigte ihn dann; er wirkte versöhnlicher.

»Ich werde ihn oft besuchen kommen.«

»Sie sind uns jederzeit willkommen«, säuselte sie.

Albert stand auf der Straße und schloss seinen Wagen auf. Er fühlte eine tiefe Befriedigung in sich. Jetzt lohnte sich alles. Das ganze verfluchte Leben lohnte sich. Und er würde jetzt überhaupt keine Gnade mehr kennen. Alles war für seinen Sohn gedacht, alles.

Aber zunächst musste er sich um die Beerdigung kümmern. Zuerst hatte er daran gedacht, sie mit möglichst wenig Kosten begraben zu lassen. Aber dann sagte sich Albert: Eines Tages würde der Junge ihn nach der Mutter fragen, das war sicher. Und dann musste er etwas sagen. Ein Grab war immerhin etwas. Aber der Junge würde es nicht verstehen, wenn seine Mutter so erbärmlich vergessen wurde. Albert dachte nur noch an die Zukunft.

So suchte er eines dieser Geschäfte auf und bestellte eine pompöse Beerdigung. Später sollte auf dem Grab ein prunkvoller, weißer Marmorstein aufgestellt werden. Er Unterzeichnete einen Fünfzehnjahresvertrag für die Pflege des Grabes. Für ihn war das alles nur ein Pappenstiel.

Zur Beerdigung selbst gingen nur er, Lie-San und die beiden Dirnen. Es war schnell vorbei. Lie-San dachte, das schlechte Gewissen hätte Albert dazu getrieben, sie jetzt in allen Ehren zu bestatten. Elviras Eltern waren gekommen, tief gebeugt und vom Schmerz gezeichnet. Die Mutter machte einen kränkelnden Eindruck. Albert sprach nicht von Patrick. Und weil sie nicht nach dem Knaben fragten, so war er sicher, dass Elvira ihnen nichts geschrieben hatte darüber.

Hier auf dem windigen Friedhof sahen sich der Richter und der Zuhälter zum letzten Mal. Kurze Zeit später verstarb Frau Schlieven und einige Jahre später der Richter.

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