Tränen einer Braut: 3 Romane

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5

Als sie erwachte, war es schon heller Tag. Sie sah aus dem Fensterchen. Vor ihr lag die Nordelbe. Schiffe tuckerten vorüber. Möwen kreischten und flogen hinterher, in der Hoffnung etwas Essbares zu erwischen.

Elvira sagte sich: »Ich bin jetzt in Hamburg.« Und ein tiefes Glückgefühl durchpulste sie.

Sie fühlte sich hungrig, aber zuerst wusch sie sich gründlich, zog ein frisches Kleid an und ging dann nach unten. Lie-San gab ihr etwas zu essen.

»Arbeit fängt erst um fünf Uhr an«, sagte er und nickte freundlich. »Ich kann dich gebrauchen, du bist schlau.«

Albert kam durch die Pendeltür und blieb erstaunt stehen. Nun erst, bei Tageslicht, sah er, wie hübsch und grazil sie war. Seine Augen blitzten unwillkürlich auf.

»Ich habe dich für eine Küchenschabe gehalten, aber jetzt sehe ich, dass du ein Goldkäferchen bist.«

Elvira lächelte ihn strahlend an.

6

Albert Lanner stammte aus dem tiefsten Milieu. Schon als Junge hatte er oft mit der Polizei zu tun gehabt: Erziehungsanstalt und so weiter. Doch als er volljährig geworden war, sagte er sich: Für so kleine Delikte sitzen zu müssen, das ist wirklich dumm. Albert war kalt und berechnend; und mit zwanzig hatte er sich geschworen, einmal im Geld zu schwimmen. Dann würden sich alle vor ihm verbeugen. Das konnte er aber nicht werden, wenn er fleißig arbeitete, sondern nur, wenn er andere für sich arbeiten ließ. Er wollte sich hier ein Imperium aufbauen wie es kein zweites gab. Später würde er dann auf andere Städte übergreifen und auch dort alles an sich reißen. Aber zuerst musste er sich hier Wurzeln holen, sozusagen fest verankern.

Vor gut einem halben Jahr hatte er diese Kneipe für wenig Geld erstanden. Noch drei, vier Monate, und sie gehörte ihm ganz. Es war ein stinkendes Loch, und er musste mit dem Abschaum der Menschheit vorliebnehmen. Aber er legte jeden Pfennig zur Seite. Wenn er genügend hatte, wollte er diese Bude renovieren. Nur noch die ganz großen Fische sollten dann bei ihm verkehren. Ein Netz würde er über diese Stadt legen, und überall würde er Lokale nach seinem Geschmack eröffnen.

Gestern Nacht hatte er mit Anke und Lola ein langes Gespräch gehabt. Sie standen bei ihm hoch in der Kreide, konnten ohne Alkohol nicht mehr auskommen. Er würde nie das Geld von ihnen bekommen. Aber Albert ließ sich so etwas nicht bieten. Er hatte sie vor die Wahl gestellt:

»Entweder ihr bezahlt heute alles, oder ihr geht für mich auf den Strich. Eure Einnahmen krieg ich ungeteilt, fünfhundert pro Nase und Nacht. Dafür bekommt ihr Essen und Trinken so viel ihr wollt. Und auch ein Zimmer zum Pennen.«

Sie hatten sich erst furchtbar aufgeregt. Die kleinen »Strichmiezen« wollten keinen Zuhälter haben. Albert beschwatzte sie, dass er ja gar keiner sei, er dächte nur an ihr Wohl. Die anderen würden sie doch nur ausnehmen.

Das stimmte, denn sobald sie ein wenig Geld in der Tasche hatten, waren sie spendabel. Alles trank mit, aber wenn sie dann blank waren, warf man sie hinaus.

Anke und Lola waren die ersten Mädchen, die für ihn standen. Das waren also pro Nacht tausend Mark. Essen und Trinken für die beiden fiel so nebenbei ab. Und das Zimmer oben unter dem Dach stand ohnehin leer. Heute Morgen hatte er zwei Feldbetten, einen Schrank und zwei Stühle hinaufgeschafft. Dabei hatte er festgestellt, dass noch Platz für zwei Betten vorhanden war. Er würde also neben der Kneipe ein sehr lukratives Geschäft aufziehen. Sein Traum waren Bars mit viel Plüsch, und darin durften nur die Stardirnen arbeiten. Natürlich mussten sie für ihn anschaffen. Oder zumindest behielt er einen beträchtlichen Teil ihrer Einnahmen einfach ein.

Der Krieg war schon lange vergessen. An allen Ecken und Enden wurde wieder aufgebaut, und bald würde der Augenblick kommen, wo die Männer wieder so viel verdienten, dass sie sich ihre Späßchen leisten konnten. Und dann musste er, Albert, da sein. Er würde diese Marktlücke schließen und dabei steinreich werden.

7

An all das musste er jetzt denken, während er Elvira betrachtete. Sollte er sie vielleicht aus der Küche nach oben in Feldbett Nummer drei verlegen? Aber im gleichen Augenblick erkannte er, dass das ein Fehler wäre, Elvira war eben etwas Besseres. Aber wenn er sie auf den gemeinen Strich schickte, würde es nicht sehr lange dauern, bis sie genauso verkommen war wie ihre Mitschwestern. Außerdem war sie von zu Hause ausgerückt, und bestimmt wurde schon nach ihr gesucht. Die Polizei machte ständig in dieser Gegend Streifen, besonders nachts. Hier in der Küche hatte sie nichts zu suchen.

Angelernt war sie auch nicht. Sie würde sich also übers Ohr hauen lassen. Und wer weiß, dachte er bei sich, wenn sie draußen herumtippelt, haut sie mir vielleicht ab. Und dann krieg ich wieder Ärger mit den Bullen. Den kann ich im Augenblick wirklich nicht vertragen. Nein, ich muss warten, bis ich mich verändert habe. Wenn ich erst einmal meine erste Bar besitze  und das wird bestimmt schon in einem halben Jahr der Fall sein  dann muss sie dort auf Männerfang gehen.

Lie-San, der Koch, durchschaute seine Gedanken. Er sagte nur: »Ich brauche diese Hilfe. Sonst ich nicht mehr so gut arbeiten wie früher.«

»Habe ich denn etwas gesagt?«, entgegnete Albert wütend.

»Schon gut, wollte nur noch mal erinnern«, sagte der Chinese.

Elvira verstand nichts mehr.

Albert wandte sich an das Mädchen. »Vorläufig gehst du nicht raus. Ist das klar?«

»Aber warum denn nicht«, stotterte sie verlegen.

»Weil dich die Bullen bestimmt suchen werden.«

Sie biss sich auf die Lippen. Inzwischen mussten die Eltern schon ihren Brief gefunden haben. Und wie sie ihren Vater kannte, würde er wirklich sofort zur Polizei gehen. Elvira wusste auch: Wenn man sie fand und zurückbrachte  denn sie war ja noch nicht mündig  dann würde sie bis zu ihrer Volljährigkeit nicht mehr allein ausgehen dürfen. Man würde sie wie ein Hündchen an die Kette legen, mit anderen Worten, man wollte sie vor Unheil bewahren und schützen. Die Welt war ja so grausam für kleine Mädchen. Wie oft hatte sie diesen Satz schon zu hören bekommen.

»Und wie lange muss ich mich versteckt halten?«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Albert und erhob sich.

Elvira und der Koch blieben allein zurück. Und jetzt fing auch Lie-San noch an.

»Nicht gut gewesen, dass du fortlaufen, wirklich nicht.«

»Aber ich arbeite doch für Sie. Sie sind doch mit mir zufrieden«, sagte Elvira.

»Ja, ja, aber dieses sein ein verrufenes Haus. Nicht gut für anständiges Mädchen. Wird noch unglücklich werden. Sehr unklug, wenn fortlaufen. Mädchen gehören zu Hause, zu Vater und Mutter.«

Elvira wurde zornig.

»In China mag das der Fall sein, hier aber nicht«, sagte sie hochmütig.

Der Koch sah sie nur mitleidig an, dann sagte er: »Ich muss jetzt einkaufen gehen.«

8

Dann war sie ganz allein in der großen Küche. Sie dachte an Albert. Er gefiel ihr immer mehr. Und sie fühlte, wie ihr Herz raste. Sie war noch nie verliebt gewesen. Vielleicht würde Albert sie auch lieben und heiraten; und dann konnte sie ihre Eltern besuchen und ihnen stolz ihren Mann vorführen.

Alle Freundinnen würden sie beneiden um einen so wundervollen Mann, zudem war er kein grüner Junge mehr. Pah, dachte sie, Mama mit ihren Reden! Die weiß ja gar nichts, aber bestimmen, das wollen sie, als wenn wir aus Holz wären und nicht aus Fleisch und Blut.

Um siebzehn Uhr begannen die ersten Vorbereitungen. Am Morgen hatten die Putzfrauen das Lokal gesäubert. Angeekelt schaute Albert auf den Haufen Scherben am Boden. Seine Gäste stapften wie eine Herde Rinder durch die Gegend und wenn es ihnen passte, schlugen sie alles kurz und klein.

Bald würde er dies alles hinter sich lassen. Das war so gewiss wie das Amen in der Kirche. Kaum hatte er das gedacht, da kamen schon die Brüder und Schwestern von der Heilsarmee und postierten sich vor seiner Kneipe auf. Und er durfte sie nicht mal vertreiben.

In der Küche arbeiteten Lie-San und Elvira. Immer wieder tauchte Albert auf. Aber bald merkte das Mädchen, dass dieses Arbeiten schrecklich anstrengend war. Wie gern wäre sie jetzt in ihr Zimmer gegangen und hätte sich ausgeruht. Und dabei war noch nicht einmal Mitternacht vorüber. Der ganze Budenzauber zog sich bis drei, vier Uhr hin.

Der Koch munterte sie immer wieder auf.

»Alles Gewöhnung, bald nix mehr merken.«

»Dann bin ich schon gestorben«, stöhnte sie.

»So schnell nicht«, lachte er sie an. »Ich mache das schon viel Jahre und auch noch nicht tot.«

Elvira dachte: Ich will nicht den Rest meines Lebens in dieser Küche verbringen. Wenn ich doch vorn bedienen dürfte, das wäre wenigstens lustig. Sie lachen dort drin so viel, und alle haben ihren Spaß. Warum lässt mich Albert das nicht tun? Wenn die Polizei kommt, dann kann ich mich ja schnell verstecken. Morgen werde ich mit ihm darüber reden, ganz bestimmt.

9

Dann war der Augenblick gekommen, wo sie Schluss machen durfte. Mit letzter Kraft zog sie sich am Geländer treppauf. Mehr tot als lebendig warf sie sich auf das Bett. Vielleicht hatte sie ein paar Minuten so apathisch gelegen, vielleicht auch länger; sie konnte es nicht mehr sagen. Und überhaupt spielte das gar keine Rolle. Plötzlich wurde ihre Tür aufgestoßen, und Albert stand im Morgenmantel neben ihrem Bett.

 

Verblüfft sah sie ihn an.

»Los, mach Platz!«

»Wie?«

»Du sollst zur Seite rücken!«

»Aber warum denn?«, stotterte sie.

»Weil ich mit dir schlafen will, darum.«

Ihre Kehle war im ersten Augenblick wie zugeschnürt. Sie konnte ihn nur anstarren.

»Albert«, flüsterte sie dann erschrocken, »Ich ...«

Er hatte schon den Bademantel ausgezogen, und jetzt sah sie, dass er vollkommen nackt war. Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen nackten Mann gesehen, und daher erschrak sie ziemlich heftig. Aber er kümmerte sich nicht darum, riss ihr die Bettdecke weg  und bevor sie überhaupt an Abwehr denken konnte, hatte er ihr auch schon das Nachthemd abgestreift.

Befriedigt sah er sie an.

»Das hab ich mir gedacht«, murmelte er. »Du bist wirklich ein Goldkäfer. Und ganz freiwillig zu mir ins Haus geflogen! Jetzt werden wir ein sehr hübsches Stündchen miteinander verbringen, Kleine. Ich bin ein toller Liebhaber, musst du wissen.«

»Nein«, gurgelte sie und wich bis zur Wand zurück. Zugleich versuchte sie, mit den Händen ihre Blöße zu bedecken.

»Was denn?« Er runzelte die Stirn.

»Bin ich dir vielleicht widerlich?« Er knurrte wie ein böser, gereizter Bernhardiner.

»Nein, nein«, stammelte sie.

»Was ist es denn? Los, sag’s schon.«

»Ich habe das noch nie getan.«

Jetzt war das Starren auf seiner Seite. Albert wollte seinen Ohren nicht trauen.

»Du bist verrückt!«, sagte er lachend. »Auf die Masche fall ich nun wirklich nicht rein. Du bist ein lecker Püppchen und bevor dich die anderen vernaschen, will ich mein Vergnügen mit dir haben.«

Ehe Elvira sich’s versah, hatte er sie schon gefasst und warf sie aufs Bett. In den Liebesbeziehungen war Albert ziemlich rasch. Hauptsache, ihm machte es Spaß, ob die Frauen Spaß hatten, kümmerte ihn überhaupt nicht. Außerdem hatte er bis jetzt ausschließlich mit Dirnen verkehrt, und die kannten es nicht anders und muckten auch nicht auf.

Gegen seine Bärenkräfte kam Elvira nicht an. Und als er sie nahm, tat es so schrecklich weh, dass sie laut aufschrie und fast ohnmächtig wurde. Abrupt hörte Albert auf und schaute sie sprachlos an. Dann murmelte er verwirrt:

»Es stimmt ja tatsächlich. Du bist ja wirklich noch eine Jungfrau!«

Elvira hatte das Gesicht ins Kissen gedrückt und wimmerte leise vor sich hin.

»Hör endlich auf! Das legt sich bald«, sagte er barsch. Aber irgendwie tat ihm die Kleine dann doch leid. »Morgen kaufe ich dir ein neues Kleid, ehrlich.«

So freigiebig war er noch nie zu einem Mädchen gewesen. Aber schließlich war sie auch keine Dirne. Und plötzlich war er mächtig stolz darauf, dass er auch mal der Erste gewesen war.

Er gab ihr einen gutmütigen Klatsch auf ihr rundes, nacktes Hinterteil.

»So, jetzt schlaf mal. Das nächste Mal, das verspreche ich dir, da wird es nicht mehr weh tun. Bald wirst du jauchzen vor Spaß. Ich bin nämlich ein toller Liebhaber, musst du wissen.«

Bevor das Mädchen überhaupt etwas darauf antworten konnte, ging die Tür hinter ihm zu. Verwirrt und geschockt lag sie da und wusste nicht, was sie denken sollte. Aber dann überfiel sie die Müdigkeit und sie schlief apathisch ein.

10

Es war wieder später Mittag, als sie endlich in die Küche kam. Ihre Gefühle waren seltsam. Stumm hockte sie am Tisch und dachte nach. Liebte Albert sie nun wirklich oder nicht?

Kaum hatte der Koch ihr das Essen vorgesetzt, da erschien der Wirt. Er trug ein längliches Paket unter dem Arm, sah Elvira kurz an und sagte: »Hier ist das versprochene Kleid.«

Atemlos sah sie zu, wie er es auspackte. So etwas Duftiges und Gewagtes hatte sie im Leben noch nicht getragen.

»O Albert!«, rief sie und flog ihm um den Hals. »Ich liebe dich ja so sehr!«

»He, nicht so stürmisch«, brummte er.

»Du liebst mich doch auch, nicht wahr?«

Er machte ein erstauntes Gesicht. Liebe, das Wort kannte er nun wirklich nicht. Die Kleine hatte ihm nur irgendwie leidgetan.

»Ich tu ja alles, was du willst«, hauchte sie hingegeben. So schnell hatte Elvira nicht damit gerechnet, dass Albert sie lieben würde.

»Na, das ist ja prächtig«, sagte er rasch. »Dann arbeite du man schön weiter.«

»Waaas?«, rief sie enttäuscht. »Hier in der Küche willst du mich lassen? Aber, Albert, ich möchte in deiner Nähe bleiben, immer. Kannst du das nicht begreifen?«

Albert war dreißig Jahre alt und kannte das Leben nur von der hässlichen Seite. Die Anbetung des Mädchens kam ein wenig überraschend. Oberhaupt, was hatte er sich da nur eingebrockt? Aber dann sagte sein Instinkt: Es ist ein hübscher Käfer und der wird umsonst für mich schuften. Musst nur ein wenig nett zu ihm sein. Und wenn du seiner überdrüssig bist, dann lässt du ihn als Biene laufen. Auf alle Fälle hast du sie dann angelernt  und sie wird kuschen.

So war er jetzt mit seinen Antworten etwas vorsichtig und sagte nur: »Die Bullen sind im Augenblick sehr scharf. Ich kann das nicht riskieren. Später.«

Elvira machte einen Schmollmund. Als Einzelkind hatte sie bisher auf diese Art immer ihren Willen durchsetzen können, das heißt, wenn der Wunsch nicht zu unsinnig war.

»Was heißt später?«, fragte sie gedehnt.

»Ich bleibe nicht immer in dieser mistigen Bude hängen«, sagte er. »Bald werde ich die beste Bar haben, und man wird sich um einen Platz reißen. Du wirst schon sehen. Alles wird schick sein, mit Plüsch und Polster, Kristalllüstern und feinem Geschirr. An nichts wird es fehlen, und dann kannst du an der Bar bedienen, Elvira. Du wirst schon sehen, das ist der richtige Platz für dich. Ich werde dir tolle Abendkleider kaufen, und die Männer werden in Scharen kommen, nur um dich zu sehen.«

Sie sah ihn mit ihren großen Kulleraugen an.

»Aber Albert, ich liebe dich  ich will keine anderen Männer.«

»Närrchen!«, sagte er verächtlich. »Natürlich sollst du nicht mit ihnen schlafen, sie nur anlocken. Es sei denn, sie bieten einen hohen Preis.«

Elvira verstand nur, dass ihr Albert ganz hoch hinauswollte. Und bestimmt würde er sich dann auch einen todschicken Wagen zulegen. Mit dem würden sie dann nach Hause fahren. Instinktiv sehnte sie sich, genau wie es damals ihre Mutter getan hatte, nach einer guten Existenz und nach Geborgenheit.

»Dann sind wir also jetzt so gut wie verlobt?«, jubelte sie.

»Nenn es, wie du willst«, sagte er lachend und verließ die Küche.

Die ganze Zeit hatte Lie-San im Hintergrund gearbeitet. Er hatte alles mitbekommen. Jetzt kam er näher, sein Gesicht war wie immer ausdruckslos.

»Geh zurück nach Hause«, sagte er jetzt. »Du rennst in dein Unglück.«

Lachend um wirbelte Elvira ihn. »Jetzt soll ich zurückgehen? Bist du verrückt! Wo ich jetzt mit Albert verlobt bin?«

11

Sie hätte noch vieles zu diesem Thema gesagt, wenn in diesem Augenblick nicht die Pendeltür aufgestoßen worden wäre und zwei Mädchen die Küche betreten hätten.

Elvira hörte mit dem Tanzen auf und starrte die beiden an. Sie sahen alt und verlebt aus.

»Was wollt ihr denn?«, fragte sie hochmütig, denn jetzt hatte sie ein Recht, so zu reden. Sie war ja Alberts Verlobte!

»Die wollen nur ihr Essen«, sagte Lie-San ruhig. Damit schob er ihnen einen randvoll gefüllten Teller zu. Schweigend saßen sie an der Ecke des großen Tisches und schaufelten das Essen in sich hinein. Ihre zotteligen Haare hingen ihnen ins Gesicht, aber sie schienen sich nicht darum zu kümmern. Elvira hätte sich am liebsten die Nase zugehalten. Sie begriff Lie-San nicht, der doch sonst so für Sauberkeit war. Wahrscheinlich hatte er mit den Bettlerinnen Mitleid, etwas anderes konnten die beiden unmöglich sein.

Anke sah Elvira kurz an, dann wandte sie den Kopf und rief nach dem Koch. »Albert hat uns auch Schnaps versprochen! Ich seh ihn nicht!«

»Nur, wenn ihr alles aufgegessen habt«, sagte er streng.

Sie schimpften. Aber Lie-San wusste ganz genau, echte Säuferinnen wollten nur was zu trinken haben, nichts zu essen. Und so würde es nicht lange dauern, bis sie endgültig am Boden zerstört waren. Solange sie in seiner Küche zu essen bekamen, würde er dafür sorgen, dass sie eine anständige Unterlage hatten. Obwohl Albert ihm gesagt hatte, den beiden genügten auch Abfälle. Die wären wie Tiere und würden alles essen.

Sie knurrten und nuschelten ein wenig herum, aßen aber dann alles auf und bekamen dann jede ihre Flasche. Sofort erhoben sie sich und gingen.

»Wer waren die beiden?«, fragte Elvira.

»Das waren zwei Dirnen.«

»Waaas? So alt, und dann wollen die Männer sie noch?«

»Für wie alt hältst du sie denn?«

»Die sind bestimmt schon vierzig, wenn nicht noch mehr«, sagte sie.

»Die sind beide noch keine zwanzig Jahre alt«, entgegnete Lie-San.

»Du lügst!«

Lie-San sah sie ernst an. »Wenn du nicht bald fortgehst, dann wirst du auch so aussehen.«

»Niemals!«

»Die Dirnen arbeiten für Albert, Elvira. Und es wird nicht lange dauern, dann wird er dich auch auf den Strich schicken, wie diese Mädchen. Dann musst du jede Nacht dein Soll erfüllen. Tust du es nicht, dann kannst du was erleben.«

»Du bist verrückt!«, schrie sie ihm ins Gesicht. »Hast du vergessen, was Albert soeben zu mir gesagt hat?«

Lie-San wusste ganz genau, dass Albert ihr nichts gesagt hatte. Er war gerissen. Aber Elvira würde ihm nichts, aber auch gar nichts glauben; deshalb ließ er es.

Elvira ging nervös auf und ab. »Du gönnst mir mein Glück nicht, das ist es. Du bist wütend, dass du nicht mehr allein hier regieren kannst.«

Der Chinese schaute sie nur ausdrucklos an, und von Stund an ließ er dieses Thema fallen.

Albert tat fast gar nichts. Er besuchte sie nur jede Nacht, und als sie sich erst einmal daran gewöhnt hatte, machte es ihm und ihr großen Spaß. Aber ansonsten verhielt er sich wie immer. Doch das hielt Elvira nicht davon ab, im siebten Himmel zu schweben. Nur tat es ihr leid, dass sie sich noch immer verborgen halten musste. Einmal hatte sie eine kleine Andeutung darüber gemacht, dass Albert mit ihr zu den Eltern fahren sollte, aber da hatte er sie nur angebrummt und gemeint: »Das ist deine Sache. Die geht mich nichts an.«

Da hatte sie wieder einen Schmollmund gezogen und gemeint: »Aber es dauert ja noch bald vier Jahre, bis ich volljährig bin.«

»Und?«, hatte er geantwortet. »Je jünger du bist, umso besser fürs Geschäft. Diesen naiven Blick musst du behalten, darauf fallen sie alle herein. Wirst schon sehen.«

12

Elvira arbeitete weiter in der Küche. Und bald waren nicht nur zwei Nutten zu füttern, sondern vier. Das regte sie dann doch ziemlich auf, und sie fragte ihn. Albert verstand zwar nicht, was sie das anging, aber er musste sich das Mädchen warmhalten, und so sagte er nur: »Sie bringen mir das Geld für die Nachtbar. Der Schuppen hier allein wirft es nicht ab. Und wenn ich noch mehr kriegen kann, nehme ich noch mehr. Dann bau ich noch ein Stück an. Damit kann man wirklich sein ganz großes Geld machen.«

»Aber du hast doch nichts mit ihnen?«, fragte sie angstvoll. Er tätschelte ihr die Wange und meinte: »Mit diesen verlausten Weibern? Nee, ich hab ja dich.«

Da glühten ihre Backen auf, und sie war wieder selig. So verging die Zeit, und nun war sie schon zwei Monate in Hamburg und hatte von der Stadt noch nicht viel gesehen. Wenn sie etwas brauchte dann besorgte Albert das.

Aber seit ein paar Tagen waren ihre Wangen nicht mehr so rosig und das Arbeiten fiel ihr furchtbar schwer. Es kam jetzt immer häufiger vor, dass sie wenn sie die Speisen zubereiten musste, fluchtartig die Küche verließ und sich erbrach. Natürlich bemerkte Lie-San das, sagte aber zunächst nichts. Doch sie sah immer elender aus und mochte auch nichts mehr zu sich nehmen. Alles, was mit Essen zusammenhing, war ihr ein Gräuel geworden.

»Du musst zum Arzt, du bist schwanger. Ich kenne das!«

Elvira starrte ihn entgeistert an.

»Nein!«

»Doch, er wird es dir auch sagen.«

»Du glaubst, ich bekomme ein Kind?«, lispelte sie.

»Ja!«

 

Sie saß da und blickte auf den Hinterhof. Ein Kind! Jetzt musste Albert sie sofort heiraten. In der Kleinstadt war das auch schon vorgekommen. Dann heiratete man eben sehr schnell, und später hatte man dann angeblich eine Frühgeburt.

Wenig später kam Albert herein. Sie flog ihm entgegen und rief freudig: »Ich bekomme ein Kind, Albert? Jetzt müssen wir sofort heiraten!«

Wie vom Donner gerührt, stand er da und starrte sie entgeistert an.

»Waaas?«, schrie er los.

»Ja, Lie-San sagte es. Ich muss zum Arzt. O Albert, ist das nicht wundervoll.«

Er lief rot an.

»Bist du denn total verrückt geworden!«, keuchte er. »Ein Kind, das fehlte mir noch. Außerdem verpfuscht es deine Figur, und Ärger und Dreck gibt es auch. Warte, ich kenne da eine Adresse. Wenn das wirklich stimmt, dann bringe ich dich morgen hin, und du hast den ganzen Ärger los. Und das sage ich dir: Wenn du in Zukunft nicht dafür sorgst, dass so etwas nicht wieder passiert, dann werf ich dich auf die Straße.«

Entgeistert sah das junge Mädchen den Mann an.

»Aber das ist nicht dein Ernst! Du machst nur Spaß, Albert. Sag, dass du nur Spaß machst. Ich flehe dich an. Du ängstigst mich.«

»Ich und Spaß machen? Du gehst morgen zu der Engelmacherin, und dann bist du das Kind los. Das wird mich bestimmt einen Tausender kosten.«

»Nein!«, schrie sie ihn an. »Ich lass mein Kind nicht abtreiben! Niemals! Es ist mein Kind, und du bist der Vater! Und du wirst mich heiraten wie versprochen. Wir werden eine Familie sein, Albert.«

»Heiraten?«, höhnte er. »Ich habe dir nichts versprochen! Gar nichts. Ich denke nicht daran. Und wenn du nicht tust, was ich dir sage, kriegst du gleich einen Tritt und fliegst auf der Stelle. Solche dummen Puten wie dich, die krieg ich alle Tage.«

Sie musste sich an der Tischkante festhalten, sonst wäre sie umgesunken. Nun zeigte er sein wahres Gesicht. Und in dieser Sekunde verstand Elvira Lie-San endlich. Damals hatte sie ihn ausgeschimpft. Alles war Lüge gewesen. Albert hatte mit ihren Gefühlen gespielt, und sie hatte sich eine herrliche Zukunft vorgegaukelt Und jetzt wusste sie auch, wofür er sie in der Bar haben wollte. Als Stardirne! Oft genug hatte er von diesen teuren Mädchen gesprochen. Darum hatte er alles mit ihr geübt! Hatte er nicht immer dabei gesagt: So machen es die Hochbezahlten. Die haben Tricks, die du dir merken musst. Noch gestern hatte sie darüber gelacht. Und jetzt?

»Ich werde mein Kind behalten«, sagte sie, und ihre Augen wurden plötzlich eiskalt. »Du kannst mich nicht dazu zwingen. Ich werde mein Kind austragen, o ja. Und du wirst sein rechtmäßiger Vater sein.«

Er lachte nur hämisch und wollte wieder fortgehen.

»Bleib hier«, schrie sie ihn an.

Er drehte sich herum. Grausamkeit spiegelte sich in seinen Augen.

»Mach mich nicht ärgerlich«, sagte er leise. »Du kannst dann was erleben.«

»Du hast mich verführt«, sagte sie kalt. »Das hast du getan, damals in der ersten Nacht. Du hast mir die Unschuld geraubt, und dafür wirst du mich jetzt wieder ehrbar machen. Bilde dir nur nicht ein, ich wäre ein Kind, ein Nichts, mit dem du umspringen kannst wie mit einer gemeinen Dirne. Das wirst du unterlassen, hast du mich verstanden?«

»Was willst du? Geld? Kriegst du noch!«

»Geld will ich nicht. Du wirst mich heiraten.«

»Nein, verflucht noch mal! Bist du schwerhörig? Ich werde niemals heiraten! Die Weiber machen einen verrückt, saugen einem das Blut aus den Adern. Ich will reich werden, und daran wird mich keiner hindern.«

»Ich habe dich geliebt, o ja«, schluchzte sie auf. »Ich habe dich wirklich geliebt und gedacht, ich könnte dich ändern. Aber jetzt weiß ich, dass du ein gemeiner Hund bist. Aber ich will nicht in der Gosse landen. Du wirst mich heiraten, so wahr ich Elvira Schlieven heiße.«

Er lachte wieder hämisch auf. »Noch bin ich Mann genug, dich rauszuwerfen. Und dann kannst du sehen, wo du was zu essen kriegst. Mit einem dicken Bauch will dich keiner haben  keiner, verstehst du!«

»Überleg es dir gut: Entweder du heiratest mich, oder du wirst wegen Verjährung Minderjähriger sitzen.«

Für Sekunden war es ganz still in der Küche.

»Was?«, keuchte er und wurde fast blaurot im Gesicht. »Du willst mir drohen? Hüte dich, oder du landest als Fischfraß in der Elbe!«

»Du wirst sitzen«, sagte sie ruhig.

»Ich habe meine Rechtsanwälte, die holen mich raus«, höhnte er. »Dich kleines Würmchen hört man ja nicht mal an bei den Bullen!«

»Mich vielleicht nicht, aber meinen Vater«, sagte sie ruhig. »Hast du vergessen, dass er Richter ist? Er wird schon dafür sorgen, dass der Verführer seiner Tochter eine gerechte Strafe erhält. Da halten die Kollegen zusammen, darauf kannst du Gift nehmen.!«

Zum ersten Mal im Leben ging nicht alles so, wie es sich Albert ausgedacht hatte. Unwillkürlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Das hatte er tatsächlich vergessen. Sie war ja nicht irgendwer. Und er wusste ganz genau: Wurde er jetzt verurteilt, dann würde er nicht so leicht wieder Fuß fassen können. In der Zeit, die er im Gefängnis saß, würden andere seinen Platz einnehmen. Kam er endlich wieder heraus, dann würde er die Stadt verlassen müssen. Ade, du reiche Welt. Seine Pferdchen ... Wo er doch heute die fünfte aufgerissen hatte! Wo ihm ein Projekt angeboten worden war, das genau seinen Wünschen entsprach. Und das alles sollte zum Teufel gehen? Sein ganzes Erspartes für einen Anwalt ausgeben und dann doch noch sitzen müssen?

»Du gemeine, hinterhältige Schlange!«, schrie er und wollte sich auf sie stürzen.

»Wenn du mich umbringst, wirst du lebenslänglich bekommen«, sagte sie ruhig.

Er bremste sich.

»Ich werde dich umbringen lassen, das schwör ich dir. Das hat noch keiner gewagt, so mit mir zu sprechen. Das wirst du mir büßen, das schwör ich dir!«

»Ich habe meinem Vater geschrieben«, log sie. »Er weiß jetzt alles. Und sollte ich irgendwie ums Leben kommen, dann weiß er, dass du deine Finger in der Sache gehabt hast.«

Albert saß ganz tief im Schlamassel. Zum ersten Mal war ein kleines Mädchen stärker; und das auch nur, weil sie einen Vater zum Richter hatte.

In diesem Augenblick sah er rot. Und weil er keine Dummheit begehen wollte, die ihn später vielleicht furchtbar reute, stürzte er davon. Irgendwie musste er versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen. Es musste doch ein Hintertürchen geben!