Tränen einer Braut: 3 Romane

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13

Elvira ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen. Sie zitterte an allen Gliedern. So hatte sie ihn noch nie gesehen, aber so jung und naiv sie war, glaubte sie, es würde sich legen. Er wäre nur im Augenblick so wütend. Später würden sie dann wieder so glücklich sein wie zuvor.

Er musste sie wieder ehrbar machen, sonst würde sie sich nie mehr bei den Eltern sehen lassen dürfen. Jetzt in dieser Sekunde spürte sie, wie sehr sie eigentlich Heimweh hatte. Die ganze Zeit schon hatte es in ihr genagt. Sie hatte es sich nur nicht bewusst werden lassen.

Lie-San stand vor ihr und hielt ihr eine Tasse heißen Tee entgegen. »Trink, das tut gut.«

Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Danke, Lie-San.«

Er lächelte.

»Er ist ein böser, böser Mensch. Geh fort.«

»Ich kann doch jetzt nicht«, stöhnte sie.

»Für Kind nur schreckliches Leben. Nicht gut!«

»Ach Lie-San, ich muss bleiben. Eine uneheliche Mutter mit ihrem Kind, die wird verachtet. Und dann, wie soll ich denn Geld verdienen? Ich hab die Lehre abgebrochen, ich kann doch nichts.«

»Zu Vater und Mutter zurückgehen, werden schon helfen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Jetzt werden sie mich verstoßen. Ein Richter in der Familie und die Tochter mit einem unehelichen Kind. Meine Eltern würden fortziehen müssen. Und das kann ich nicht zulassen. Nein, das muss ich allein ausbaden. Albert ist jetzt nur so wütend, aber später wird es ihn sicherlich reuen.«

Lie-San schüttelte nur traurig den Kopf. »Hatte schon mal ein Mädchen, bekam auch ein kleines Baby, musste zu einer Frau und die machte das Baby weg. Fünf Tage später war das Mädchen auch tot.«

Sie erschauerte.

»Albert hat sie bestimmt nicht geliebt«, stammelte sie. »Bestimmt war sie nur eine Dirne.«

Lie-San schüttelte wieder den Kopf.

Die ganze Nacht sah sie Albert nicht. Sie musste arbeiten. Lie-San versuchte ihr zwar vieles abzunehmen, aber der Betrieb war gerade heute so hektisch, dass er mit dem Kochen kaum nachkam. Er kochte vorzüglich, und das hatte sich herumgesprochen. Wegen Lie-San kamen sie in Alberts Kneipe. Der wusste das sehr wohl. Er hatte schon mit ihm gesprochen und erklärt, dass er auch in die neue Nachtbar übersiedeln müsste. Dort würde er die modernste Küche von Hamburg bekommen.

Gegen Morgen sagte Lie-San, als Elvira mehr tot als lebendig war: »Geh schlafen, ich werde mit Albert Lanner reden.«

Mit letzter Kraft schleppte sie sich die Treppe hinauf.

Kurz vor der Morgendämmerung tauchte Albert auf. Er war halb betrunken. Am Küchentisch saß Lie-San.

»Du schläfst noch nicht?«, knurrte er.

Der Chinese sagte: »Ich muss mit dir reden.«

»Herrje, was ist denn jetzt schon wieder? Du willst mir doch nicht sagen, dass sie nicht gearbeitet hat?«

»Elvira hat die ganze Nacht gearbeitet, aber das will ich nicht mit dir reden. Ich will nur sagen, wenn du Mädchen nicht heiratest, dann bleibe ich auch nicht bei dir!«

Albert stützte sich auf den Holztisch und starrte ihn an.

»Was soll das heißen?«, röchelte er.

»Genau was ich sagen. Sie ist gutes Mädchen, wenn du sie rauswerfen, gehe ich auch.«

»Ich will sie nur nicht heiraten!«, brüllte er los.

»Sie liebt dich und bekommt ein Kind.«

»Das ist ein Komplott.«

Der Chinese erhob sich.

»Du weißt jetzt Bescheid.«

Am liebsten hätte ihm Albert ins Gesicht gespien und ihn vor die Tür gesetzt. Aber er wusste ganz genau, dass der Chinese überall Arbeit bekam. Und wenn er nicht mehr bei ihm kochte, dann würde der Zustrom aufhören. Er hatte den besten Koch in Hamburg und konnte es sich demzufolge nicht leisten, ihn laufen zu lassen.

Alles schien schiefzulaufen.

»Du willst mich also auch erpressen?«, würgte er hervor.

»Ich habe von dir gelernt!«

»Wir reden morgen miteinander«, sagte er. »Jetzt kann ich nicht klar denken.«

»Dann gehe ich jetzt schlafen.«

Zum ersten Mal in seinem Leben saß er richtiggehend in der Falle. Er konnte sich die Sache überlegen, wie er wollte. Für ihn gab es kein Zurück mehr. Das machte ihn wütender denn je. Diese kleine Schlampe hatte ihn übers Ohr gehauen, und er sollte jetzt kuschen?

Der Zuhälter dachte nicht einen Augenblick daran, dass er es ja gewesen war, der sich an Elvira herangemacht und schamlos ihr Liebe ausgenutzt hatte. Hinzu kam, dass er ihr bis jetzt noch keinen Pfennig Geld ausgezahlt hatte. Und sie arbeitete wirklich hart. Aber das alles hatte er als selbstverständlich angenommen. Wer bei ihm nicht parierte, der bekam einen Tritt und flog hinaus.

Warf er Elvira vor die Tür, dann würde auch sein Koch gehen. Verflixt, alles ging schief! Und dann noch immer die Angst, ins Gefängnis zu müssen. Bestimmt würde sie sofort zu ihren Eltern fahren und denen alles erzählen. In Lie-San hatte sie einen guten Zeugen.

Am nächsten Tag sah er übernächtigt aus. Als er Elvira in der Küche traf, sah sie auch nicht besser aus. Die Schwangerschaft machte ihr zu schaffen, und außerdem hatte sie viel geweint. Sie hatte jetzt wirklich große Angst vor der Zukunft. Der Mann durfte sie nicht verlassen. Hatte er denn überhaupt kein Herz?

Böse blickte er sie an. Sie lächelte schwach. Sein Hass auf Frauen verstärkte sich in diesem Augenblick noch mehr.

»Gut«, sagte er nach einer Weile, »ich werde dich heiraten.«

»O Albert, wirklich?«

Sie blühte sichtlich auf.

»Ich tu es nur, weil du mich dazu zwingst. Aber das schwöre ich dir hier und jetzt: Das wirst du mir noch büßen.«

Elvira hörte gar nicht richtig hin. Sie war froh, so schnell bekommen zu haben, was sie wollte.

»Fahren wir am Sonntag zu meinen Eltern?«

Er sah sie entgeistert an. »Was soll ich?«

»Na ja«, sagte sie ein wenig ängstlich, »ich bin doch noch nicht volljährig, weißt du. Ich brauche die Genehmigung meiner Eltern.«

Er fluchte vor sich hin. Aber zugleich dachte er: Dem Herrn Richter wird ein Zacken aus der Krone fallen, wenn er eines Tages erfährt, dass sein ehrenwerter Schwiegersohn ein Zuhälter ist. Und wenn er erst einmal sieht, wo seine liebliche Tochter arbeitet, dann wird er umfallen. Aber ich werde ihm gleich sagen, dass sie sich mir an den Hals geworfen hat. Wenn sie denkt, ich spiele jetzt den großen Verführer, dann irrt sie sich gründlich. Überhaupt wird sie diesen Tag noch verfluchen.

»Gut«, knirschte er zwischen den Zähnen hervor. »Aber ich fahre nur dies eine Mal mit. Hast du mich verstanden?«

»Ja, Albert«, sagte sie eingeschüchtert.

Elvira wollte den Hass einfach nicht wahrhaben. Und sie ließ sich auch nicht anmerken, dass sie bekümmert war; denn Albert kam jetzt nachts nicht mehr zu ihr. Überhaupt sah sie ihn jetzt sehr selten.

Als der Sonntag herannahte, hatte sie doch ein klein wenig Angst. Zum Glück hatte sie den Mut aufgebracht, den Eltern einen langen Brief zu schreiben. Sie hatte sich sogar bei ihnen entschuldigt. Jetzt konnte sie ja alles tun, denn man würde sie nicht wieder daheim festhalten.

Inbrünstig hatte sie auf eine Antwort gewartet, aber kein Brief traf ein. Das schmerzte sie sehr. Und als sie jetzt zu Albert in den Wagen stieg, klein, demütig und ein wenig zerknittert, fühlte sie nur ihr Herz, das angstvoll schlug.

Und der Zuhälter dachte: Wie konnte ich nur auf so ein mickeriges Hühnchen reinfallen. Nein, wenn sie einen dicken Bauch hat, dann kann sie noch nicht einmal in der Bar helfen. Es ist scheußlich, dass sie mich so in der Hand hat. Aber es wird noch der Augenblick kommen, wo ich ihr alle Schlechtigkeiten heimzahlen werde.

Als sie die Kleinstadt erreicht hatten, und Elvira ihn dirigierte, saß er mit zusammengekniffenen Lippen hinter dem Lenkrad. Dann endlich standen sie vor ihrem Elternhaus, einem roten Backsteinbau mit einem überaus gepflegten Garten. Alles roch hier nach Sauberkeit und Anständigkeit.

Albert dachte: Wenn meine versoffenen Eltern hier gelebt hätten, von allen geachtet, du mein Gott, dann wäre auch etwas aus mir geworden. Die, die es haben, wollen es nicht, werfen es sogar fort, und andere, die sich ihr ganzes Leben danach verzehren, bekommen es vielleicht nie.

Elvira schaute Albert von der Seite an. Merkwürdigerweise passte er so gar nicht in diese kleine Villengegend. Jetzt kam er ihr richtig schäbig und verlebt vor, war gar nicht mehr der große Held, den sie angehimmelt hatte. Sie sah jetzt zum ersten Mal bei Tageslicht seine harten, verlebten Züge und die eiskalten Augen. An den Seiten ergrauten schon die Schläfen. Außerdem hatte er sich viel zu auffällig gekleidet.

Das junge Mädchen schämte sich entsetzlich.

»Komm«, sagte sie zaghaft.

Sie stiegen aus. Und sie erinnerte sich an den Abend, da sie hastig über diese Stufen gelaufen war, nicht mehr zurückgeschaut hatte. Als junges, unfertiges Mädchen hatte sie das Elternhaus verlassen. Inzwischen war sie innerlich um so vieles reifer geworden. Der Schmelz der Jugend war verbraucht.

Mit zittrigen Fingern klingelte sie.

»Papa«, würgte sie hervor, als sie ihn in der Tür stehen sah.

Sein Gesicht war sehr weiß und gefasst.

»Kommt herein«, sagte er mit ruhiger Stimme und trat zur Seite. Keine nette, liebevolle Begrüßung wie früher. Ihr war, als wäre er ein Fremder.

Beklommen betrat sie das Haus. Dem Zuhälter war auch nicht ganz wohl in seiner Haut. Im Salon saß die Mutter. Sie war in den letzten Wochen über den Kummer der Tochter sehr gealtert. Viele weiße Fäden durchzogen ihr schönes Haar.

»Mutti!«, rief sie laut und wollte sich an ihren Hals stürzen und ein wenig dort ihren Kummer ausweinen. Sie war gar nicht mehr glücklich. Um des Kindes willen musste sie diesen Mann heiraten und so alles »ungeschehen machen«. Aber ihr Herz würde dabei leer ausgehen. All das wollte sie ihr beichten, aber auch hier begegnete ihr nur frostige Kälte.

 

Die Mutter streckte ihre Hand aus. Sie wirkte so zerbrechlich und durchsichtig.

»Elvira«, sagte nur leise, und dann brach ihre Stimme.

Sie stellte ihnen Albert vor. Kälte war mit ins Zimmer gekommen. Und der Zuhälter dachte: Hier hat sie gelebt, umgeben von Luxus und Liebe. Und das hat sie aufgegeben, um in so einer schäbigen Bude unter dem Dach zu leben und gemeine Küchenarbeit zu verrichten. Wer sollte sie noch begreifen? War sie vielleicht nicht ganz normal?

»Setzt euch«, sagte der Vater.

Gehorsam setzten sie sich.

»Elvira«, sagte er ruhig, »ich sage nichts, mache dir keinen Vorwurf, nichts. Du hast es gewollt. Wir haben alles für dich getan, was in unserer Macht lag. Wir haben dich großgezogen und immer liebgehabt. Aber das war anscheinend nicht genug. Du bist fortgelaufen, ohne daran zu denken, wie sehr du Mutter damit treffen musstest. Wochenlang hast du dich nicht gemeldet, und wir lebten in tausend Ängsten, bis dein Brief kam. Die ganze Zeit hast du nur an dich gedacht, immerzu an dich. Und bestimmt wärst du auch heute nicht zu uns gekommen, wenn du uns nicht brauchtest, in einer gewissen Sache ...« Er machte eine Pause. Dann sagte er leise: »Kinder können so grausam sein. In einer Nacht können sie alles zerstören, wofür man jahrelang gelebt und sich aufgeopfert hat. Du hättest es einmal guthaben sollen und ein besseres Leben leben, als wir es seinerzeit mussten, im Krieg und danach.

Du hast es nicht gewollt, Elvira. Wenn wir jetzt nicht glücklicher über deinen Besuch sind, dann hast du dir es selbst zuzuschreiben. Weißt du, wir sind am Ende. Du hast uns so tief getroffen. Und es gibt einen Augenblick, in dem auch Eltern nicht mehr können.

Du hast deinen Weg gewählt. Nun denn. Wenn du glaubst, wir wären dumm und altmodisch und verstünden die Welt nicht, dann musst du deinen Weg gehen. Wir halten dich nicht mehr zurück, Elvira. Mutter und ich haben auch noch ein Recht auf ein Leben, weißt du! Wir lassen uns nicht ganz zerstören.

Alles, was dir einmal lieb und teuer war, hast du dem ersten besten Mann geschenkt. Du bist schwanger, du musst jetzt heiraten. Nun, Elvira, wir versagen es dir nicht. Ich gebe dir meine Einwilligung. Damit bist du dann erwachsen und auch volljährig  und du hast jetzt endgültig dein Leben in der Hand. Du kannst tun und lassen, was du willst. Das hast du doch immer gewollt, nicht wahr?«

Elvira hatte die ganze Zeit stumm dagesessen und nicht gewagt, die Augen zu heben. Sie war nicht nur wegen der Bescheinigung heimgekommen, sie hatte sich nach zu Hause gesehnt. Aus vollem Herzen hatte sie gehofft, die Eltern würden sagen: Bleib bei uns, wir sorgen für dich und das Kind. Es wird schon alles gut werden. Sie sehnte sich nach deren Trost und Liebe, und jetzt begriff sie den Fernfahrer und den Chinesen. So viele hatten es gut gemeint, aber sie hatte nur schnippisch geantwortet und sich noch sehr wichtig genommen.

Das war hart, das war unendlich hart. Elvira spürte sehr wohl, dass die Eltern Albert durchschauten. Sie fragten gar nichts. War sie ihnen so gleichgültig geworden? Aber dann erinnerte sie sich daran, dass die Mutter ein schwaches Herz hatte. All die Wochen des schrecklichen Wartens! In Elviras Ohren begann es zu dröhnen. Du bist egoistisch, egoistisch!

Albert saß nur daneben und schwieg. Ihm war gar nicht wohl unter den stechenden Augen des Richters. Dieser verabscheute ihn, das spürte er ganz deutlich. Große Töne hatte er spucken wollen, ihnen sagen, welch ein Flittchen ihre Tochter sei, aber er brachte es nicht über die Lippen.

Nachdem der Vater gesprochen hatte, stand die Mutter auf und deckte den Tisch. Wie reglose Holzpuppen saßen sie sich gegenüber und sprachen kein Wort. Man nahm den Kuchen zu sich und trank den Kaffee.

»Wo wollt ihr heiraten?«, fragte der Vater höflich.

»In Hamburg«, sagte Albert. Das war sein erstes Wort.

»Wahrscheinlich nur standesamtlich, wie ich mir denken kann?«

«Ja«, würgte Elvira hervor.

Die Mutter sagte leise: »Ich habe noch Großmutters Schleier. Ich habe ihn auch getragen. Aber den brauchst du ja jetzt wohl nicht.«

Jedes Wort war wie ein Keulenschlag. Elvira musste daran denken, mit wieviel Aufregung und Lustigkeit die Hochzeiten von Freunden und Bekannten verbunden waren. Wie festlich wurde der große Tag begangen, wie stolz waren die Eltern. Mit wie viel Liebe suchte das Brautpaar die Möbel aus. So viele schöne Erinnerungen waren damit verbunden. Und jetzt würde sie selbst heiraten. Kalt und fremd würde alles sein.

»Ich werde alles regeln«, hörte sie den Vater sagen. »Schickt mir die Formulare zu, und ich werde sie unterzeichnen. Aber wegen Mutters Gesundheitszustand können wir nicht zur Hochzeit kommen. Das könnt ihr doch verstehen.«

Und Albert dachte: Ein Richter geht nicht auf die Hochzeit eines Zuhälters. Aber er sagte es natürlich nicht. Wenig später brachen sie auf.

Sie standen an der Tür, gaben sich die Hand. Kein Lächeln war in den Gesichtern. Nur in den Augen der Mutter schimmerten Tränen. Schließlich war es ja ihr einziges Kind. Aber sie wollte es ja doch.

Erst als sie wieder im Auto saßen und ein ganzes Stück fort waren, brach sie in Tränen aus. Albert sagte mit kalter Stimme: »Du bist ein dummes Luder. Damals hättest du auf Knien liegen sollen und dankbar sein müssen für all das hier. Und was hast du blöde Gans getan? Und jetzt hast du mich auch noch reingerissen, du verdammte Schlampe!«

»O Albert, sei nicht so hart zu mir. Es bricht mir fast das Herz.«

»Soll es doch!«, sagte er wütend. »Dann brauch ich dich nicht zu heiraten. Aber das schwöre ich dir: Wenn du dich je bei deinem Alten über mich beschwerst, dann kriegst du eine Tracht Prügel, dass du acht Tage nicht mehr sitzen noch stehen kannst. Wenn wir verheiratet sind, dann können sie mir nämlich nichts mehr antun. Dann gehörst du mir, und dann mach ich mit dir, was ich will. Aber ich will deinen Alten nie bei mir sehen, hast du mich verstanden?«

Elvira legte die Hände vor das Gesicht und stöhnte auf. Sie dachte: Wäre es nicht für mich besser, ich wäre gleich tot? Dann brauchten sich meine Eltern nicht mehr zu schämen, und alles Schreckliche hätte dann auch ein Ende für mich. Aber da ist das Kind, das in mir wächst. Es hat ein Recht auf sein Leben. Ich muss durchhalten. Ich muss es einfach.

An die Heirat mochte sie nie mehr zurückdenken. Der Tag war so qualvoll für sie gewesen, Hastig, nervös, schlecht gelaunt und immer noch furchtbar wütend, so waren sie zum Standesamt gefahren. Zwei zufällig anwesende Gäste wurden gegen Entgelt zu Trauzeugen. Sie machten wirklich keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Schon allein die Straße, in der sie wohnten, sagte dem Beamten alles, wenn er sich auch nichts anmerken ließ. Nur, als er vorlas, woher sie kam und wer ihre Eltern waren, da sah er überrascht auf und sagte: »Ihren Herrn Vater kenne ich sehr gut.« Sie wäre vor Scham fast in den Boden versunken. Albert zeigte nur seine Zähne und machte eine höhnische Grimasse.

Dann war alles vorbei, und sie hieß Elvira Lanner. Nun hatte sie die letzten Brücken hinter sich abgebrochen. Wie der Vater gesagt hatte, war sie mit der Heirat auch volljährig geworden.

Nur Lie-San versuchte, den Tag ein wenig hübscher zu gestalten. Er hatte einen besonders hübschen Tischschmuck gewählt, ein ausgezeichnetes Essen zubereitet. Albert betrank sich und brauste wenig später mit seinem Wagen davon. Er hatte eine Verabredung mit dem Mann, der ihm das Haus für seine erste Nachtbar überlassen wollte. Natürlich musste er noch einige Umbauten vornehmen.

Inzwischen saß seine junge Frau in der Küche und musste sich die Anzüglichkeiten der Dirnen anhören. Später, als Albert endlich wieder auftauchte und sie dort sitzen sah, schnauzte er sie an: »Bilde dir bloß nicht ein, du könntest jetzt eine ruhige Kugel schieben! Das schlag dir gleich aus dem Kopf! Du hast jetzt noch mehr zu arbeiten, denn für den Balg wirst du ja in Zukunft auch sorgen müssen. Ich kümmere mich um nichts, kapiert!«

»Wo werde ich denn jetzt wohnen?«, fragte sie leise.

Er sah sie an.

»Natürlich in deiner Bude, wo denn sonst?«

Albert hatte den ersten Stock für sich allein. Einmal war sie schon in seiner Wohnung gewesen. Er hatte vier große Zimmer, Bad und auch eine Küche, die aber nie benutzt wurde. Sie aber sollte in dem schäbigen Dachzimmer wohnen bleiben. Er nahm es einfach nicht zur Kenntnis, dass sie nun  auch auf dem Papier  zusammengehörten.

Und seit jenem Tage, an dem sie ihm gesagt hatte, sie erwarte ein Kind von ihm, rührte er sie nie mehr an.

Das war wohl die tiefste Demütigung. Wie konnte sie ihm näherkommen, ihn umstimmen, wenn sie nicht zusammenlebten? Und sie hatte schon mit ein klein wenig Freude darüber nachgedacht, wie hübsch es sein musste, jetzt selbst einem Haushalt vorzustehen. Aber er dachte gar nicht daran, sein Leben zu ändern. Sie hatte bekommen worum sie gebeten hatte  mit Zwang, wohlverstanden , und jetzt sollte sie ihn in Ruhe lassen.

Die Dirnen im Hintergrund begannen zu kichern. »Kannst ja mit uns auf den Strich gehen. Dann Verdienste ein paar Flöhe und kannst auch mal zum Friseur gehen und dir einen neuen Fetzen kaufen.«

Elvira biss die Zähne zusammen.

Lola kicherte: »Bald hat sie einen dicken Bauch, und dann kippt sie vornüber, wenn einer sie von hinten ...«

Wieherndes Gelächter. Elvira aber biss die Zähne zusammen. Sie wusste ganz genau: Wenn sie jetzt weinte, würde man sich noch mehr über sie lustig machen. Und sie konnte nirgendwo hingehen. Sie war hier angekettet. Wenn der Koch nicht gewesen wäre, vielleicht hätte sie sich dann das Leben genommen. Aber er versuchte, sie in Schutz zu nehmen, wo er nur konnte.

Als sie wieder allein waren, machte sie sich an die Arbeit. Noch sah man ja nicht, dass sie schwanger war. Aber mit der Zeit würde ihr Leib schwerer werden, und wie sollte sie dann alles bewältigen?

Zwei Tage später sprach sie mit Albert und verlangte ihren Lohn.

»Bist du verrückt!«, höhnte er. »Du bist meine Frau, du kriegst nicht einen Heller.«

»Wie soll ich für das Kind sorgen, wenn ich kein Geld von dir bekomme? Ich arbeite für zwei, das weißt du ganz genau.«

»Sie braucht wirklich Geld«, mischte sich der Koch ein.

»Steckst du mit ihr unter einer Decke?«

»Ich bin nur für Gerechtigkeit«, sagte er ruhig. »Hier gibt es keine Sklaven mehr.«

Er warf ihr verächtlich einen Schein zu. »Fürs Erste genügt das«, sagte er wütend.

Elvira hob den Hundertmarkschein auf.

Dieses Leben war die Hölle, und sie konnte nicht einmal ihrer Mutter schreiben. Niemanden konnte sie ihr Herz ausschütten, und so fraß sie alles in sich hinein. Und sie war noch keine achtzehn Jahre alt.