Buch lesen: «Götzen-Dämmerung»
Vorwort
Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von – Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit? Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. – Eine Umwerthung aller Werthe, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder "Fall" ein Glücksfall. Vor Allem der Krieg. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein Wahlspruch:
increscunt animi, virescit volnere virtus.
Eine andere Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist Götzen aushorchen… Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist mein "böser Blick" für diese Welt, das ist auch mein "böses Ohr"… Hier einmal mit dem Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet – welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, – für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, laut werden muss…
Auch diese Schrift – der Titel verräth es – ist vor Allem eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssiggang eines Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen ausgehorcht?.. Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung; und was das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, – es giebt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen… Auch keine hohleren… Das hindert nicht, dass sie die geglaubtesten sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze…
Turin, am 30. September 1888,
am Tage, da das Buch der Umwerthung
aller Werthe zu Ende kam.
FRIEDRICH NIETZSCHE.
Sprüche und Pfeile
1
Müssiggang ist aller Psychologie Anfang. Wie? wäre Psychologie ein -
Laster?
2
Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss…
3
Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein – sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall: man muss Beides sein – Philosoph…
4
"Alle Wahrheit ist einfach." – Ist das nicht zwiefach eine Lüge? -
5
Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntniss Grenzen.
6
Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur, von seiner Geistigkeit…
7
Wie? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein
Fehlgriff des Menschen? -
8
Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.
9
Hilf dir selber: dann hilft dir noch Jedermann. Princip der
Nächstenliebe.
10
Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht! dass man sie nicht hinterdrein im Stiche lässt! – Der Gewissensbiss ist unanständig.
11
Kann ein Esel tragisch sein? – Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?.. Der Fall des Philosophen.
12
Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? – Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das.
13
Der Mann hat das Weib geschaffen – woraus doch? Aus einer Rippe seines
Gottes, – seines "Ideals"…
14
Was? du suchst? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen? du suchst Anhänger? – Suche Nullen.
15
Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser gehört. Strenger: wir werden nie verstanden – und daher unsre Autorität…
16
Unter Frauen. – "Die Wahrheit? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht! Ist sie nicht ein Attentat auf alle unsre pudeurs?" -
17
Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen
Bedürfnissen: er will eigentlich nur Zweierlei, sein Brod und seine
Kunst, – panem et Circen…
18
Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Sinn noch hinein: das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des "Glaubens").
19
Wie? ihr wähltet die Tugend und den gehobenen Busen und seht zugleich scheel nach den Vortheilen der Unbedenklichen? – Aber mit der Tugend verzichtet man auf "Vortheile"… (einem Antisemiten an die Hausthür.)
20
Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde begeht: zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblickend, ob es Jemand bemerkt und dass es Jemand bemerkt…
21
Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf, wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt oder steht – oder davon kommt…
22
"Böse Menschen haben keine Lieder." – Wie kommt es, dass die Russen
Lieder haben?
23
"Deutscher Geist": seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.
24
Damit, dass man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs. Der
Historiker sieht rückwärts; endlich glaubt er auch rückwärts.
25
Zufriedenheit schützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das sich gut bekleidet wusste, erkältet? – Ich setze den Fall, das es kaum bekleidet war.
26
Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der
Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.
27
Man hält das Weib für tief – warum? weil man nie bei ihm auf den Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach.
28
Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen; und wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon.
29
"Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beissen? welche guten Zähne hatte es? – Und heute? woran fehlt es?" – Frage eines Zahnarztes.
30
Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite – und nunmehr thut man zu wenig…
31
Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral: Demuth. -
32
Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren Ehrbegriff; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern die Lüge, durch ein göttliches Gebot, verboten ist. Zu feige, um zu lügen…
33
Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.
34
On ne peut penser et écrire qu'assis (G. Flaubert). – Damit habe ich dich, Nihilist! Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist. Nur die ergangenen Gedanken haben Werth.
35
Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in Unruhe gerathen: wir sehen unsren eignen Schatten vor uns auf und niederschwanken. Der Psychologe muss von sich absehn, um überhaupt zu sehn.
36
Ob wir Immoralisten der Tugend Schaden thun? – Eben so wenig, als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral: man muss die Moral anschiessen.
37
Du läufst voran? – Thust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein dritter Fall wäre der Entlaufene… Erste Gewissensfrage.
38
Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das
Vertretene selbst? – Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter
Schauspieler… Zweite Gewissensfrage.
39
Der Enttäuschte spricht. – Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand immer nur die Affen ihres Ideals.
40
Bist du Einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? – oder der wegsieht, bei Seite geht?.. Dritte Gewissensfrage.
41
Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn?.. Man muss wissen, was man will und dass man will. Vierte Gewissensfrage.
42
Das waren Stufen für mich ich bin über sie hinaufgestiegen, – dazu musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen…
43
Was liegt daran, das ich Recht behalte! Ich habe zu viel Recht. – Und wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt.
44
Formel meines Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie ein Ziel…
Das Problem des Sokrates
1
Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt: es taugt nichts… Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört, – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates sagte, als er starb: "leben – das heisst lange krank sein: ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig." Selbst Sokrates hatte es satt. – Was beweist das? Worauf weist das? – Ehemals hätte man gesagt (– oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!): "Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein! Der consensus sapientium beweist die Wahrheit." – Werden wir heute noch so reden? Dürfen wir das? "Hier muss jedenfalls Etwas krank sein" – geben wir zur Antwort: diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe ansehn! Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig? décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert?..
2
Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen Niedergangs-Typen sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch ("Geburt der Tragödie" 1872), jener consensus sapientium – das begriff ich immer besser – beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, dass sie selbst, diese Weisesten, irgend worin physiologisch übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, – stehn zu müssen. Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, – an sich sind solche Urtheile Dummheiten. Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche finesse zu fassen, dass der Werth des Lebens nicht abgeschätzt werden kann. Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. – Von Seiten eines Philosophen im Werth des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. – Wie? und alle diese grossen Weisen – sie wären nicht nur décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen? – Aber ich komme auf das Problem des Sokrates zurück.
3
Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk: Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war. Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche? Die Hässlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung gehemmten Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als niedergehende Entwicklung.
Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer Verbrecher? – Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter verstand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in's Gesicht, er sei ein monstrum, – er berge alle schlimmen Laster und Begierden in sich. Und Sokrates antwortete bloss: "Sie kennen mich, mein Herr!"
4
Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instinkten: eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene Rhachitiker-Bosheit, die ihn auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht, die, als "Dämonion des Sokrates", in's Religiöse interpretirt worden sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. – Ich suche zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück stammt: jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat.
5
Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um: was geschieht da eigentlich? Vor Allem wird damit ein vornehmer Geschmack besiegt; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab: sie galten als schlechte Manieren, sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man allein solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen, wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht "begründet", sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst: man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. – Sokrates war der Hanswurst, der sich ernst nehmen machte: was geschah da eigentlich?
6
Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt: die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Nothwehr sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu erzwingen haben: eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker; Reinecke Fuchs war es: wie? und Sokrates war es auch?
7
– Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte? von Pöbel-Ressentiment? geniesst er als Unterdrückter seine eigne Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus? Rächt er sich an den Vornehmen, die er fascinirt? – Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand; man kann mit ihm den Tyrannen machen; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein: er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker depotenzirt den Intellekt seines Gegners. – Wie? ist Dialektik nur eine Form der Rache bei Sokrates?
8
Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte: es bleibt um so mehr zu erklären, dass er fascinirte. – Dass er eine neue Art Agon entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athen's war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte, – er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein grosser Erotiker.
9
Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah hinter seine vornehmen Athener; er begriff, dass sein Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. – Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöthig hatte, – sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung… Überall waren die Instinkte in Anarchie; überall war man fünf Schritt weit vom Excess: das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. "Die Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen Gegentyrannen erfinden, der stärker ist"… Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt. "Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr." Wie wurde Sokrates über sich Herr? – Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich gegen einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall – seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus: er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der Kur dieses Falls.
10
Wenn man nöthig hat, aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen als Retterin, es stand weder Sokrates, noch seinen "Kranken" frei, vernünftig zu sein, – es war de rigueur, es war ihr letztes Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage: man war in Gefahr, man hatte nur Eine Wahl: entweder zu Grunde zu gehn oder – absurd-vernünftig zu sein… Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft = Tugend = Glück heisst bloss: man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewusste führt hinab…
11
Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte: er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig, noch den Irrthum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die "Vernünftigkeit um jeden Preis" lag? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie verändern deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss; die ganze Besserungs-Moral, auch die christliche, war ein Missverständniss… Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit – und durchaus kein Rückweg zur "Tugend", zur "Gesundheit", zum Glück… Die Instinkte bekämpfen müssen – das ist die Formel für décadence: so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt.
12
– Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller Selbstüberlister? Sagte er sich das zuletzt, in der Weisheit seines Muthes zum Tode?.. Sokrates wollte sterben: – nicht Athen, er gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher… Sokrates ist kein Arzt sprach er leise zu sich: "der Tod allein ist hier Arzt… Sokrates selbst war nur lange krank…"
Die "Vernunft" in der Philosophie
1
Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?.. Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben einer Sache eine Ehre anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aetemi, – wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, – sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, – Widerlegungen sogar. Was ist, wird nicht; was wird ist nicht… Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an's Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man's ihnen vorenthält. "Es muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrüger?" – "Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist's! Diese Sinne, die auch sonst so unmoralisch sind, sie betrügen uns über die wahre Welt. Moral: loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, – Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist Alles `Volk`. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! – Und weg vor Allem mit dem Leibe, dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!"…
2
Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit's bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie er es glaubte, – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss machen, das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer… Die "Vernunft" ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht… Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die "scheinbare" Welt ist die einzige: die wahre Welt ist nur hinzugelogen…
3
– Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen, – als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat.
4
Die andre Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich: sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt – leider! denn es sollte gar nicht kommen! – die "höchsten Begriffe", das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang als Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere darf nicht aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht gewachsen sein… Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das Alles kann nicht geworden sein, muss folglich causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein… Damit haben sie ihren stupenden Begriff "Gott"… Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum… Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen! – Und sie hat theuer dafür gezahlt!..
5
– Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art wir (– ich sage höflicher Weise wir…) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in's Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, necessitirt zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, dass hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre Sprache zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch: der Vernunft, zum Bewusstsein bringen. Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an's "Ich", an's Ich als Sein, an's Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es schafft erst damit den Begriff "Ding"… Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception "Ich" folgt erst, als abgeleitet, der Begriff "Sein"… Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt, – dass Wille ein Vermögen ist… Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist… Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die Sicherheit, die subjektive Gewissheit in der Handhabung der Vemunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein: sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, – die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woher also stammen sie? – Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: "wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (– statt in einer sehr viel niederen: was die Wahrheit gewesen wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, denn wir haben die Vernunft!"… In der That, Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen! – Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand… Die "Vernunft" in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…
6
Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.
Erster Satz. Die Gründe, darauf hin "diese" Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, – eine andre Art Realität ist absolut unnachweisbar.
Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem "wahren Sein" der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht Seins, des Nichts, – man hat die "wahre Welt" aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine moralisch-optische Täuschung ist.
Dritter Satz. Von einer "andren" Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines "anderen", eines "besseren" Lebens.
Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine "wahre" und eine "scheinbare", sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom niedergehenden Lebens… Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn "der Schein" bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur… Der tragische Künstler ist kein Pessimist, – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch…