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Buch lesen: «Der Antichrist», Seite 7

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— Daß Märtyrer etwas für die Wahrheit einer Sache beweisen, ist so wenig wahr, daß ich leugnen möchte, es habe je ein Märtyrer überhaupt etwas mit der Wahrheit zu tun gehabt. In dem Tone, mit dem ein Märtyrer sein Für-wahr-halten der Welt an den Kopf wirft, drückt sich bereits ein so niedriger Grad intellektueller Rechtschaffenheit, eine solche Stumpfheit für die Frage „Wahrheit“ aus, daß man einen Märtyrer nie zu widerlegen braucht. Die Wahrheit ist nichts, was einer hätte und ein andrer nicht hätte: so können höchstens Bauern oder Bauern-Apostel nach Art Luthers über die Wahrheit denken. Man darf sicher sein, daß je nach dem Grade der Gewissenhaftigkeit in Dingen des Geistes die Bescheidenheit, die Bescheidung in diesem Punkte immer größer wird. In fünf Sachen wissen, und mit zarter Hand es ablehnen, sonst zu wissen ... „Wahrheit“ wie das Wort jeder Prophet, jeder Sektierer, jeder Freigeist, jeder Sozialist, jeder Kirchenmann versteht, ist ein vollkommner Beweis dafür, daß auch noch nicht einmal der Anfang mit jener Zucht des Geistes und Selbstüberwindung gemacht ist, die zum Finden irgend einer kleinen, noch so kleinen Wahrheit not tut. — Die Märtyrer-Tode, anbei gesagt, sind ein großes Unglück in der Geschichte gewesen: sie verführten ... Der Schluß aller Idioten, Weiber und Volk eingerechnet, daß es mit einer Sache, für die jemand in den Tod geht (oder die gar, wie das erste Christentum, todsüchtige Epidemien erzeugt), etwas auf sich habe, — dieser Schluß ist der Prüfung, dem Geist der Prüfung und Vorsicht unsäglich zum Hemmschuh geworden. Die Märtyrer schadeten der Wahrheit ... Auch heute noch bedarf es nur einer Krudität der Verfolgung, um einer an sich noch so gleichgültigen Sektiererei einen ehrenhaften Namen zu schaffen. — Wie? ändert es am Werte einer Sache etwas, daß jemand für sie sein Leben läßt? — Ein Irrtum, der ehrenhaft wird, ist ein Irrtum, der einen Verführungsreiz mehr besitzt: glaubt ihr, daß wir euch Anlaß geben würden, ihr Herrn Theologen, für eure Lüge die Märtyrer zu machen? — Man widerlegt eine Sache, indem man sie achtungsvoll aufs Eis legt, — ebenso widerlegt man auch Theologen ... Gerade das war die welthistorische Dummheit aller Verfolger, daß sie der gegnerischen Sache den Anschein des Ehrenhaften gaben, — daß sie ihr die Faszination des Martyriums zum Geschenk machten ... Das Weib liegt heute noch auf den Knien vor einem Irrtum, weil man ihm gesagt hat, daß jemand dafür am Kreuze starb. Ist denn das Kreuz ein Argument? —— Aber über alle diese Dinge hat einer allein das Wort gesagt, das man seit Jahrtausenden nötig gehabt hätte, — Zarathustra.

Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie gingen, und ihre Torheit lehrte, daß man mit Blut die Wahrheit beweise.

Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Haß der Herzen.

Und wenn einer durchs Feuer ginge für seine Lehre, — was beweist dies! Mehr ist‘s wahrlich, daß aus eignem Brande die eigne Lehre kommt (S. 99).

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Man lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis. Menschen der Überzeugung kommen für alles Grundsätzliche von Wert und Unwert gar nicht in Betracht. Überzeugungen sind Gefängnisse. Das sieht nicht weit genug, das sieht nicht unter sich: aber um über Wert und Unwert mitreden zu dürfen, muß man fünfhundert Überzeugungen unter sich sehn, — hinter sich sehn ... Ein Geist, der Großes will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Notwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können ... Die große Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer, als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich; sie gibt ihm Mut sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: vieles erreicht man nur mittels einer Überzeugung. Die große Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht, — sie weiß sich souverän. — Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehn will, ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch des Glaubens, der „Gläubige“ jeder Art ist notwendig ein abhängiger Mensch, — ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt nicht Zwecke ansetzen kann. Der „Gläubige“ gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat jemand nötig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt gibt eine Moral der Entselbstung die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn alles, seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung ... Erwägt man, wie notwendig den allermeisten ein Regulativ ist, das sie von außen her bindet und festmacht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den „Glauben“. Der Mensch der Überzeugung hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen Werten haben — das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen, — der Wahrheit ... Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage „wahr“ und „unwahr“ überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang. Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker — Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon —, den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die große Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs, wirkt auf die große Masse, — die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört ...

55

— Einen Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des „Glaubens“. Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 54 u. 483). Diesmal möchte ich die entscheidende Frage tun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz? — Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! — Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen, ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie? könnte unter diesen Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? — Mitunter bedarf es bloß eines Personen-Wechsels: im Sohn Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. — Ich nenne Lüge: etwas nicht sehn wollen, das man sieht, etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statt hat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen anderer ist relativ der Ausnahmefall. — Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe die erste Bedingung für alle, die Partei sind, in irgend welchem Sinne: der Parteimensch wird mit Notwendigkeit Lügner. Die deutsche Geschichtsschreibung zum Beispiel ist überzeugt, daß Rom der Despotismus war, daß die Germanen den Geist der Freiheit in die Welt gebracht haben: welcher Unterschied ist zwischen dieser Überzeugung und einer Lüge? Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die großen Worte der Moral im Munde haben, — daß die Moral beinahe dadurch fortbesteht, daß der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nötig hat? — „Dies ist unsre Überzeugung: wir bekennen sie vor aller Welt, wir leben und sterben für sie, — Respekt vor allem, was Überzeugung hat!“ — dergleichen habe ich sogar aus dem Mund von Antisemiten gehört. Im Gegenteil, meine Herrn! Ein Antisemit wird dadurch durchaus nicht anständiger, daß er aus Grundsatz lügt ... Die Priester, die in solchen Dingen feiner sind und den Einwand sehr gut verstehn, der im Begriff einer Überzeugung, das heißt einer grundsätzlichen, weil zweckdienlichen Verlogenheit liegt, haben von den Juden her die Klugheit überkommen, an diese Stelle den Begriff „Gott“, „Wille Gottes“, „Offenbarung Gottes“ einzuschieben. Auch Kant, mit seinem kategorischen Imperativ, war auf dem gleichen Wege: seine Vernunft wurde hierin praktisch. — Es gibt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Wert-Probleme sind jenseits der menschlichen Vernunft ... Die Grenzen der Vernunft begreifen, — das erst ist wahrhaft Philosophie ... Wozu gab Gott dem Menschen die Offenbarung? Der Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum lehrte ihn Gott seinen Willen ... Moral: der Priester lügt nicht, — die Frage „wahr“ oder „unwahr“ gibt es nicht in solchen Dingen, von denen Priester reden; diese Dinge erlauben gar nicht zu lügen. Denn um zu lügen, müßte man entscheiden können, was hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit nur das Mundstück Gottes. — Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus nicht bloß jüdisch und christlich; das Recht zur Lüge und die Klugheit der „Offenbarung“ gehört dem Typus Priester an, den décadence-Priestern so gut als den Heidentums-Priestern (— Heiden sind alle, die zum Leben ja sagen, denen „Gott“ das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist). — Das „Gesetz“, der „Wille Gottes“, das „heilige Buch“, die „Inspiration“ — alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält, — diese Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester-Organisationen, aller priesterlichen oder philosophisch-priesterlichen Herrschaftsgebilde. Die „heilige Lüge“ — dem Konfuzius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Mohammed, der christlichen Kirche gemeinsam —: sie fehlt nicht bei Plato. „Die Wahrheit ist da“: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt ...

56

— Zuletzt kommt es darauf an, zu welchem Zweck gelogen wird. Daß im Christentum die „heiligen“ Zwecke fehlen, ist mein Einwand gegen seine Mittel. Nur schlechte Zwecke: Vergiftung, Verleumdung, Verneinung des Lebens, die Verachtung des Leibes, die Herabwürdigung und Selbstschändung des Menschen durch den Begriff Sünde, — folglich sind auch seine Mittel schlecht. — Ich lese mit einem entgegengesetzten Gefühle das Gesetzbuch des Manu, ein unvergleichlich geistiges und überlegenes Werk, das mit der Bibel auch nur in Einem Atem nennen eine Sünde wider den Geist wäre. Man errät sofort: es hat eine wirkliche Philosophie hinter sich, in sich, nicht bloß ein übelriechendes Judain von Rabbinismus und Aberglauben, — es gibt selbst dem verwöhntesten Psychologen etwas zu beißen. Nicht die Hauptsache zu vergessen, der Grundunterschied von jeder Art von Bibel: die vornehmen Stände, die Philosophen und die Krieger, halten mit ihm ihre Hand über der Menge; vornehme Werte überall, ein Vollkommenheits-Gefühl, ein Jasagen zum Leben, ein triumphierendes Wohlgefühl an sich und am Leben, — die Sonne liegt auf dem ganzen Buch. — Alle die Dinge, an denen das Christentum seine unergründliche Gemeinheit ausläßt, die Zeugung zum Beispiel, das Weib, die Ehe, werden hier ernst, mit Ehrfurcht, mit Liebe und Zutrauen behandelt. Wie kann man eigentlich ein Buch in die Hände von Kindern und Frauen legen, das jenes niederträchtige Wort enthält: „um der Hurerei willen habe ein jeglicher sein eignes Weib und eine jegliche ihren eignen Mann ... es ist besser freien denn Brunst leiden“? Und darf man Christ sein, so lange mit dem Begriff der immaculata conceptio die Entstehung des Menschen verchristlicht, das heißt beschmutzt ist? ... Ich kenne kein Buch, wo dem Weibe so viele zarte und gütige Dinge gesagt würden, wie im Gesetzbuch des Manu; diese alten Graubärte und Heiligen haben eine Art, gegen Frauen artig zu sein, die vielleicht nicht übertroffen ist. „Der Mund einer Frau — heißt es einmal —, der Busen eines Mädchens, das Gebet eines Kindes, der Rauch des Opfers sind immer rein.“ Eine andre Stelle: „es gibt gar nichts Reineres als das Licht der Sonne, den Schatten einer Kuh, die Luft, das Wasser, das Feuer und den Atem eines Mädchens.“ Eine letzte Stelle — vielleicht auch eine heilige Lüge —: „alle Öffnungen des Leibes oberhalb des Nabels sind rein, alle unterhalb sind unrein. Nur beim Mädchen ist der ganze Körper rein.“

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Man ertappt die Unheiligkeit der christlichen Mittel in flagranti, wenn man den christlichen Zweck einmal an dem Zweck des Manu-Gesetzbuches mißt, — wenn man diesen größten Zweck-Gegensatz unter starkes Licht bringt. Es bleibt dem Kritiker des Christentums nicht erspart, das Christentum verächtlich zu machen. — Ein solches Gesetzbuch, wie das des Manu, entsteht wie jedes gute Gesetzbuch: es resümiert die Erfahrung, Klugheit und Experimental-Moral von langen Jahrhunderten, es schließt ab, es schafft nichts mehr. Die Voraussetzung zu einer Kodifikation seiner Art ist die Einsicht, daß die Mittel, einer langsam und kostspielig erworbenen Wahrheit Autorität zu schaffen, grundverschieden von denen sind, mit denen man sie beweisen würde. Ein Gesetzbuch erzählt niemals den Nutzen, die Gründe, die Kasuistik in der Vorgeschichte eines Gesetzes: eben damit würde es den imperativischen Ton einbüßen, das „du sollst“, die Voraussetzung dafür, daß gehorcht wird. Das Problem liegt genau hierin. — An einem gewissen Punkte der Entwicklung eines Volks erklärt die umsichtigste, das heißt rück— und hinausblickendste Schicht desselben, die Erfahrung, nach der gelebt werden soll — das heißt kann —, für abgeschlossen. Ihr Ziel geht dahin, die Ernte möglichst reich und vollständig von den Zeiten des Experiments und der schlimmen Erfahrung heimzubringen. Was folglich vor allem jetzt zu verhüten ist, das ist das Noch-Fort-Experimentieren, die Fortdauer des flüssigen Zustands der Werte, das Prüfen, Wählen, Kritik-Üben der Werte in infinitum. Dem stellt man eine doppelte Mauer entgegen: einmal die Offenbarung, das ist die Behauptung, die Vernunft jener Gesetze sei nicht menschlicher Herkunft, nicht langsam und unter Fehlgriffen gesucht und gefunden, sondern, als göttlichen Ursprungs, ganz, vollkommen, ohne Geschichte, ein Geschenk, ein Wunder, bloß mitgeteilt ... Sodann die Tradition, das ist die Behauptung, daß das Gesetz bereits seit uralten Zeiten bestanden habe, daß es pietätlos, ein Verbrechen an den Vorfahren sei, es in Zweifel zu ziehn. Die Autorität des Gesetzes begründet sich mit den Thesen: Gott gab es, die Vorfahren lebten es. — Die höhere Vernunft einer solchen Prozedur liegt in der Absicht, das Bewußtsein Schritt für Schritt von dem als richtig erkannten (das heißt durch eine ungeheure und scharf durchgesiebte Erfahrung bewiesenen) Leben zurückzudrängen, so daß der vollkommene Automatismus des Instinkts erreicht wird, — diese Voraussetzung zu jeder Meisterschaft, zu jeder Art Vollkommenheit in der Kunst des Lebens. Ein Gesetzbuch nach Art des Manu aufstellen heißt einem Volke fürderhin zugestehn, Meister zu werden, vollkommen zu werden, — die höchste Kunst des Lebens zu ambitionieren. Dazu muß es unbewußt gemacht werden: dies der Zweck jeder heiligen Lüge. — Die Ordnung der Kasten, das oberste, das dominierende Gesetz, ist nur die Sanktion einer Natur-Ordnung, Natur-Gesetzlichkeit ersten Ranges, über die keine Willkür, keine „moderne Idee“ Gewalt hat. Es treten in jeder gesunden Gesellschaft, sich gegenseitig bedingend, drei physiologisch verschieden-gravitierende Typen auseinander, von denen jeder seine eigne Hygiene, sein eignes Reich von Arbeit, seine eigne Art Vollkommenheits-Gefühl und Meisterschaft hat. Die Natur, nicht Manu, trennt die vorwiegend Geistigen, die vorwiegend Muskel— und Temperaments-Starken und die weder im einen, noch im andern ausgezeichneten Dritten, die Mittelmäßigen, von einander ab, — die letzteren als die große Zahl, die ersteren als die Auswahl. Die oberste Kaste — ich nenne sie die Wenigsten — hat als die vollkommne auch die Vorrechte der Wenigsten: dazu gehört es, das Glück, die Schönheit, die Güte auf Erden darzustellen. Nur die geistigsten Menschen haben die Erlaubnis zur Schönheit, zum Schönen: nur bei ihnen ist Güte nicht Schwäche. Pulchrum est paucorum hominum: das Gute ist ein Vorrecht. Nichts kann ihnen dagegen weniger zugestanden werden, als häßliche Manieren oder ein pessimistischer Blick, ein Auge, das verhäßlicht —, oder gar eine Entrüstung über den Gesamt-Aspekt der Dinge. Die Entrüstung ist das Vorrecht der Tschandala; der Pessimismus desgleichen. „Die Welt ist vollkommen — so redet der Instinkt der Geistigsten, der Ja-sagende Instinkt —: die Unvollkommenheit, das Unter-uns jeder Art, die Distanz, das Pathos der Distanz, der Tschandala selbst gehört noch zu dieser Vollkommenheit.“ Die geistigsten Menschen, als die Stärksten, finden ihr Glück, worin andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und andre, im Versuch; ihre Lust in die Selbstbezwingung: der Asketismus wird bei ihnen Natur, Bedürfnis, Instinkt. Die schwere Aufgabe gilt ihnen als Vorrecht; mit Lasten zu spielen, die andre erdrücken, eine Erholung ... Erkenntnis — eine Form des Asketismus. — Sie die ehrwürdigste Art Mensch: das schließt nicht aus, daß sie die heiterste, die liebenswürdigste sind. Sie herrschen, nicht weil sie wollen, sondern weil sie sind; es steht ihnen nicht frei, die Zweiten zu sein. — Die Zweiten: das sind die Wächter des Rechts, die Pfleger der Ordnung und der Sicherheit, das sind die vornehmen Krieger, das ist der König vor allem als die höchste Formel von Krieger, Richter und Aufrechterhalter des Gesetzes. Die Zweiten sind die Exekutive der Geistigen, das Nächste, was zu ihnen gehört, das was ihnen alles Grobe in der Arbeit des Herrschens abnimmt, — ihr Gefolge, ihre rechte Hand, ihre beste Schülerschaft. — In dem allem, nochmals gesagt, ist nichts von Willkür, nichts „gemacht“; was anders ist, ist gemacht, — die Natur ist dann zuschanden gemacht ... Die Ordnung der Kasten, die Rangordnung, formuliert nur das oberste Gesetz des Lebens selbst; die Abscheidung der drei Typen ist nötig zur Erhaltung der Gesellschaft, zur Ermöglichung höherer und höchster Typen, — die Ungleichheit der Rechte ist erst die Bedingung dafür, daß es überhaupt Rechte gibt. — Ein Recht ist ein Vorrecht. In seiner Art Sein hat jeder auch sein Vorrecht. Unterschätzen wir die Vorrechte der Mittelständigen nicht. Das Leben nach der Höhe zu wird immer härter, — die Kälte nimmt zu, die Verantwortlichkeit nimmt zu. Eine hohe Kultur ist eine Pyramide: sie kann nur auf einem breiten Boden stehn, sie hat zu allererst eine stark und gesund konsolidierte Mittelmäßigkeit zur Voraussetzung. Das Handwerk, der Handel, der Ackerbau, die Wissenschaft, der größte Teil der Kunst, der ganze Inbegriff der Berufstätigkeit mit Einem Wort, verträgt sich durchaus nur mit einem Mittelmaß im Können und Begehren; dergleichen wäre deplaciert unter Ausnahmen, der dazugehörige Instinkt widerspräche sowohl dem Aristokratismus als dem Anarchismus. Daß man ein öffentlicher Nutzen ist, ein Rad, eine Funktion, dazu gibt es eine Naturbestimmung: nicht die Gesellschaft, die Art Glück, deren die Allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen. Für den Mittelmäßigen ist mittelmäßig sein ein Glück; die Meisterschaft in Einem, die Spezialität ein natürlicher Instinkt. Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehn. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie bedingt. Wenn der Ausnahme-Mensch gerade die Mittelmäßigen mit zarteren Fingern handhabt, als sich und seinesgleichen, so ist dies nicht bloß Höflichkeit des Herzens, — es ist einfach seine Pflicht ... Wen hasse ich unter dem Gesindel von heute am besten? Das Sozialisten-Gesindel, die Tschandala-Apostel, die den Instinkt, die Lust, das Genügsamkeits-Gefühl des Arbeiters mit seinem kleinen Sein untergraben, — die ihn neidisch machen, die ihn Rache lehren ... Das Unrecht liegt niemals in ungleichen, es liegt im Anspruch auf „gleiche“ Rechte ... Was ist schlecht? Aber ich sagte es schon: alles, was aus Schwäche, aus Neid, aus Rache stammt. — Der Anarchist und der Christ sind Einer Herkunft ...

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
30 August 2016
Umfang:
110 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain

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