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209.
Das Evangelium: die Nachricht, daß den Niedrigen und Armen ein Zugang zum Glück offen steht, – daß man Nichts zu thun hat als sich von der Institution, der Tradition, der Bevormundung der oberen Stände loszumachen: insofern ist die Heraufkunft des Christentums Nichts weiter, als die typische Socialisten-Lehre. Eigenthum, Erwerb, Vaterland, Stand und Rang, Tribunale, Polizei, Staat, Kirche, Unterricht, Kunst, Militärwesen: Alles ebenso viele Verhinderungen des Glücks, Irrthümer, Verstrickungen, Teufelswerke, denen das Evangelium das Gericht ankündigt – Alles typisch für die Socialisten-Lehre.
Im Hintergrunde der Aufruhr, die Explosion eines aufgestauten Widerwillens gegen die »Herren«, der Instinkt dafür, wie viel Glück nach so langem Drucke schon im Frei-sich-fühlen liegen könnte… (Meistens ein Symptom davon, daß die unteren Schichten zu menschenfreundlich behandelt worden sind, daß sie ein ihnen verbotenes Glück bereits auf der Zunge schmecken … Nicht der Hunger erzeugt Revolutionen, sondern daß das Volk en mangeant Appetit bekommen hat …)
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210.
Man lese einmal das neue Testament als Verführungs-Buch: die Tugend wird in Beschlag genommen, im Instinkt, daß man mit ihr die öffentliche Meinung für sich einnimmt, – und zwar die allerbescheidenste Tugend, welche das ideale Heerdenschaf anerkennt und Nichts weiter (den Schafhirten eingerechnet –): eine kleine, zärtliche, wohlwollende, hülfreiche und schwärmerisch-vergnügte Art Tugend, welche nach Außen hin absolut anspruchslos ist, – welche »die Welt« gegen sich abgrenzt. Der unsinnigste Dünkel, als ob sich das Schicksal der Menschheit dergestalt um sie drehe, daß die Gemeinde auf der einen Seite das Rechte und die Welt auf der andern Seite das Falsche, das ewig-Verwerfliche und Verworfene sei. Der unsinnigste Haß gegen Alles, was in der Macht ist: aber ohne daran zu rühren! Eine Art von innerlicher Loslösung, welche äußerlich Alles beim Alten läßt (Dienstbarkeit und Sklaverei! aus Allem sich ein Mittel zum Dienste Gottes und der Tugend zu machen wissen)
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211.
Das Christentum ist möglich als privateste Daseinsform; es setzt eine enge, abgezogene, vollkommen unpolitische Gesellschaft voraus, – es gehört in’s Conventikel. Ein »christlicher Staat«, eine »christliche Politik« dagegen ist eine Schamlosigkeit, eine Lüge, etwa wie eine christliche Heerführung, welche zuletzt den »Gott der Heerschaaren« als Generalstabschef behandelt. Auch das Papstthum ist niemals im Stande gewesen, christliche Politik zu machen …; und wenn Reformatoren Politik treiben, wie Luther, so weiß man, daß sie eben solche Anhänger Macchiavell’s sind wie irgend welche Immoralisten oder Tyrannen.
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212.
Das Christenthum ist jeden Augenblick noch möglich, Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben: es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott, noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nöthig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche »Naturwissenschaft«. Das Christenthum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen.
Wer jetzt sagte »ich will nicht Soldat sein«, »ich kümmere mich nicht um die Gerichte«, »die Dienste der Polizei werden von mir nicht in Anspruch genommen«, »ich will Nichts thun, was den Frieden in mir selbst stört: und wenn ich daran leiden muß, Nichts wird mehr mir den Frieden erhalten als Leiden« – der wäre Christ.
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213.
Zur Geschichte des Christenthums. – Fortwährende Veränderung des Milieu’s: die christliche Lehre verändert damit fortwährend ihr Schwergewicht … Die Begünstigung der Niederen und kleinen Leute … Die Entwicklung der caritas … Der Typus »Christ« nimmt schrittweise Alles wieder an, was er ursprünglich negirte (in dessen Negation er bestand –). Der Christ wird Bürger, Soldat, Gerichtsperson, Arbeiter, Handelsmann, Gelehrter, Theolog, Priester, Philosoph, Landwirth, Künstler, Patriot, Politiker, »Fürst« … er nimmt alle Thätigkeiten wieder auf, die er abgeschworen hat (– die Selbstvertheidigung, das Gerichthalten, das Strafen, das Schwören, das Unterscheiden zwischen Volk und Volk, das Geringschätzen, das Zürnen …). Das ganze Leben des Christen ist endlich genau das Leben, von dem Christus bis Loslösung predigte …
Die Kirche gehört so gut zum Triumph des Antichristlichen, wie der moderne Staat, der moderne Nationalismus … Die Kirche ist die Barbarisirung des Christenthums.
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214.
Über das Christenthum Herr geworden: der Judaismus (Paulus); der Platonismus (Augustin); die Mysterienculte (Erlösungslehre, Sinnbild des »Kreuzes«); der Asketismus (– Feindschaft gegen die »Natur«, »Vernunft«, »Sinne«, – Orient …).
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215.
Das Christenthum als eine Entnatürlichung der Heerdenthier-Moral: unter absolutem Mißverständniß und Selbstverblendung. Die Demokratisirung ist eine natürlichere Gestalt derselben, eine weniger verlogene.
Thatsache: die Unterdrückten, die Niedrigen, die ganze große Menge von Sklaven und Halbsklaven wollen zur Macht.
Erste Stufe: sie machen sich frei, – sie lösen sich aus, imaginär zunächst, sie erkennen sich unter einander an, sie setzen sich durch.
Zweite Stufe: sie treten in Kampf, sie wollen Anerkennung, gleiche Rechte, »Gerechtigkeit«.
Dritte Stufe: sie wollen die Vorrechte (– sie ziehen die Vertreter der Macht zu sich hinüber).
Vierte Stufe: sie wollen die Macht allein, und sie haben sie …
Im Christenthum sind drei Elemente zu unterscheiden: a) die Unterdrückten aller Art, b) die Mittelmäßigen aller Art, c) die Unbefriedigten und Kranken aller Art. Mit dem ersten Element kämpft es gegen die politisch Vornehmen und deren Ideal; mit dem zweiten Element gegen die Ausnahmen und Privilegirten (geistig, sinnlich –) jeder Art; mit dem dritten Element gegen den Natur-Instinkt der Gesunden und Glücklichen.
Wenn es zum Siege kommt, so tritt das zweite Element in den Vordergrund; denn dann hat das Christenthum die Gesunden und Glücklichen zu sich überredet (als Krieger für seine Sache), insgleichen die Mächtigen (als interessirt wegen der Überwältigung der Menge), – und jetzt ist es der Heerden-Instinkt, die in jedem Betracht werthvolle Mittelmaaß-Natur, die ihre höchste Sanktion durch das Christenthum bekommt. Diese Mittelmaaß-Natur kommt endlich so weit sich zum Bewußtsein (– gewinnt den Muth zu sich –), daß sie auch politisch sich die Macht zugesteht …
Die Demokratie ist das vernatürlichte Christenthum: eine Art »Rückkehr zur Natur«, nachdem es durch eine extreme Antinatürlichkeit von der entgegengesetzten Werthung überwunden werden konnte. – Folge: das aristokratische Ideal entnatürlicht sich nunmehr (»der höhere Mensch«, »vornehm«, »Künstler«, »Leidenschaft«, »Erkenntniß«; Romantik als Cultus der Ausnahme, Genie u. s. w.).
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216.
Wann auch die »Herren« Christen werden können. – Es liegt in dem Instinkt einer Gemeinschaft (Stamm, Geschlecht, Heerde, Gemeinde), die Zustände und Begehrungen, denen sie ihre Erhaltung verdankt, als an sich werthvoll zu empfinden, z. B. Gehorsam, Gegenseitigkeit, Rücksicht, Mäßigkeit, Mitleid, – somit Alles, was denselben im Wege steht oder widerspricht, herabzudrücken.
Es liegt insgleichen in dem Instinkt der Herrschenden (seien es Einzelne, seien es Stände), die Tugenden, auf welche hin die Unterworfenen handlich und ergeben sind, zu patronisiren und auszuzeichnen (– Zustände und Affekte, die den eignen so fremd wie möglich sein können).
Der Heerdeninstinkt und der Instinkt der Herrschenden kommen im Loben einer gewissen Anzahl von Eigenschaften und Zuständen überein, – aber aus verschiedenen Gründen: der erste aus unmittelbarem Egoismus, der zweite aus mittelbarem Egoismus.
Die Unterwerfung der Herren-Rassen unter das Christentum ist wesentlich die Folge der Einsicht, daß das Christenthum eine Heerdenreligion ist, daß es Gehorsam lehrt: kurz, daß man Christen leichter beherrscht als Nichtchristen. Mit diesem Wink empfiehlt noch heute der Papst dem Kaiser von China die christliche Propaganda.
Es kommt hinzu, daß die Verführungskraft des christlichen Ideals am stärksten vielleicht auf solche Naturen wirkt, welche die Gefahr, das Abenteuer und das Gegensätzliche lieben, welche Alles lieben, wobei sie sich riskiren, wobei aber ein non plus ultra von Machtgefühl erreicht werden kann. Man denke sich die heilige Theresa, inmitten der heroischen Instinkte ihrer Brüder: – das Christenthum erscheint da als eine Form der Willens-Ausschweifung, der Willensstärke, als eine Donquixoterie des Heroismus…
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217.
Krieg gegen das christliche Ideal, gegen die Lehre von der »Seligkeit« und dem »Heil« als Ziel des Lebens, gegen die Suprematie der Einfältigen, der reinen Herzen, der Leidenden und Mißglückten.
Wann und wo hat je ein Mensch, der in Betracht kommt, jenem christlichen Ideal ähnlich gesehen? Wenigstens für solche Augen, wie sie ein Psycholog und Nierenprüfer haben muß! – man blättere alle Helden Plutarch’s durch.
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218.
Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung, wir können nachrechnen, wie nie nachgerechnet worden ist: wir sind das Selbstbewußtsein der Historie überhaupt. Wir genießen anders, wir leiden anders: die Vergleichung eines unerhört Vielfachen ist unsre instinktivste Thätigkeit. Wir verstehen Alles, wir leben Alles, wir haben kein feindseliges Gefühl mehr in uns. Ob wir selbst dabei schlecht wegkommen, unsre entgegenkommende und beinahe liebevolle Neugierde geht ungescheut auf die gefährlichsten Dinge los …
»Alles ist gut« – es kostet uns Mühe, zu verneinen. Wir leiden, wenn wir einmal so unintelligent werden, Partei gegen Etwas zu nehmen … Im Grunde erfüllen wir Gelehrten heute am besten die Lehre Christi – –
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219.
Ironie gegen Die, welche das Christenthum durch die modernen Naturwissenschaften überwunden glauben. Die christlichen Werthurtheile sind damit absolut nicht überwunden. »Christus am Kreuze« ist das erhabenste Symbol – immer noch. –
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220.
Die beiden großen nihilistischen Bewegungen: a) der Buddhismus, b) das Christenthum. Letzteres hat erst jetzt ungefähr Cultur-Zustände erreicht, in denen es seine ursprüngliche Bestimmung erfüllen kann – ein Niveau, zu dem es gehört, – in dem es sich rein zeigen kann…
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221.
Wir haben das christliche Ideal wieder hergestellt: es bleibt übrig, seinen Werth zu bestimmen:
1) Welche Werthe werden durch dasselbe negirt? Was enthält das Gegensatz-Ideal? – Stolz, Pathos der Distanz, die große Verantwortung, den Übermuth, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkenntniß; –; das vornehme Ideal wird negirt: Schönheit, Weisheit, Macht, Pracht und Gefährlichkeit des Typus Mensch: der Ziele setzende, der »zukünftige« Mensch (–hier ergiebt sich die Christlichkeit als Schlußfolgerung des Judenthums–).
2) Ist es realisirbar? –Ja, doch klimatisch bedingt, ähnlich wie das indische. Beiden fehlt die Arbeit. – Es löst heraus aus Volk, Staat, Cultur-Gemeinschaft, Gerichtsbarkeit, es lehnt den Unterricht, das Wissen, die Erziehung zu guten Manieren, den Erwerb, den Handel ab .. es löst Alles ab, was den Nutzen und Werth des Menschen ausmacht – es schließt ihn durch eine Gefühls-Idiosynkrasie ab. Unpolitisch, antinational, weder aggressiv noch defensiv, – nur möglich innerhalb des festgeordnetsten Staats- und Gesellschaftslebens, welches diese heiligen Parasiten auf allgemeine Unkosten wuchern läßt …
3) Es bleibt eine Consequenz des Willens zur Lust – und zu Nichts weiter! Die »Seligkeit« gilt als Etwas, das sich selbst beweist, das keine Rechtfertigung mehr braucht, – alles Übrige (die Art leben und leben lassen) ist nur Mittel zum Zweck …
Aber das ist niedrig gedacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Verunreinigung, vor der Verderbniß selbst als ausreichendes Motiv, Alles fahren zu lassen… Dies ist eine arme Denkweise, Zeichen einer erschöpften Rasse; man soll sich nicht täuschen lassen. (»Werdet wie die Kinder« –. Die verwandte Natur: Franz von Assisi, neurotisch, epileptisch, Visionär, wie Jesus.)
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222.
Der höhere Mensch unterscheidet sich von dem niederen in Hinsicht auf die Furchtlosigkeit und die Herausforderung des Unglücks: es ist ein Zeichen von Rückgang, wenn eudämonistische Werthmaaße als oberste zu gelten anfangen (– physiologische Ermüdung, Willens-Verarmung –). Das Christenthum mit seiner Perspektive auf »Seligkeit« ist eine typische Denkweise für eine leidende und verarmte Gattung Mensch. Eine volle Kraft will schaffen, leiden, untergehn: ihr ist das christliche Mucker-Heil eine schlechte Musik und hieratische Gebärden ein Verdruß.
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223.
Armuth, Demuth und Keuschheit –gefährliche und verleumderische Ideale, aber, wie Gifte in gewissen Krankheitsfällen, nützliche Heilmittel, z. B. in der römischen Kaiserzeit.
Alle Ideale sind gefährlich: weil sie das Thatsächliche erniedrigen und brandmarken; alle sind Gifte, aber als zeitweilige Heilmittel unentbehrlich.
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224.
Gott schuf den Menschen glücklich, müßig, unschuldig und unsterblich: unser wirkliches Leben ist ein falsches, abgefallenes, sündhaftes Dasein, eine Straf-Existenz … Das Leiden, der Kampf, die Arbeit, der Tod werden als Einwände und Fragezeichen gegen das Leben abgeschätzt, als etwas Unnatürliches, Etwas, das nicht dauern soll; gegen das man Heilmittel braucht – und hat! …
Die Menschheit hat von Adam an bis jetzt sich in einem unnormalen Zustande befunden: Gott selbst hat seinen Sohn für die Schuld Adam’s hergegeben, um diesem unnormalen Zustande ein Ende zu machen: der natürliche Charakter des Lebens ist ein Fluch; Christus giebt Dem, der an ihn glaubt, den Normal-Zustand zurück: er macht ihn glücklich, müßig und unschuldig. – Aber die Erde hat nicht angefangen, fruchtbar zu sein ohne Arbeit; die Weiber gebären nicht ohne Schmerzen Kinder; die Krankheit hat nicht aufgehört; die Gläubigsten befinden sich hier so schlecht wie die Ungläubigsten. Nur daß der Mensch vom Tode und von der Sünde befreit ist– Behauptungen, die keine Controlle zulassen –, das hat die Kirche umso bestimmter behauptet. »Er ist frei von Sünde« – nicht durch sein Thun, nicht durch einen rigorosen Kampf seinerseits, sondern durch die That der Erlösung freigekauft – folglich vollkommen, unschuldig, paradiesisch … Das wahre Leben nur ein Glaube (d. h. ein Selbstbetrug, ein Irrsinn). Das ganze ringende, kämpfende, wirkliche Dasein voll Glanz und Finsterniß nur ein schlechtes, falsches Dasein: von ihm erlöst werden ist die Aufgabe.
»Der Mensch unschuldig, müßig, unsterblich, glücklich« – diese Conception der »höchsten Wünschbarkeit« ist vor Allem zu kritisiren. Warum ist die Schuld, die Arbeit, der Tod, das Leiden ( und, christlich geredet, die Erkenntniß …) wider die höchste Wünschbarkeit? – Die faulen christlichen Begriffe »Seligkeit«, »Unschuld«, »Unsterblichkeit« – – –
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225.
Es fehlt der excentrische Begriff der »Heiligkeit«, – »Gott« und »Mensch« sind nicht auseinandergerissen. Das »Wunder« fehlt – es giebt gar nicht jene Sphäre: die einzige, die in Betracht kommt, ist die »geistliche« (d. h. symbolisch-psychologische). Als décadence: Seitenstück zum »Epikureismus« … Das Paradies, nach griechischem Begriff, auch nur der »Garten Epikur’s«.
Es fehlt die Aufgabe in einem solchen Leben: – es will Nichts; – eine Form der »epikurischen Götter«; – es fehlt aller Grund, noch Ziele zu setzen, – Kinder zu haben: – Alles ist erreicht.
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226.
Sie verachteten den Leib: sie ließen ihn außer Rechnung: mehr noch, sie behandelten ihn wie einen Feind. Ihr Wahnwitz war, zu glauben, man könne eine »schöne Seele« in einer Mißgeburt von Cadaver herumtragen … Um das auch Andern begreiflich zu machen, hatten sie nöthig, den Begriff »schöne Seele« anders anzusetzen, den natürlichen Werth umzuwerthen, bis endlich ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen als Vollkommenheit, als »englisch«, als Verklärung, als höherer Mensch empfunden wurde.
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227.
Die Unwissenheit in psychologics – der Christ hat kein Nervensystem –; die Verachtung und das Willkürliche Wegsehen-wollen von den Forderungen des Leibes, von der Entdeckung des Leibes; die Voraussetzung, daß es so der höheren Natur des Menschen gemäß sei, – daß es der Seele nothwendig zu Gute komme –; die grundsätzliche Reduktion aller Gesammt-Gefühle des Leibes auf moralische Werthe; die Krankheit selbst bedingt gedacht durch die Moral, etwa als Strafe oder als Prüfung oder auch als Heils-Zustand, in dem der Mensch vollkommener wird, als er es in der Gesundheit sein könnte (– der Gedanke Pascal’s), unter Umständen das freiwillige Sich-krank-machen –
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228.
Was ist denn das, dieser Kampf des Christen »wider die Natur«? Wir werden uns ja durch seine Worte und Auslegungen nicht täuschen lassen! Es ist Natur wider Etwas, das auch Natur ist. Furcht bei Vielen, Ekel bei Manchen, eine gewisse Geistigkeit bei Anderen, die Liebe zu einem Ideal ohne Fleisch und Begierde, zu einem »Auszug der Natur« bei den Höchsten – diese wollen es ihrem Ideale gleichthun. Es versteht sich, daß Demüthigung an Stelle des Selbstgefühls, ängstliche Vorsicht vor den Begierden, die Lostrennung von den gewöhnlichen Pflichten (wodurch wieder ein höheres Ranggefühl geschaffen wird), die Aufregung eines beständigen Kampfes um ungeheure Dinge, die Gewohnheit der Gefühls-Effusion – alles einen Typus zusammensetzt: in ihm überwiegt die Reizbarkeit eines verkümmernden Leibes, aber die Nervosität und ihre Inspiration wird anders interpretirt. Der Geschmack dieser Art Naturen geht einmal 1) auf das Spitzfindige, 2) auf das Blumige, 3) auf die extremen Gefühle. – Die natürlichen Hänge befriedigen sich doch, aber unter einer neuen Form der Interpretation, z. B. als »Rechtfertigung vor Gott«, »Erlösungsgefühl in der Gnade« (– jedes unabweisbare Wohlgefühl wird so interpretiert! –), der Stolz, die Wollust usw. – Allgemeines Problem: was wird aus dem Menschen, der sich das Natürliche verlästert und praktisch verleugnet und verkümmert? Thatsächlich erweist sich der Christ als eine übertreibende Form der Selbstbeherrschung: um seine Begierden zu bändigen, scheint er nöthig zu haben, sie zu vernichten oder zu kreuzigen.
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229.
Der Mensch kannte sich nicht physiologisch, die ganze Kette der Jahrtausende entlang: er kennt sich auch heute noch nicht. Zu wissen z. B., daß man ein Nervensystem habe (– aber keine »Seele« –), bleibt immer noch das Vorrecht der Unterrichtetsten. Aber der Mensch begnügt sich nicht, hier nicht zu wissen. Man muß sehr human sein, um zu sagen »ich weiß das nicht«, um sich Ignoranzen zu gönnen.
Gesetzt, er leidet oder er ist in guter Laune, so zweifelt er nicht, den Grund dafür zu finden, wenn er nur sucht. Also sucht er ihn … In Wahrheit kann er den Grund nicht finden, weil er nicht einmal argwöhnt, wo er zu suchen hätte … Was geschieht? … Er nimmt eine Folge seines Zustandes als dessen Ursache, z. B. ein Werk in guter Laune unternommen (im Grunde unternommen, weil schon die gute Laune den Muth dazu gab) geräth: ecco, das Werk ist der Grund, zur guten Laune … Thatsächlich war wiederum das Gelingen bedingt durch Dasselbe, was die gute Laune bedingte, – durch die glückliche Coordination der physiologischen Kräfte und Systeme.
Er befindet sich schlecht: und folglich wird er mit einer Sorge, einem Skrupel, einer Selbstkritik nicht fertig … In Wahrheit glaubt der Mensch, sein schlechter Zustand sei die Folge seines Skrupels, seiner »Sünde«, seiner »Selbstkritik« …
Aber der Zustand der Wiederherstellung, oft nach einer tiefen Erschöpfung und Prostration, kehrt zurück. »Wie ist das möglich, daß ich so frei, so erlöst bin? Das ist ein Wunder; das kann nur Gott mir gethan haben.« – Schluß: »er hat mir meine Sünde vergeben« …
Daraus ergiebt sich eine Praktik: um Sündengefühle anzuregen, um Zerknirschungen vorzubereiten, hat man den Körper in einen krankhaften und nervösen Zustand zu bringen. Die Methodik dafür ist bekannt. Wie billig, argwöhnt man nicht die causale Logik der Thatsache: man hat eine religiöse Deutung für die Kasteiung des Fleisches, sie erscheint als Zweck an sich, während sie sich nur als Mittel ergiebt, um jene krankhafte Indigestion der Reue möglich zu machen (die »idée fixe« der Sünde, die Hypnotisirung der Henne durch den Strich »Sünde«). Die Mißhandlung des Leibes erzeugt den Boden für die Reihe der »Schuldgefühle«, d. h. ein allgemeines Leiden, das erklärt sein will …
Andrerseits ergiebt sich ebenso die Methodik der »Erlösung«: man hat jede Ausschweifung des Gefühls durch Gebete, Bewegungen, Gebärden, Schwüre herausgefordert, – die Erschöpfung folgt, oft jäh, oft unter epileptischer Form. Und – hinter dem Zustand tiefer Somnolenz kommt der Schein der Genesung –, religiös geredet: »Erlösung«.
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230.
Ehedem hat man jene Zustände und Folgen der physiologischen Erschöpfung, weil sie reich an Plötzlichem, Schrecklichem, Unerklärlichem und Unberechenbarem sind, für wichtiger genommen, als die gesunden Zustände und deren Folgen. Man fürchtete sich: man setzte hier eine höhere Welt an. Man hat den Schlaf und Traum, man hat den Schatten, die Nacht, den Naturschrecken verantwortlich gemacht für das Entstehen zweier Welten: vor Allem sollte man die Symptome der physiologischen Erschöpfung daraufhin betrachten. Die alten Religionen discipliniren ganz eigentlich den Frommen zu einem Zustande der Erschöpfung, wo er solche Dinge erleben muß … Man glaubte in eine höhere Ordnung eingetreten zu sein, wo Alles aufhört, bekannt zu sein. – Der Schein einer höheren Macht …
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225.
Der Schlaf als Folge jeder Erschöpfung, die Erschöpfung als Folge jeder übermäßigen Reizung …
Das Bedürfnis; nach Schlaf, die Vergöttlichung und Adoration selbst des Begriffes »Schlaf« in allen pessimistischen Religionen und Philosophien –
Die Erschöpfung ist in diesem Fall eine Rassen-Erschöpfung; der Schlaf, psychologisch genommen, nur ein Gleichnis; eines viel tieferen und längeren Ruhenmüssens … In praxi ist es der Tod, der hier unter dem Bilde seines Bruders, des Schlafes, so verführerisch wirkt …
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232.
Der ganze christliche Buß- und Erlösungs- training kann aufgefaßt werden als eine willkürlich erzeugte folie circulaire: wie billig nur in bereits prädestinirten, nämlich morbid angelegten Individuen erzeugbar.
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233.
Gegen Reue und ihre rein psychologische Behandlung. – Mit einem Erlebnis; nicht fertig weiden ist bereits ein Zeichen von dédadence. Dieses Wieder-Aufreißen alter Wunden, das Sich-Wälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung ist eine Krankheit mehr, aus der nimmermehr das »Heil der Seele«, sondern immer nur eine neue Krankheitsform derselben entstehen kann …
Diese »Erlösungs-Zustände« im Christen sind bloße Wechsel eines und desselben krankhaften Zustandes, – Auslegungen der epileptischen Krise unter einer bestimmten Formel, welche nicht die Wissenschaft, sondern der religiöse Wahn giebt.
Man ist auf eine krankhafte Manier gut, wenn man krank ist … Wir rechnen jetzt den größten Theil des psychologischen Apparates, mit dem das Christenthum gearbeitet hat, unter die Formen der Hysterie und der Epilepsoidis.
Die ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung muß auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden: der »Gewissensbiß« als solcher ist ein Hinderniß der Genesung, – man muß Alles aufzuwiegen suchen durch neue Handlungen, um möglichst schnell dem Siechthum der Selbsttortur zu entgehn … Man sollte die rein psychologische Praktik der Kirche und der Sekten als gesundheitsgefährlich in Verruf bringen… Man heilt einen Kranken nicht durch Gebete und Beschwörungen böser Geister: die Zustände der »Ruhe«, die unter solchen Einwirkungen eintreten, sind fern davon, im psychologischen Sinne Vertrauen zu erwecken …
Man ist gesund, wenn man sich über seinen Ernst und Eifer lustig macht, mit dem irgend eine Einzelheit unsres Lebens dergestalt uns hypnotisirt hat, wenn man beim Gewissensbiß Etwas fühlt wie beim Biß eines Hundes wider einen Stein, – wenn man sich seiner Reue schämt, –
Die bisherige Praxis, die rein psychologische und religiöse, war nur aus eine Veränderung der Symptome aus: sie hielt einen Menschen für wiederhergestellt, wenn er vor dem Kreuze sich erniedrigte und Schwüre that, ein guter Mensch zu sein … Aber ein Verbrecher, der mit einem gewissen düstern Ernst sein Schicksal festhält und nicht seine That hinterdrein verleumdet, hat mehr Gesundheit der Seele … Die Verbrecher, mit denen Dostoiewsky zusammen im Zuchthause lebte, waren sammt und sonders ungebrochene Naturen, – sind sie nicht hundertmal mehr werth als ein »gebrochener« Christ?
(– Ich empfehle die Behandlung des Gewissensbisses mit der Mitchell-Cur – –)
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234.
Der Gewissensbiß: Zeichen, daß der Charakter der That nicht gewachsen ist. Es giebt Gewissensbisse auch nach guten Werken: ihr Ungewöhnliches, das was aus dem alten Milieu heraushebt. –
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235.
Gegen die Reue. – Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene That nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen unter dem Ansturz unerwarteter Schande und Bedrängniß. Ein extremer Stolz ist da eher am Platz. Zuletzt, was hilft es! Keine That wird dadurch, daß sie bereut wird, ungethan; ebensowenig dadurch, daß sie »vergeben« oder daß sie »gesühnt« wird. Man müßte Theologe sein, um an eine schuldentilgende Macht zu glauben: wir Immoralisten ziehen es vor, nicht an »Schuld« zu glauben. Wir halten dafür, daß jedwederlei Handlung in der Wurzel werth-identisch ist, – insgleichen daß Handlungen, welche sich gegen uns wenden, ebendarum immer noch, ökonomisch gerechnet, nützliche, allgemein-wünschbare Handlungen sein können. – Im einzelnen Fall werden wir zugestehen, daß eine That uns leicht hätte erspart bleiben können, – nur die Umstände haben uns zu ihr begünstigt. Wer von uns hätte nicht, von den Umständen begünstigt, schon die ganze Skala der Verbrechen durchgemacht? … Man soll deshalb nie sagen: »das und das hättest du nicht thun sollen«, sondern immer nur: »wie seltsam, daß ich das nicht schon hundertmal gethan habe!« – Zuletzt sind die wenigsten Handlungen typische Handlungen und wirklich Abbreviaturen einer Person; und in Anbetracht, wie wenig Person die Meisten sind, wird selten ein Mensch durch eine einzelne That charakterisirt. That der Umstände, bloß epidermal, bloß reflexmaßig als Auslösung auf einen Reiz erfolgend: lange bevor die Tiefe unseres Seins davon berührt, darüber befragt worden ist. Ein Zorn, ein Griff, ein Messerstich: was ist daran von Person! – Die That bringt häufig eine Art Starrblick und Unfreiheit mit sich: sodaß der Thäter durch ihre Erinnerung wie gebannt ist und sich selbst bloß als Zubehör zu ihr noch fühlt. Diese geistige Störung, eine Form von Hvpnotisirung, hat man vor Allem zu bekämpfen: eine einzelne That, sie sei welche sie sei, ist doch im Vergleich mit Allem, was man thut, gleich Null und darf weggerechnet werden, ohne daß die Rechnung falsch würde. Das unbillige Interesse, welches die Gesellschaft haben kann, unsre ganze Existenz nur in Einer Richtung nachzurechnen, wie als ob ihr Sinn sei, eine einzelne That herauszutreiben, sollte den Thäter selbst nicht anstecken: leider geschieht es fast beständig. Das hängt daran, daß jeder That mit ungewöhnlichen Folgen eine geistige Störung folgt: gleichgültig selbst, ob diese Folgen gute oder schlimme sind. Man sehe einen Verliebten an, dem ein Versprechen zu Theil geworden; einen Dichter, dem ein Theater Beifall klatscht: sie unterscheiden sich, was den torpor intellectualis betrifft, in Nichts von dem Anarchisten, den man mit einer Haussuchung überfällt.