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158.
Man soll das Christenthum als historische Realität nicht mit jener Einen Wurzel verwechseln, an welche es mit seinem Namen erinnert: die andern Wurzeln, aus denen es gewachsen ist, sind bei Weitem mächtiger gewesen. Es ist ein Mißbrauch ohne Gleichen, wenn solche Verfalls-Gebilde und Mißformen, die »christliche Kirche«, »christlicher Glaube« und »christliches Leben« heißen, sich mit jenem heiligen Namen abzeichnen. Was hat Christus verneint? – Alles, was heute christlich heißt.
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159.
Die ganze christliche Lehre von Dem, was geglaubt werden soll, die ganze christliche »Wahrheit« ist eitel Lug und Trug: und genau das Gegenstück von Dem, was den Anfang der christlichen Bewegung gegeben hat.
Das gerade, was im kirchlichen Sinn das Christliche ist, ist das Antichristliche von vornherein: lauter Sachen und Personen statt der Symbole, lauter Historie statt der ewigen Thatsachen, lauter Formeln, Riten, Dogmen statt einer Praxis des Lebens. Christlich ist die vollkommene Gleichgültigkeit gegen Dogmen, Cultus, Priester, Kirche, Theologie.
Die Praxis des Christentums ist keine Phantasterei, so wenig die Praxis des Buddhismus sie ist: sie ist ein Mittel, glücklich zu sein,
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160.
Jesus geht direkt auf den Zustand los, das »Himmelreich« im Herzen, und findet die Mittel nicht in der Observanz der jüdischen Kirche –; er rechnet selbst die Realität des Judenthums (seine Nöthigung, sich zu erhalten) für Nichts; er ist rein innerlich. –
Ebenso macht er sich Nichts aus den sämmtlichen groben Formeln im Verkehr mit Gott: er wehrt sich gegen die ganze Buß- und Versöhnungs-Lehre; er zeigt, wie man leben muß, um sich als »vergöttlicht« zu fühlen – und wie man nicht mit Buße und Zerknirschung über seine Sünden dazu kommt: »es liegt Nichts an Sünde« ist sein Haupturtheil.
Sünde, Buße, Vergebung, – das gehört Alles nicht hierher … das ist eingemischtes Judenthum, oder es ist heidnisch.
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161.
Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens (– von den Kindern wird gesagt »denn ihrer ist das Himmelreich«): Nichts, was »über der Erde« ist. Das Reich Gottes »kommt« nicht chronologisch-historisch, nicht nach dem Kalender, Etwas, das eines Tages da wäre und Tags vorher nicht: sondern es ist eine »Sinnes-Änderung im Einzelnen«, Etwas, das jederzeit kommt und jederzeit noch nicht da ist …
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162.
Der Schächer am Kreuz: – wenn der Verbrecher selbst, der einen schmerzhaften Tod leidet, urtheilt: »so, wie dieser Jesus, ohne Revolte, ohne Feindschaft, gütig, ergeben, leidet und stirbt, so allein ist es das Rechte«, hat er das Evangelium bejaht: und damit ist er im Paradiese…
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163.
Jesus gebietet: Man soll Dem, der böse gegen uns ist, weder durch die That, noch im Herzen Widerstand leisten.
Man soll keinen Grund anerkennen, sich von seinem Weibe zu scheiden.
Man soll keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, Ausländern und Volksgenossen machen.
Man soll sich gegen Niemanden erzürnen, man soll Niemanden geringschätzen. Gebt Almosen im Verborgenen. Man soll nicht reich werden wollen. Man soll nicht schwören. Man soll nicht richten. Man soll sich versöhnen, man soll vergeben. Betet nicht öffentlich.
Die »Seligkeit« ist nichts Verheißenes: sie ist da, wenn man so und so lebt und thut.
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164.
Spätere Zuthaten. – Die ganze Propheten- und Wunderthäter-Attitüde, der Zorn, das Heraufbeschwören des Gerichts ist eine abscheuliche Verderbniß (z. B. Marcus 6, 11 Und Die, welche euch nicht aufnehmen… ich sage euch: wahrlich, es wird Sodom und Gomorrha u. s. w.). Der »Feigenbaum« (Matth. 21, 18): Als er aber des Morgens wieder in die Stadt gieng, hungerte ihn. Und er sah einen Feigenbaum am Wege und gieng hin und fand Nichts daran, denn allein Blätter, und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir hinfort nimmermehr Frucht! und der Feigenbaum verdorrte alsbald.
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165.
Auf eine ganz absurde Weise ist die Lohn- und Straf-Lehre hineingemengt: es ist Alles damit verdorben.
Insgleichen ist die Praxis der ersten ecclesia militans, des Apostels Paulus und sein Verhalten auf eine ganz verfälschende Weise als geboten, als voraus festgesetzt dargestellt – – – .
Die nachträgliche Verherrlichung des thatsächlichen Lebens und Lehrens der ersten Christen: wie als ob Alles so vorgeschrieben und bloß befolgt wäre – –.
Nun gar die Erfüllung der Weissagungen: was ist da Alles gefälscht und zurecht gemacht worden!
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166.
Jesus stellte ein wirkliches Leben, ein Leben in der Wahrheit jenem gewöhnlichen Leben gegenüber: Nichts liegt ihm ferner, als der plumpe Unsinn eines »verewigten Petrus«, einer ewigen Personal-Fortdauer. Was er bekämpft, das ist die Wichtigthuerei der »Person«: wie kann er gerade die verewigen wollen?
Er bekämpft insgleichen die Hierarchie innerhalb der Gemeinde: er verspricht nicht irgend eine Proportion von Lohn je nach der Leistung: wie kann er Strafe und Lohn im Jenseits gemeint haben!
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167.
Das Christenthum ist ein naiver Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, mitten aus dem eigentlichen Herde des Ressentiments heraus … aber durch Paulus zu einer heidnischen Mysterienlehre umgedreht, welche endlich sich mit der ganzen staatlichen Organisation vertragen lernt … und Kriege führt, verurtheilt, foltert, schwört, haßt.
Paulus geht von dem Mysterien-Bedürfniß der großen, religiös-erregten Menge aus: er sucht ein Opfer, eine blutige Phantasmagorie, die den Kampf aushält mit den Bildern der Geheimculte: Gott am Kreuze, das Bluttrinken, die unio mystica, mit dem »Opfer«.
Er sucht die Fortexistenz (die selige, entsühnte Fortexistenz der Einzelseele) als Auferstehung in Causalverbindung mit jenem Opfer zu bringen (nach dem Typus des Dionysos, Mithras, Osiris).
Er hat nöthig, den Begriff Schuld und Sünde in den Vordergrund zu bringen, nicht eine neue Praxis (wie sie Jesus selbst zeigte und lehrte), sondern einen neuen Cultus, einen neuen Glauben, einen Glauben an eine wundergleiche Verwandlung (»Erlösung« durch den Glauben).
Er hat das große Bedürfniß der heidnischen Welt verstanden und aus den Tatsachen vom Leben und Tode Christi eine vollkommen willkürliche Auswahl gemacht, Alles neu accentuirt, überall das Schwergewicht verlegt… er hat principiell das ursprüngliche Christenthum annullirt …
Das Attentat auf Priester und Theologen mündete, Dank dem Paulus, in eine neue Priesterschaft und Theologie – einen herrschenden Stand, auch eine Kirche.
Das Attentat auf die übermäßige Wichtigthuerei der »Person« mündete in den Glauben an die »ewige Person« (in die Sorge um’s »ewige Heil« …), in die paradoxeste Übertreibung des Personal-Egoismus.
Das ist der Humor der Sache, ein tragischer Humor: Paulus hat gerade Das im großen Stile wieder aufgerichtet, was Christus durch sein Leben annullirt hatte. Endlich, als die Kirche fertig ist, nimmt sie sogar das Staats-Dasein unter ihre Sanktion.
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168.
– Die Kirche ist exakt Das, wogegen Jesus gepredigt hat – und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte –
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169.
Ein Gott für unsere Sünden gestorben; eine Erlösung durch den Glauben; eine Wiederauferstehung nach dem Tode – das sind alles Falschmünzereien des eigentlichen Christenthums, für die man jenen unheilvollen Querkopf (Paulus) verantwortlich machen muß.
Das vorbildliche Leben besteht in der Liebe und Demuth; in der Herzens-Fülle, welche auch den Niedrigsten nicht ausschließt; in der förmlichen Verzichtleistung auf das Recht-behalten-wollen, auf Vertheidigung, auf Sieg im Sinne des persönlichen Triumphes; im Glauben an die Seligkeit hier, auf Erden, trotz Noth, Widerstand und Tod; in der Versöhnlichkeit, in der Abwesenheit des Zornes, der Verachtung; nicht belohnt werden wollen; Niemandem sich verbunden haben; die geistlich-geistigste Herrenlosigkeit; ein sehr stolzes Leben unter dem Willen zum armen und dienenden Leben.
Nachdem die Kirche die ganze christliche Praxis sich hatte nehmen lassen und ganz eigentlich das Leben im Staate, jene Art Leben, welche Jesus bekämpft und verurtheilt hatte, sanktionirt hatte, mußte sie den Sinn des Christenthums irgendwo anders hin legen: in den Glauben an unglaubwürdige Dinge, in das Ceremoniell von Gebeten, Anbetung, Festen u. s. w. Der Begriff »Sünde«, »Vergebung«, »Strafe«, »Belohnung« – Alles ganz unbeträchtlich und fast ausgeschlossen vom ersten Christenthum – kommt setzt in den Vordergrund.
Ein schauderhafter Mischmasch von griechischer Philosophie und Judenthum: der Asketismus; das beständige Richten und Verurtheilen; die Rangordnung u. s. w.
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170.
Das Christentum hat von vornherein das Symbolische in Cruditäten umgesetzt:
1. der Gegensatz »wahres Leben« und »falsches« Leben: mißverstanden als »Leben diesseits« und »Leben jenseits«;
2. der Begriff »ewiges Leben« im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit als »Personal-Unsterblichkeit«
3. die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als »Wunder der Transsubstantiation«;
4. die »Auferstehung –« als Eintritt in das »wahre Leben«, als »wiedergeboren«; daraus: eine historische Eventualität, die irgendwann nach dem Tode eintritt;
5. die Lehre vom Menschensohn als dem »Sohn Gottes«, das Lebensverhältnis zwischen Mensch und Gott; daraus: die »zweite Person der Gottheit« – gerade das weggeschafft: das Sohnverhältniß jedes Menschen zu Gott, auch des niedrigsten; 6. die Erlösung durch den Glauben (nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft Gottes giebt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens) umgekehrt in den Glauben, daß man an irgend eine wunderbare Abzahlung der Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen, sondern durch die That Christi bewerkstelligt ist:
Damit mußte »Christus am Kreuze« neu gedeutet werden. Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache … er war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit und Gesetze der Welt zu verhalten habe – nicht sich wehren … Darin lag das Vorbild.
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171.
Zur Psychologie des Paulus. – Das Faktum ist der Tod Jesu. Dies bleibt auszulegen … Daß es eine Wahrheit und einen Irrthum in der Auslegung giebt, ist solchen Leuten gar nicht in den Sinn gekommen: eines Tags steigt ihnen eine sublime Möglichkeit in den Kopf »es könnte dieser Tod das und das bedeuten« – und sofort ist er das! Eine Hypothese beweist sich durch den sublimen Schwung, welchen sie ihrem Urheber giebt …
»Der Beweis der Kraft«: d. h. ein Gedanke wird durch seine Wirkung bewiesen, – (»an seinen Früchten«, wie die Bibel naiv sagt); was begeistert, muß wahr sein, – wofür man sein Blut läßt, muß wahr sein –
Hier wird überall das plötzliche Machtgefühl, das ein Gedanke in seinem Urheber erregt, diesem Gedanken als Werth zugerechnet: – und da man einen Gedanken gar nicht anders zu ehren weiß, als indem man ihn als wahr bezeichnet, so ist das erste Prädikat, das er zu seiner Ehre bekommt, er sei wahr … Wie könnte er sonst wirken? Er wird von einer Macht imaginirt: gesetzt sie wäre nicht real, so könnte sie nicht wirken … Er wird als inspirirt aufgefaßt: die Wirkung, die er ausübt, hat Etwas von der Übergewalt eines dämonischen Einflusses –
Ein Gedanke, dem ein solcher décadent nicht Widerstand zu leisten vermag, dem er vollends verfällt, ist als wahr »bewiesen«!!!
Alle diese heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstkritik, mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereigniß auf seine Wahrheit prüft … Es sind, im Vergleich zu uns, moralische Cretins …
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172.
Daß es nicht darauf ankommt, ob Etwas wahr ist, sondern wie es wirkt –: absoluter Mangel an intellektueller Rechtschaffenheit. Alles ist gut, die Lüge, die Verleumdung, die unverschämteste Zurechtmachung, wenn es dient, jenen Wärmegrad zu erhöhen, – bis man »glaubt« –.
Eine förmliche Schule der Mittel der Verführung zu einem Glauben: principielle Verachtung der Sphären, woher der Widerspruch kommen könnte (– der Vernunft, der Philosophie und Weisheit, des Mißtrauens, der Vorsicht); ein unverschämtes Loben und Verherrlichen der Lehre unter beständiger Berufung darauf, daß Gott es sei, der sie gebe, – daß der Apostel Nichts bedeute, – daß hier Nichts zu kritisiren sei, sondern nur zu glauben, anzunehmen; daß es die außerordentlichste Gnade und Gunst sei, eine solche Erlösungslehre zu empfangen; daß die tiefste Dankbarkeit und Demuth der Zustand sei, in dem man sie zu empfangen habe …
Es wird beständig speculirt auf die Ressentiments, welche diese Niedrig-Gestellten gegen Alles, was in Ehren ist, empfinden: daß man ihnen diese Lehre als Gegensatz-Lehre gegen die Weisheit der Welt, gegen die Macht der Welt darstellt, das verführt zu ihr. Sie überredet die Ausgestoßenen und Schlechtweggekommenen aller Art; sie verspricht die Seligkeit, den Vorzug, das Privilegium den Unscheinbarsten und Demüthigsten; sie fanatisirt die armen, kleinen, thörichten Köpfe zu einem unsinnigen Dünkel, wie als ob sie der Sinn und das Salz der Erde wären –.
Das Alles, nochmals gesagt, kann man nicht tief genug verachten. Wir ersparen uns die Kritik der Lehre; es genügt, die Mittel anzusehn, deren sie sich bedient, um zu wissen, womit man es zu thun hat. Sie accordirte mit der Tugend, sie nahm die ganze Fascinations-Kraft der Tugend schamlos für sich allein in Anspruch … sie accordirte mit der Macht des Paradoxen, mit dem Bedürfniß alter Civilisationen nach Pfeffer und Widersinn; sie verblüffte, sie empörte, sie reizte auf zu Verfolgung und zu Mißhandlung –.
Es ist genau dieselbe Art durchdachter Nichtswürdigkeit, mit der die jüdische Priesterschaft ihre Macht festgestellt hat und die jüdische Kirche geschaffen worden ist …
Man soll unterscheiden: 1) jene Wärme der Leidenschaft »Liebe« (auf dem Untergrund einer hitzigen Sinnlichkeit ruhend); 2) das absolut Unvornehme des Christenthums: – die beständige Übertreibung, die Geschwätzigkeit; – den Mangel an kühler Geistigkeit und Ironie; – das Unmilitärische in allen Instinkten; – das priesterliche Vorurtheil gegen den männlichen Stolz, gegen die Sinnlichkeit, die Wissenschaften, die Künste.
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173.
Paulus: er sucht Macht gegen das regierende Judenthum, – seine Bewegung ist zu schwach … Umwerthung des Begriffes »Jude«: die »Rasse« wird bei Seite gethan –: aber das hieß das Fundament negiren. Der »Märtyrer«, der »Fanatiker«, der Werth alles starken Glaubens …
Das Christenthum ist die Verfalls-Form der alten Welt in tiefster Ohnmacht, sodaß die kränksten und ungesündesten Schichten und Bedürfnisse obenauf kommen.
Folglich mußten andere Instinkte in den Vordergrund treten, um eine Einheit, eine sich wehrende Macht zu schaffen –, kurz eine Art Nothlage war nöthig, wie jene, aus der die Juden ihren Instinkt zur Selbsterhaltung genommen hatten …
Unschätzbar sind hierfür die Christen-Verfolgungen – die Gemeinsamkeit in der Gefahr, die Massen-Bekehrungen als einziges Mittel, den Privat-Verfolgungen ein Ende zu machen (– er nimmt es folglich so leicht als möglich mit dem Begriff »Bekehrung« –).
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174.
Das christlich-jüdische Leben: hier überwog nicht das Ressentiment. Erst die großen Verfolgungen mögen die Leidenschaft dergestalt herausgetrieben haben – sowohl die Gluth der Liebe, als die des Hasses.
Wenn man für seinen Glauben seine Liebsten geopfert sieht, dann wird man aggressiv; man verdankt den Sieg des Christenthums seinen Verfolgern.
Die Asketik im Christenthum ist nicht specifisch: das hat Schopenhauer mißverstanden: sie wächst nur in das Christenthum hinein: überall dort, wo es auch ohne Christenthum Asketik giebt.
Das hypochondrische Christenthum, die Gewissens-Thierquälerei und -Folterung ist insgleichen nur einem gewissen Boden zugehörig, auf dem christliche Werthe Wurzel geschlagen haben: es ist nicht das Christenthum selbst. Das Christenthum hat alle Art Krankheiten morbider Böden in sich aufgenommen: man könnte ihm einzig zum Vorwurf machen, daß es sich gegen keine Ansteckung zu wehren wußte. Aber eben Das ist sein Wesen: Christenthum ist ein Typus der décadence.
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175.
Die Realität, auf der das Christenthum sich aufbauen konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora, mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römischen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen für einander, mit ihrem verborgenen und in Demuth verkleideten Stolz der »Auserwählten«, mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid zu Allem, was obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu haben, diesen seligen Zustand als mittheilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben – ist das Genie des Paulus: den Schatz von latenter Energie, von klugem Glück auszunützen zu einer »jüdischen Kirche freieren Bekenntnisses«, die ganze jüdische Erfahrung und Meisterschaft der Gemeinde-Selbsterhaltung unter der Fremdherrschaft, auch die jüdische Propaganda – das errieth er als seine Aufgabe. Was er vorfand, das war eben jene absolut unpolitische und abseits gestellte Art kleiner Leute: ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von Tugend ausdrückten (»Mittel der Erhaltung und Steigerung einer bestimmten Art Mensch«).
Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Princip der Liebe her: es ist eine leidenschaftlichere Seele, die hier unter der Asche von Demuth und Armseligkeit glüht: so war es weder griechisch, noch indisch, noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe, welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches, sondern ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist. Wenn das Christenthum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht gethan hat, so ist es eine Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendeste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine Temperatur-Erhöhung…
Es versteht sich, daß eine solche Übertragung nicht stattfinden konnte in Hinsicht auf die herrschenden Stände: die Juden und Christen hatten die schlechten Manieren gegen sich, – und was Stärke und Leidenschaft der Seele bei schlechten Manieren ist, das wirkt abstoßend und beinahe Ekel erregend (– ich sehe diese schlechten Manieren, wenn ich das neue Testament lese). Man mußte durch Niedrigkeit und Noth mit dem hier redenden Typus des niederen Volles verwandt sein, um das Anziehende zu empfinden … Es ist eine Probe davon, ob man etwas classischen Geschmack im Leibe hat, wie man zum neuen Testament steht (vergl. Tacitus); wer davon nicht revoltirt ist, wer dabei nicht ehrlich und gründlich Etwas von foeda superstitio empfindet, Etwas, wovon man die Hand zurückzieht, wie um nicht sich zu beschmutzen: der weiß nicht, was classisch ist. Man muß das »Kreuz« empfinden wie Goethe –
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176.
Reaktion der kleinen Leute: – Das höchste Gefühl der Macht giebt die Liebe. Zu begreifen, inwiefern hier nicht der Mensch überhaupt, sondern eine Art Mensch redet.
»Wir sind göttlich in der Liebe, wir werden Kinder Gottes’, Gott liebt uns und will gar Nichts von uns, als Liebe«; das heißt: alle Moral, alles Gehorchen und Thun bringt nicht jenes Gefühl von Macht und Freiheit hervor, wie es die Liebe hervorbringt; – aus Liebe thut man nichts Schlimmes, man thut viel Mehr, als man aus Gehorsam und Tugend thäte.
Hier ist das Heerdenglück, das Gemeinschafts-Gefühl im Großen und Kleinen, das lebendige Eins-Gefühl als Summe des Lebensgefühls empfunden. Das Helfen und Sorgen und Nützen erregt fortwährend das Gefühl der Macht; der sichtbare Erfolg, der Ausdruck der Freude unterstreicht das Gefühl der Macht; der Stolz fehlt nicht, als Gemeinde, als Wohnstätte Gottes, als »Auserwählte«.
Thatsächlich hat der Mensch nochmals eine Alteration der Persönlichkeit erlebt: diesmal nannte er sein Liebesgefühl Gott. Man muß ein Erwachen eines solchen Gefühls sich denken, eine Art Entzücken, eine fremde Rede, ein »Evangelium«, – diese Neuheit war es, welche ihm nicht erlaubte, sich die Liebe zuzurechnen –: er meinte, daß Gott vor ihm wandle und in ihm lebendig geworden sei. – »Gott kommt zu den Menschen«, der »Nächste« wird transfigurirt, in einen Gott (insofern an ihm das Gefühl der Liebe sich auslöst). Jesus ist der Nächste, so wie dieser zur Gottheit, zur Machtgefühl erregenden Ursache umgedacht wurde.
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177.
Die Gläubigen sind sich bewußt, dem Christenthum Unendliches zu verdanken, und schließen folglich, daß dessen Urheber eine Personnage ersten Ranges sei … Dieser Schluß ist falsch, aber er ist der typische Schluß der Verehrenden. Objektiv angesehn, wäre möglich, erstens, daß sie sich irrten über den Werth Dessen, was sie dem Christenthum verdanken: Überzeugungen beweisen Nichts für Das, wovon man überzeugt ist, bei Religionen begründen sie eher noch einen Verdacht dagegen… Es wäre zweitens möglich, daß, was dem Christenthum verdankt wird, nicht seinem Urheber zugeschrieben werden dürfte, sondern eben dem fertigen Gebilde, dem Ganzen, der Kirche u. s. w. Der Begriff »Urheber« ist so vieldeutig, daß er selbst die bloße Gelegenheits-Ursache für eine Bewegung bedeuten kann: man hat die Gestalt des Gründers in dem Maaße vergrößert, als die Kirche wuchs; aber eben diese Optik der Verehrung erlaubt den Schluß, daß irgend wann dieser Gründer etwas sehr Unsicheres und Unfestgestelltes war, – am Anfang… Man denke, mit welcher Freiheit Paulus das Personal-Problem Jesus behandelt, beinahe eskamotirt –: Jemand, der gestorben ist, den man nach seinem Tode wieder gesehen hat, Jemand, der von den Juden zum Tode überantwortet wurde… Ein bloßes »Motiv«: die Musik macht er dann dazu…
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178.
Ein Religionsstifter kann unbedeutend sein, – ein Streichholz, Nichts mehr!
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179.
Zum psychologischen Problem des Christenthums. – Die treibende Kraft bleibt : das Ressentiment, der Volksaufstand, der Aufstand der Schlechtweggekommenen. (Mit dem Buddhismus steht es anders: er ist nicht geboren aus einer Ressentiments-Bewegung. Er bekämpft dasselbe, weil es zum Handeln antreibt).
Diese Friedenspartei begreift, daß Verzichtleisten auf Feindseligkeit in Gedanken und That eine Unterscheidungs- und Erhaltungsbedingung ist. Hierin liegt die psychologische Schwierigkeit, welche verhindert hat, daß man das Christenthum verstand: der Trieb, der es schuf, erzwingt eine grundsätzliche Bekämpfung seiner selber.
Nur als Friedens- und Unschuldspartei hat diese Aufstandsbewegung eine Möglichkeit auf Erfolg: sie muß siegen durch die extreme Milde, Süßigkeit, Sanftmuth, ihr Instinkt begreift das –. Kunststück: den Trieb, dessen Ausdruck man ist, leugnen, verurtheilen, das Gegenstück dieses Triebes durch die That und das Wort beständig zur Schau tragen –.
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180.
Die angebliche Jugend. – Man betrügt sich, wenn man hier von einem naiven und jungen Volks-Dasein träumt, das sich gegen eine alte Cultur abhebt; es geht der Aberglaube, als ob in diesen Schichten des niedersten Volkes, wo das Christenthum wuchs und Wurzeln schlug, die tiefere Quelle des Lebens wieder emporgesprudelt sei: man versteht Nichts von der Psychologie der Christlichkeit, wenn man sie als Ausdruck einer neu heraufkommenden Volks-Jugend und Rassen-Verstärkung nimmt. Vielmehr: es ist eine typische décadence-Form, die Moral-Verzärtlichung und Hysterie in einer müde und ziellos gewordenen, krankhaften Mischmasch-Bevölkerung. Diese wunderliche Gesellschaft, welche hier um diesen Meister der Volks-Verführung sich zusammenfand, gehört eigentlich sammt und sonders in einen russischen Roman: alle Nervenkrankheiten geben sich bei ihnen ein Rendezvous … die Abwesenheit von Aufgaben, der Instinkt, daß Alles eigentlich am Ende sei, daß sich Nichts mehr lohne, die Zufriedenheit in einem dolce far niente.
Die Macht und Zukunfts-Gewißheit des jüdischen Instinkts, das Ungeheure seines zähen Willens zu Dasein und Macht liegt in seiner herrschenden Klasse; die Schichten, welche das junge Christentum emporhebt, sind durch Nichts schärfer gezeichnet, als durch die Instinkt- Ermüdung. Man hat es satt: das ist das Eine – und man ist zufrieden, bei sich, in sich, für sich – das ist das Andere.
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181.
Das Christenthum als emancipirtes Judenthum (in gleicher Weise wie eine lokal und rassenmäßig bedingte Vornehmheit endlich sich von diesen Bedingungen emancipirt und nach verwandten Elementen suchen geht …).
1) als Kirche (Gemeinde) auf dem Boden des Staates, als unpolitisches Gebilde;
2) als Leben, Zucht, Praxis, Lebenskunst;
3) als Religion der Sünde (des Vergehens an Gott als einziger Art der Vergehung, als einziger Ursache alles Leidens überhaupt), mit einem Universalmittel gegen sie. Es giebt nur an Gott Sünde; was gegen die Menschen gefehlt ist, darüber soll der Mensch nicht richten, noch Rechenschaft fordern, es sei denn im Namen Gottes. Insgleichen alle Gebote (Liebe): Alles ist angeknüpft an Gott, und um Gottes Willen wird es am Menschen gethan. Darin steckt eine hohe Klugheit (– das Leben in großer Enge, wie bei den Eskimos, ist nur erträglich bei der friedfertigsten und nachsichtigsten Gesinnung: das jüdisch-christliche Dogma wendete sich gegen die Sünde, zum Besten des »Sünders« –).
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182.
Die jüdische Priesterschaft hatte verstanden, Alles was sie beanspruchte, als eine göttliche Satzung, als Folgeleistung gegen ein Gebot Gottes zu präsentiren … insgleichen, was dazu diente, Israel zu erhalten, seine Existenz- Ermöglichung (z.B. eine Summe von Werken: Beschneidung, Opfercult als Centrum des nationalen Bewußtseins) nicht als Natur, sondern als »Gott« einzuführen. – Dieser Proceß setzt sich fort; innerhalb des Judenthums, wo die Notwendigkeit der »Werke« nicht empfunden wurde (nämlich als Abscheidung gegen Außen), konnte eine priesterliche Art Mensch concipirt werden, die sich verhält wie die »vornehme Natur« zum Aristokraten; eine kastenlose und gleichsam spontane Priesterhaftigkeit der Seele, welche nun, um ihren Gegensatz scharf von sich abzuheben, nicht auf die »Werke«, sondern die »Gesinnung« den Werth legte…
Im Grunde handelte es sich wieder darum, eine bestimmte Art von Seele durchzusetzen: gleichsam ein Volks-Aufstand innerhalb eines priesterlichen Volkes, – eine pietistische Bewegung von Unten (Sünder, Zöllner, Weiber, Kranke). Jesus von Nazareth war das Zeichen, an dem sie sich erkannten. Und wieder, um an sich glauben zu können, brauchen sie eine theologische Transfiguration: nichts Geringeres als »der Sohn Gottes« thut ihnen noth, um sich Glauben zu schaffen… Und genau so, wie die Priesterschaft die ganze Geschichte Israels verfälscht hatte, so wurde nochmals der Versuch gemacht, überhaupt die Geschichte der Menschheit hier umzufälschen, damit das Christentum als sein cardinalstes Ereigniß erscheinen könne. Diese Bewegung konnte nur auf dem Boden des Judenthums entstehen: dessen Hauptthat war, Schuld und Unglück zu verflechten und alle Schuld auf Schuld an Gott zu reduciren: davon ist das Christentum die zweite Potenz.