Ich habe sieben Leben

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Vagabunden-Jahre

Mit dem Motorrad durch Patagonien nach Chile. Dort will die alte Karre nicht mehr. Fußmarsch. Gelegenheitsarbeiten als Lastwagenfahrer, Gepäckträger, Seemann, Hilfspolizist, Arzt und Tellerwäscher. In Peru lernen die beiden Freunde einen Arzt kennen, der es ihnen möglich macht, einige Zeit in der Lepraklinik von San Pablo in der Provinz Loreto am Ufer des Amazonas zu verbringen.

Zuvor haben sie schon eine anderee Leprastation besucht. Ein unbeschreiblicher Ort, mitten im Dschungel, 2.000 Meter hoch. Sie studieren die Heilmethoden und die verschiedenen Aspekte dieser Krankheit. Sie reiten auf Maultieren 11 Stunden am Tag zu einem Ort, der Huambo heißt. Sie stellen die Hypothese auf, dass die Krankheit durch gewisse Nahrungsmittel ausgelöst werden könnte, die die Eingeborenen in dieser Gegend hauptsächlich zu sich nehmen. Nach der Befreiung Lateinamerikas soll diese Annahme wissenschaftlich untersucht werden.

Ein anderer Platz, der sie fasziniert, ist die alte Ruinenstadt von Machu Picchu, die letzte Fliehburg der Inkas. Dort bleiben sie mehrere Tage. Ernesto beschäftigt sich mit der Frage: Gab es, ehe die Weißen kamen, in Südamerika eine gesellschaftliche und staatliche Ordnung, von der man lernen könnte? Er spielt mit dem Gedanken, Archäologe zu werden. Während eines kurzen Aufenthalts in Cuzco lesen die Freunde alle verfügbaren Bücher über das Inkareich. In dieser Stadt befindet sich eine Spezialbibliothek für Publikationen über Inkakunst. Die Lesesäle werden zum Asyl für die beiden Tramps, die fast völlig abgebrannt sind. Dort ist es warm und still.

In Machu Picchu, auf der Zitadelle, unter dem unzugänglichen Zuckerhutfelsen, brauen sich Ernesto und Alberto ihren Mate. Einige andere Studenten kommen hinzu. Man lagert an dem alten Opferstein und politisiert. Alberto erklärt, man müsse eine Arbeiterkommune in den Anden gründen und die Regierung dazu bewegen, eine Revolution für die Indianer zu machen, ein Entwicklungsprogramm für den Fortschritt. Ernesto lächelt spöttisch und sagt: »Eine Revolution, ohne dass ein Schuss fällt? Bist du verrückt?«

Von dem Hafen Pucallpa aus fahren sie über den Ucayali, einen Nebenfluss des Amazonas. Sie verlieren sich in der Wildnis, dem grünen wuchernden Herzen ihres Kontinents.

Guevara isst Fisch, das einzige Nahrungsmittel, das sich auftreiben lässt. Da er gegen Fisch allergisch ist, bekommt er einen schweren Asthmaanfall. Er muss ins Krankenhaus. Sobald er sich wieder einigermaßen auf den Beinen halten kann, setzen sie ihre Reise nach San Pablo fort. Dort arbeiten sie in einem Laboratorium, betätigen sich als Psychotherapeuten und versuchen den Leprakranken etwas Ablenkung von ihrem traurigen Schicksal zu verschaffen. Sie spielen Basketball mit ihnen, unternehmen Ausflüge in die Umgebung, besuchen Indianer, beteiligen sich an einer Affenjagd.

Dass die zwei »Ärzte« bereit sind, ihre Freizeit mit den Patienten zu verbringen, löst bei diesen stürmische Bekundungen der Zuneigung und Dankbarkeit aus. Sie bauen für Ernesto und Alberto ein Floß, das sie nach Leticia bringen soll, wo der große Strom das Dreiländereck von Brasilien, Peru und Kolumbien berührt. Leticia gehört zu Kolumbien, dem Land, für das die beiden jungen Leute ein Visum besitzen. Als die Patienten mit dem Bau des Floßes fertig geworden sind, taufen sie es Mambo-Tango. Der Mambo ist in Peru populär, und bei einem Fest haben die Freunde einen komischen Tango, den Nationaltanz Argentiniens, aufgeführt.

Die Vorstellung, über den Amazonas mit einem Floß zu fahren, kommt ihnen zunächst etwas verrückt vor, aber sie haben kleine Kinder und Frauen gesehen; die mit winzigen Paddeln solche Fahrzeuge steuern. Sie reden sich ein, so schwierig könne das nicht sein.

Noch einmal eine Abschiedsparty. Um sieben Uhr morgens am Bootssteg. Ein kleiner Hafen, um den sich die Gebäude des Leprosoriums gruppieren. Obwohl es in Strömen regnet, erwartet sie dort ein Boot, randvoll mit Männern, Frauen und Kindern. Andere Patienten drängen sich am Ufer. Man begrüßt sie mit Hochrufen und Liedern. Auch eine Kapelle ist da. Ein Saxophon quiekt. Reden werden gehalten. Einer der Kranken bedankt sich in unbeholfenen, rührenden Worten. Alberto hält eine kurze Ansprache. Wieder wird gesungen. Als der Beifall endet, stößt das Floß ab. Langsam gleitet es dahin, noch eine Weile begleitet von dem weißen Boot mit den Kranken, von dem immer noch Liedfetzen herüberdringen. Erst nach einer Weile verschwindet es langsam im Dunst der Regenschwaden.

Ernesto ist begeistert. Die Zeit in San Pablo kommt der Vorstellung von seiner Lebensaufgabe, wie er sie damals sieht, ziemlich nahe.

Da die beiden jungen Männer in der Steuerung eines Floßes unerfahren sind, werden sie mit der starken Strömung an Leticia vorbeigetragen und gehen auf einer Insel, die schon zu Brasilien gehört, an Land. Sie vertauschen das Floß mit einem Boot und rudern stromaufwärts zur Stadt zurück. Dort quartieren sie sich auf der Armeestation ein. Sie haben kein Geld mehr. Der Enthusiasmus, den man an diesem Ort argentinischen Fußballspielern entgegenbringt, kommt ihnen zu Hilfe. Sie trainieren die Lokalmannschaft, nehmen selbst an einem Meisterschaftsspiel teil, helfen es zu gewinnen.

Zum Dank schenkt man ihnen zwei Flugkarten nach Bogotá. Dort regiert Laureano Gómez. Eine große Unterdrückungskampagne ist im Gang. Fremde werden mit Misstrauen betrachtet. Niemand glaubt den beiden jungen Männern, dass sie nichts anderes umhertreibt als die Neugier, alle Länder des Subkontinents anzusehen. Sie werden verhaftet. Auf der Wache beschimpfen sie den Polizeiagenten. Ihre Unverschämtheit bewährt sich. Sie werden freigelassen. Studenten, die sie in der Stadt treffen und denen sie erzählen, was sie erlebt haben, machen ihnen klar, dass sie Glück gehabt haben. Der Polizeiagent, mit dem sie sich angelegt hatten, gilt als ein besonders bösartiger Bursche, der schon aus geringfügigerem Anlass Leute hat erschießen lassen.

Die Studenten raten ihnen, die Stadt schleunigst zu verlassen und schenken ihnen ein paar Dollar für das Busticket nach Cúcuta, einem Ort an der venezuelanischen Grenze. Am 14. Juli, dem Jahrestag der Erstürmung der Bastille, wie Alberto Granados ausdrücklich in seinem Bericht über diese Reise hervorhebt, überqueren sie die Internationale Brücke, die Cúcuta mit der venezuelanischen Stadt San Cristóbal verbindet. Kolumbien steht damals in dem Ruf, ein zivilisiertes Land zu sein. Aber seitdem Laureano Gómez dort an der Macht ist, macht sich ein deutlicher Verfall bemerkbar. Sie sehen überall Armut und Rechtsunsicherheit.

In Venezuela entscheidet sich Alberto, eine Anstellung an einem klinischen Laboratorium eines Leprakrankenhauses anzunehmen.

Zufällig begegnen die beiden Freunde einem Bekannten von Guevaras Eltern, der Ernesto daran erinnert, dass er seiner Mutter versprochen hat, heimzukommen und sein Studium mit der Promotion abzuschließen. Der Bekannte handelt mit Rennpferden. Er verkauft argentinische Tiere nach Miami, kauft dort amerikanische Pferde, die er nach Maracaibo bringt, um dann jeweils wieder nach Argentinien zurückzukehren.

Will Ernesto mitfliegen? - Eine Reise mit Umwegen. Immerhin ist der Flugschein kostenlos.

Vorerst also Miami. Dort muss er die Zeit totschlagen, bis das Pferdeflugzeug wieder startet. Er besitzt kaum einen Cent, nimmt tagelang nur eine Tasse Milchkaffee zu sich. In einer Cafeteria, dessen Besitzer ihm erlaubt, seinen Schlafsack auszurollen, wenn nachts die letzten Gäste gegangen sind, wird Ernesto Zeuge, wie ein Puertoricaner auf den amerikanischen Präsidenten Truman schimpft. Auch ein FBI-Agent hört die Unterhaltung mit an. Der Puertoricaner wird festgenommen. »Land of the free/home of the brave.« Auch Ernesto muss mit auf die Polizeiwache. Er bestreitet beim Verhör, sich abfällig über den Präsidenten der Vereinigten Staaten geäußert zu haben. Der Agent behauptet, Ernesto habe bei den Bemerkungen des Puertoricaners unverschämt gegrinst.

Ernesto leugnet hartnäckig auch das Grinsen. - Eine Farce! Er wird freigelassen. Aber bis zu seinem Abflug wird er den Eindruck nicht los, beschattet zu werden.

Im März 1953 promoviert Ernesto in Buenos Aires mit einer Arbeit über Allergien zum Doktor der Medizin. In weniger als einem Jahr hat er die zehn oder zwölf Zwischenprüfungen, die dem Examen in Argentinien vorausgehen, hinter sich gebracht.

Die Promotion ist nur ein Zwischenspiel. Die große Vagabondage geht weiter. Noch ist das ein begabter junger Mann mit vielen Möglichkeiten, der das, was er wirklich sucht, was ihm vor allem wichtig ist, noch nicht gefunden hat und der entschlossen ist, sich alles offen zu halten.

Er bricht auf nach Venezuela, um dort den Freund Alberto Granados zu treffen. Er will sich um eine Anstellung im Leprakrankenhaus Cabo Blanco bewerben, wo auch Granados arbeitet. Noch immer gilt das Lebensziel, als Arzt Helfer der Armen zu werden.

Mit ein paar Kameraden reist er mit einem Bummelzug, der Milchkannen befördert, von Buenos Aires nach La Paz in Bolivien. Eine Reise über 6.000 Meilen, und der Zug hält auf jedem Dorf.

Bolivien ist das ärmste Land in Südamerika. Seine Hochflächen gehören zu den unfruchtbarsten Ackerbaugebieten der Welt. Die Bevölkerung, zum größten Teil Indios, lebt in unvorstellbarer Armut. Von dem primitiven Ackerbau und der Lamazucht können sich die Menschen kaum ernähren. Bolivien ist aber auch ein sehr reiches Land. In seinen Bergen finden sich wertvolle Bodenschätze. In Bolivien werden 15% der Weltproduktion an Zinn gefördert. Silber, Blei, Zink, Kupfer - und am Ostrand der Anden auch Erdöl - werden abgebaut.

Trotzdem nehmen die Auslandsschulden des bolivianischen Staates jährlich um (umgerechnet) circa 40 Millionen Euro zu.

 

Wie ist das möglich?

Zinn und die anderen Mineralien sind auf dem Weltmarkt gefragt. Das Roherz wird nach England, Deutschland und in die USA exportiert. In diesen Ländern werden die Preise bestimmt. Die ausländischen Abnehmer betreiben ihre Preispolitik, ohne Rücksicht auf den Lebensstandard der Minenarbeiter, allein unter dem Gesichtspunkt, für sich selbst einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen.

Bei der Stadt Potosi in Bolivien liegt ein Silberberg. Vom 16. bis 18. Jahrhundert herrschten die Spanier in Bolivien. Der Silberreichtum hatte sie dazu bewegt, sich das Land zu vereinnahmen. Für die Gier der Eroberer nach Reichtum und Prunk starben 8 Millionen Indios in den Bergwerken von Potosi, während im Moneda-Gebäude derselben Stadt 3 Milliarden Silbermünzen geprägt wurden, die nach Europa gingen.

Das war früher. Das war in den Zeiten des Kolonialismus. Noch heute kann man am Portal des Gebäudes der alten Prägeanstalt den Wahlspruch der Ausbeuter von damals entziffern. Er lautet: »Wir sind gekommen, um Gott zu dienen und reich zu werden.« Das klingt barbarisch. Aber nur vordergründig hat sich seither etwas geändert.

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird in Potosi Zinn abgebaut. Die Indios nennen das Grubenloch, das auf 4800 Meter Höhe in den Berg führt, den »Eingang zur Hölle«. Bei Temperaturen von 40 Grad ist die Arbeit mörderisch. Über die Hälfte der Bergbauarbeiter ist lungenkrank. Die Löhne sind unerhört niedrig. Trotz schlechter Ernährung und Krankheit müssen diese Männer Schwerstarbeit leisten. Sie betäuben ihren Hunger und ihre Schmerzen, indem sie Cocablätter kauen. Das Aufputschmittel, ständig genossen, führt seinerseits zu schweren Gesundheitsschäden.

In La Paz, dieser verrückten Stadt in einer Riesenmuschel unter dem Dach der Welt, bricht Ernesto die Reise zu dem Jugendfreund zunächst ab. Hier kreuzt ein Mann seinen Weg, der sein Umherstreifen auf ein ganz anderes Ziel hin lenkt: Ricardo Rojo ist ein junger Rechtsanwalt aus Buenos Aires, der auf spektakuläre Weise aus den Gefängnissen des Perón-Regimes entflohen ist, zunächst in der Gesandtschaft von Guatemala in Buenos Aires Asyl gefunden hat, um dann über Chile nach Bolivien zu entkommen.

In Bolivien ist vor kurzem eine Partei an die Macht gekommen, die wenigstens für einige Jahre die nationalen Interessen und die Forderungen der Bergarbeiter aus den Zinnminen mit einigem Nachdruck zu vertreten versucht - das Movimiento Nationalista Revolutionaria, abgekürzt MNR. Es siegt bei der Wahl im Mai 1951. Aber die Rechte ermuntert die Armee, mit einem unblutigen Staatsstreich die Macht im Land zu übernehmen. Daraufhin kommt es zum Aufstand gegen das Militär. Anfang April 1952 erheben sich die Fabrik- und Eisenbahnarbeiter, die Studenten, Professoren, die Bergleute aus Milluni, die Bauern, die mit der Mittelklasse-Gruppe der MNR verbunden sind, und die Nationalgarde. In Oruro zwingen Bergarbeiter die wohlausgerüsteten Regimenter des Heeres mit Dynamitladungen zur Kapitulation.

Die revolutionäre MNR-Regierung verdankt also ihre Macht den Stimmzetteln und den Blutopfern des Volkes. Am 31. Oktober 1952 lässt sie die Zinnminen in Oruro und Catavi verstaatlichen. Am 2. August 1952 verkündet sie das Gesetz über die Bodenreform. Die großen Landgüter werden in kleine Parzellen aufgeteilt. Für zwei Millionen Indios, die bis dahin praktisch in Sklaverei gelebt haben, beginnt die Hoffnung auf ein einigermaßen menschenwürdiges Dasein. Die Arbeiter können über die Verwaltung der verstaatlichten Betriebe mitbestimmen. Das Recht auf Gewerkschaftsbildung wird durch Gesetz festgelegt, einige recht fortschrittliche Schulgesetze werden verabschiedet. Freilich tut die Machtelite von Anfang an alles, um diese sozialistische Entwicklung zu hintertreiben und die eingeleiteten Reformen wieder rückgängig zu machen. Auch treten bald Schwierigkeiten auf, weil die sozialistische Regierung vom Ausland isoliert wird.

Am Ende stand wieder eine de facto Militärdiktatur, mit einem in den USA ausgebildeten Fliegergeneral an der Spitze.

Wie häufig in den südamerikanischen Staaten spielen bei diesen politischen Veränderungen die USA offen und auch hinter den Kulissen eine manipulierende Rolle.

Am 26. Oktober 1955 billigt eine Regierung der MNR-Politiker bei einer wirtschaftlich angespannten Lage, die als Ausrede für diesen »Ausverkauf« angeführt werden kann, den »Petroleum Code« - auch »Davenport Gesetz« genannt, weil seine Artikel nicht vom bolivianischen Parlament, sondern in den Büros eines amerikanischen Rechtsanwalts namens Davenport festgelegt worden sind. Gestützt auf dieses Gesetzeswerk kam eine große Anzahl amerikanischer Erdölgesellschaften ins Land, unter ihnen die mächtige Bolivian Gulf Oil Company, die noch jahrelang generöse Dividenden auf Kosten des bolivianischen Volkes ausschütten konnte.

Aber damit ist der Entwicklung vorgegriffen worden. Im Sommer 1953 herrscht in La Paz noch Fiesta-Stimmung über den Sieg der Revolution.


... etwas von einer Sonnenstadt

Ernesto und die Gruppe seiner Freunde sind von dem revolutionären Bewusstsein, das sie in Bolivien im Sommer 1953 vorfinden, zunächst begeistert. Hier ist eine Hoffnung, dass ein Modell entwickelt werden könnte, welches auch in den Nachbarstaaten Schule macht. Bald aber müssen sie feststellen, dass die neuen Führer im Land, trotz Verstaatlichung der Bergwerke und Verteilung des Großgrundbesitzes, die alten Vorstellungen bürgerlichen Klassenbewusstseins an den Tag legen.

Die Gruppe argentinischer Emigranten in La Paz, in der Ernesto verkehrt, setzt sich meist aus Studenten und Intellektuellen zusammen, die in Argentinien das Regime Perón bekämpft haben. Mentor der argentinischen Kolonie ist der Exilpolitiker Isais Noueges, der, dank seiner Einnahmen aus seinen großen Zuckerplantagen in Argentinien, auch in La Paz ein feudales Leben führt. In der Villa von Nougues lernt Guevara Rojo kennen. Das Haus in Calacete liegt in dem Viertel, in dem auch die neuen politischen Führer des Landes wohnen. Guevara und Rojo, beides arme Teufel, nutzen die Einladung, um sich an dem argentinischen Nationalgericht Locro, einem Eintopf aus Mais und Fleisch, einmal richtig satt zu essen und den politischen Diskussionen als Zaungäste beizuwohnen. Ernesto macht auf Rojo zunächst keinen besonders starken Eindruck.

Die politischen Ansichten des jungen Rechtsanwalts sind zu diesem Zeitpunkt weit schärfer ausgeprägt als die seines neuen Freundes, der wenig spricht und ein guter Zuhörer ist.

Spät in der Nacht laufen Guevara und Rojo, die sich kein Taxi leisten können, zu Fuß ins Stadtzentrum von La Paz zurück.

Ernesto erzählt von seinen Reisen mit Granados und von seiner Absicht, die Leprakolonie in Venezuela zu besuchen. Er entwickelt auch einen ziemlich verwegen klingenden Plan über eine Reise zu den Oster-Inseln im Pazifik, auf denen eine andere Leprakolonie liegt. Es ist offensichtlich, dass er nicht recht weiß, was er mit sich anfangen soll. Obwohl er wortreich über das Elend klagt, das er überall auf seinen Reisen durch Südamerika zu Gesicht bekommen hat, scheint sich für ihn noch kein Angriffsziel für seinen Zorn und seine Empörung gefunden zu haben.

In der Innenstadt von La Paz teilt Ernesto ein spartanisches Quartier mit einem argentinischen Studenten, Calica Ferrer. Das Zimmer ist leer, ohne Möbel. Ernesto besitzt einen einzigen Anzug und isst unregelmäßig. Wenn Noueges eines seiner üppigen Dinner gibt, stopft er sich mit Essen voll und lebt dann in den nächsten Tagen von ein paar Krümeln.

Er kann es aber nicht unterlassen, seinem feudalen Gastgeber ab und an spitze Fragen zu stellen: »Ach, erzählen Sie uns doch noch etwas von Ihren herrlichen Zuckerrohrplantagen!«

Als Guevara eines Tages das Landwirtschaftsministerium besucht, beobachtet er, wie die Indianer, die gekommen sind, um ihr Stück Land einzumahnen, und geduldig auf den Fluren vor den Kanzleien warten, mit einem weißen Pulver besprüht werden.

Ein Beamter erklärt, es sei unmöglich, diesen Indios Sauberkeit beizubringen, sie trügen Ungeziefer ins Haus und verbreiteten Krankheiten. Höhnisch sagt Ernesto: »Ah ja ... die MNR macht ihre Revolution mit DDT!«

Von seinem Zimmer in der Calle Yanacoche unternimmt Guevara regelmäßig Streifzüge durch die Hauptstraßen der Stadt und taucht gelegentlich auch in der Bar des Sucre-Palace-Hotels auf. Unter den Intellektuellen ist viel von Revolution die Rede: Die Revolution wird zerredet, während die Reaktion wieder die Weichen stellt.

Von La Paz aus unternimmt er zwei Reisen in die Provinz. Die eine, in Begleitung des deutschen Fotografen Gustav Thörlichen, zu den Ruinen der Inkastadt Tiahuanaco; die andere, zusammen mit Rojo, zu den Zinnminen Siglo XX und Catavi in der Gegend von Oruro. Hier arbeiten 30.000 Menschen. Er will diese Männer sehen, die mit Dynamitladungen gegen Maschinengewehrnester der Armee vorgegangen sind.

Die Unterkünfte der Bergarbeiter sind Wellblechbaracken mit gestampftem Lehmboden. 20 Menschen hausen in einem Raum. Der Stundenlohn der Bergleute liegt umgerechnet bei 10 bis 15 Cent. Das reicht gerade hin, um sich Tag für Tag etwas Indianerhirse, ein minderwertiges Nahrungsmittel, und einige Cocablätter zu kaufen. In den großen Familien arbeiten oft schon die Kinder im Bergwerk mit.

Guevara weiß, die schlechten Arbeitsbedingungen und das Elend sind kein unabwendbares Schicksal; denn nicht das Schicksal, sondern Menschen sind dafür verantwortlich. Er denkt radikaler als die Funktionäre des neuen Regimes.

Der neue Bergbauminister Juan Lechin hat erklärt, - Spruchband: Die bolivianische Revolution ist tiefgreifender als die Revolution von Guatemala und China. - Großsprecherei! Das wird erst wahr sein, wenn hier nicht mehr die meisten Indios mit dreißig Jahren an TB verrecken, wenn nicht mehr jedes zweite Kind im ersten Lebensjahr stirbt. Bis dahin ist noch viel zu tun.

Ernesto empört sich, als er hört, dass die MNR-Regierung angeboten hat, den Zinnbaronen eine Entschädigung für ihren enteigneten Besitz zu zahlen. »... die haben sich doch lange genug gesund gestoßen«, mault er und sagt voraus, dass eine Abfindung der erste Schritt zur Restauration der alten Zustände sein werde.

Noch immer spricht er davon, nach Caracas zu gehen und in Venezuela als Arzt in einem Leprakrankenhaus zu arbeiten.

Rojo aber ist entschlossen, nach Guatemala zu fahren. Dort werde die radikale Revolution gemacht, behauptet er. Die wahre, die echte, die wirkliche, die entschiedene, die große Revolution! Ein seltener exotischer Schmetterling, dem diese Jugend durch einen ganzen Kontinent nachjagt.

Zunächst einmal fahren sie mit dem Bus nach Peru. Dabei ereignet sich ein Vorfall, der bezeichnend ist für Guevaras überschwängliches Verlangen nach Brüderlichkeit. Als er und einige seiner Kameraden die Tickets für den Lastwagen kaufen, der Indianer und deren Waren von und nach La Paz transportiert, fragt der Mann am Schalter wie üblich: »Wollen Sie Panagra fahren?«

Panagra ist die Abkürzung für Pair American Grace Airways, ein ironischer Slangausdruck für die etwas bequemeren und deswegen teureren Platze im Führerhaus, die gewöhnlich von den wenigen weißen Fahrgästen eingenommen werden.

»Panagra?« fragt Ernesto. »Wir wollen mit einem Lastwagen nach Copacabana.«

»Schon recht«, antwortet der Mann, »aber doch Panagra-Klasse, nicht wahr?«

Doch Ernesto besteht darauf, hinten unter den Indios zu sitzen, die diese Geste gar nicht zu schätzen wissen und ihn als einen feindlichen Eindringling behandeln. Vergeblich bleibt jegliches Bemühen, diesen forschenden metallischen Augen auch nur ein Zeichen von Sympathie zu entlocken. Ab und zu öffnet einer der Indios den Mund, und ein Pestilenzhauch von zerkautem Coca weht vorbei.

Als der Lastwagen die Grenze von Peru erreicht, ist die Polizei misstrauisch, weil Ernesto unter den Indianern sitzt. Auch findet sich im Gepäck der weißen Argentinier hauptsächlich bolivianische Propagandaliteratur. Die Grenzwachen argwöhnen, die jungen Männer hätten unterwegs den Indios mit Berichten von der Agrarreform im Nachbarland die Köpfe verdreht.

Am 11. September, in dem Dorf Yunguyo, jenseits der Grenze, werden Guevara und seine Freunde sehr direkt gefragt: »Seid ihr Agitatoren?« »Das wäre schwierig«, antwortet Ernesto, »wir sprechen nämlich nicht ein einziges Wort Aymará oder Quechua.«

Schließlich erhalten sie doch Geleitbriefe und fahren weiter bis Juliaca, um von dort nach Cuzco zu gelangen.

 

Guevara zieht es wieder nach Machu Picchu.

Diese Terrasse unter dem Steinturm und dem Himmel, hoch über der Schlucht, umgeistert von Dschungelfingern, hat für ihn etwas von einer Sonnenstadt. Es ist, als ließe sich da entdecken, wie die alte Integrität dieses Kontinents ausgesehen hat, auf welchen Prinzipien sie beruhte. Solchen Trost durch Erkenntnis hätte er nötig, angesichts des Ekels, der sich runter die Haut frisst wie ein tropischer Pilz.

Rojo und er verfehlen sich in Lima, treffen sich dann aber zufällig in dem Dorf Tumba, nahe der Grenze von Ecuador wieder.

Am 26. September 1953 reisen die beiden jungen Männer nach Ecuador ein. An der peruanischen Grenze weht der Wind der indianischen Rebellion. In Peru regiert rücksichtslos ein General, Manuel Odria. Um an die Macht zu kommen, war ihm jedes Mittel recht gewesen. Bei dem Massaker in der Stadt Arequipa ist das Blut von Hunderten von Menschen geflossen.

In Lima sitzt der Führer der APRA, Victor Raul Haya de la Torres, Kopf der Opposition, seit vier Jahren im Asyl in der kolumbianischen Botschaft. Durch die Straßen patrouillieren Scharen von Polizisten. Gegen politische Demonstrationen lässt der General Panzer auffahren.

Die architektonische Fassade der Hauptstadt - die Kathedrale des Torre Tagle Palastes und die Universität von San Marcos - symbolisiert die einst von Spanien nach Amerika übertragene Herrschaft und Zivilisation Spaniens. Aber Lima scheint völlig isoliert vom Rest des Landes, in dem neun Millionen Menschen leben, von denen die Hälfte direkt von der indianischen Urbevölkerung abstammt.

Eine Million Landarbeiter schuftet auf den Gütern der Großgrundbesitzer, schindet sich, wird geschunden, damit eine aristokratische Minderheit, die mit den Bankiers, den Importeuren und den Kapital investierenden Ausländern verbündet ist, ihren feudal-luxuriösen Lebensstil weiter aufrecht erhalten kann.

Kriegsstimmung an der Grenze zwischen Peru und Ecuador. Beide Länder führen sich gegenseitig ihre letzten Neuheiten an Kriegsausrüstungen vor. Gestritten wird um ein paar Zipfel Land im Irgendwo. Das heizt die Nationalleidenschaft an, schürt Hass, lenkt von den wahren Problemen ab, hilft, die Anschaffung von Waffen, die Vergrößerung der Armee zu rechtfertigen.

Im Autobus über den Küstenweg, durch die von Nordwinden ausgedörrte und leergefegte Wüste.

Südamerika ist arm, ist elend.

Südamerika ist reich, könnte reich sein.

Überall, wohin man hier blickt, quillt unaufhörlich Erdöl aus dem Boden hervor.

Sie kommen nach Guayaquil. Der Ort liegt am Rio Guayas, 64 Kilometer von der Mündung des Flusses in den Ozean entfernt, kaum einen Meter über dem Meeresspiegel. Eine Stadt, die vom Dschungelgebüsch langsam aufgefressen wird. Das Wasser staut sich. Ein Brutherd, Nährboden für die furchtbarsten Tropenkrankheiten: Sumpffieber, Wurmseuchen, Gelbfieber.

40.000 Menschen leben in halbverfaulten, von den Termiten zernagten Holzhäusern. Jeden Augenblick kann das riesige Holzdorf niederbrennen. Es ist Trockenzeit. Ständig bimmelt ein lächerliches Feuerwehrfahrzeug durch die Gassen.

Zu Rojo und Guevara stoßen drei weitere Argentinier, Studenten: Oscar Valdovinos, Gualo Garcia und Andro Herrero. Sie haben in der Zeitung gelesen, dass sich zwei argentinische Emigranten in der Stadt aufhalten. Man trifft sich in der Universität, stellt fest, dass die Finanzlage bei allen gleichermaßen miserabel aussieht. Man bleibt zusammen, mietet sich ein Holzhaus nahe am Hafen.

In dem Zimmer gibt es nur zwei Matratzen. Wer abends zuerst heimkommt, darf sie benutzen. Die anderen hüllen sich in ein Bettuch und legen sich auf den nackten Boden.

Manchmal schrickt einer durch das Rascheln einer Ratte oder das Geräusch von Ungeziefer, das von der Decke herabfällt, aus dem Schlaf hoch. Am Morgen, wenn die Hitze noch einigermaßen erträglich ist, schlendern die jungen Männer hinunter zum Fluss, sehen zu, wie die großen Bananenfrachter beladen werden, beobachten das Hin und Her der Fähren und Schlepper und das Eintreffen der aus dem Norden herabtreibenden Flöße.

Südamerika könnte reich sein!

In den Straßen drängeln sich zerlumpte, ausgemergelte Menschen, stunden-, tagelang in Apathie versunken, dann plötzlich zu einem Ausbruch der Leidenschaften hingerissen, der vergeht, verdampft wie der Regen unter der Mittagssonne.

»Ihre Energie«, so schreibt Rojo, »diente nur dazu, die kreolischen Demagogen emporzuheben, die sie dann, im Besitz der Macht, verrieten.« Manchmal in den Nächten, wenn Ernesto, von Laken umflattert, auf den morschen Dielen ausgestreckt daliegt und nicht einschlafen kann, fragt er sich, worauf all dieses herumreisen hinaus läuft.

Er spürt einen Anspruch hinter all den Bildern, Fakten und politischen Ereignissen, die er mit angesehen hat. Rückständigkeit, Machtgier, Ausbeutung, Gewalt, Revolutionen, gewiss. Hier eine Revolution, dort eine Revolte. Eigentlich sind es immer nur Putschs; Schläge, die ausgeteilt werden, um sich den Weg zur Macht frei zu boxen, und wenn einer die Macht an sich gebracht hat, bereichert er sich genauso rücksichtslos wie sein Vorgänger.

Wie hat er zu Rojo gesagt, als sie Haya de la Torre in seinem diplomatischen Asyl in Lima besuchten und durch die umliegenden Straßen ständig Lastwagen voller Soldaten und Panzer patrouillierten? Er sagte: »Warum fürchten sie ihn so? Er ist doch wie all die anderen...«

Etwas ändern könnte nur jemand, der nicht wäre wie die anderen.

Tagsüber wird Ernesto immer schweigsamer. Immer häufiger fühlt er sich von dem Gefühl heimgesucht, nicht mehr viel Zeit zu haben, Zeit zu verschwenden, etwas tun zu müssen.

Reale Dinge nehmen für eine Weile sein Interesse vollständig in Anspruch. Die Finanzlage der Freunde ist prekär geworden. Wenn sie Weiterreisen wollen (wohin auch immer!), müssen sie die wenigen Kleider, die sie noch besitzen, verkaufen. In armen Ländern verkauft man Kleider auf der Straße. Aber in Guayaquil können sie ihre Kleidungsstücke nicht loswerden, denn es sind Kleider für ein kühles Klima. Darum fährt einer der Freunde in die 2800 Meter hoch gelegene Hauptstadt Quito, um dort die abgetragenen Anzüge und, als Luxusstück von Rojo, einen in La Paz erstandenen Mantel aus Vigogne-Wolle zu verhökern.

Guevara gibt dem Reisenden alles mit, was er entbehren kann. Er behält lediglich ein Hemd, eine Hose und eine Sportjacke mit ausgebeulten Taschen, in denen er seine gesamte Habe, die nur aus einem Asthmaapparat und ein paar Bananen besteht, unterbringen kann.

Bei dem kolumbianischen Botschafter werden sie wegen eines Touristenvisum nach Bogotá vorstellig.

Aber in Kolumbien herrschen Unruhen. Ein General Pinilla hat das ultrakonservative Regime des Laureano Gómez gestürzt. In einer Talschaft haben angeblich 25.000 Bauernguerilleros eine Armee-Einheit eingeschlossen. Kapitulationsverhandlungen sind im Gange. Die Bauern verlangen, dass die Offiziere die schon vollzogene Besitznahme von Grundstücken anerkennen.

Der Botschafter meint, es nicht verantworten zu können, Fremde durch ein Gebiet ziehen zu lassen, in dem praktisch Kriegszustand herrscht. Der Plan einer Reise durch Kolumbien wird fallengelassen.

Rojo besinnt sich auf ein Empfehlungsschreiben, das ihm der chilenische Sozialistenführer Salvador Allende an einen sozialistischen Rechtsanwalt in Guayani mitgegeben hat.

Rojo und Guevara suchen den Mann auf. Er zeigt sich durchaus zu sozialistischer Solidarität gesonnen, als er die beiden abgerissenen Gestalten in seinem Büro vor sich sieht, ist aber dann doch etwas bestürzt, als er hört, dass er Mitfahrgelegenheiten für sechs Personen beschaffen soll.

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