Seewölfe - Piraten der Weltmeere 459

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 459
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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-867-6

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Fred McMason

Geisterschiffe

Sie tauchten wie Schemen auf – und dann feuerten sie

In der Nacht vom 10. auf den 11. April 1595 ging es hoch her auf Tortuga, denn gewaltige Zecher vor dem Herrn waren in Diegos „Schildkröte“ aufgekreuzt und schwenkten die Humpen. Hasards Mannen feierten ihre Rückkehr vom Potosi-Unternehmen und das Zusammentreffen mit Old O’Flynn, dem Wikinger und seiner Crew. Ja, es wurde ein rauschendes Fest, und keiner von ihnen ahnte, was sich in dieser Nacht über hundert Meilen nordnordöstlich von Tortuga oben bei den Caicos-Inseln abspielte. Das begriffen sie erst, als sie am nächsten Tag zur Schlangen-Insel aufbrachen – und sie nicht mehr fanden. Eine furchtbare Katastrophe hatte die Insel ausgelöscht, und auch Coral Island war in der See versunken. Arkana und ihr Stamm und die Timucuas existierten nicht mehr …

Die Hauptpersonen des Romans:

Philip Hasard Killigrew – rüttelt die Männer auf, an die Zukunft zu denken.

Arne von Manteuffel – schickt aus Havanna eine Brieftaubennachricht.

Der Stör – hat die Mitternachtswache und sieht allerlei Spukgestalten.

Thorfin Njal – wird schwer von der Eifersucht geplagt, obwohl er keinen Grund dazu hat.

Don Julio Pinora – der Generalkapitän sucht vergeblich nach der Schlangen-Insel.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

12. April 1595.

Bedrückt und traurig war die Stimmung der Männer, die sich jetzt an Bord des Zweideckers „Caribian Queen“ befanden.

Das ungeheuerliche Geschehen hatte sie vorübergehend stumm werden lassen. Einige unter ihnen sprachen kaum ein Wort, sie starrten nur düster vor sich hin.

Fünf Schiffe waren es, die im Verband Bord an Bord vor Treibanker lagen – die „Isabella“, der Zweidecker, Thorfin Njals „Eiliger Drache über den Wassern“, die „Golden Hen“ und schließlich die „Empress of Sea II.“, die kleine Karavelle Old Donegal Daniel O’Flynns.

Sie lagen an jener Stelle, wo sich die Schlangen-Insel befunden hatte.

Doch diese einstmals als Paradies empfundene Insel existierte nicht mehr. Ein gewaltiger unterseeischer Vulkanausbruch hatte die herrliche Insel buchstäblich zerblasen. Infolge des Seebebens und einer riesigen Flutwelle war auch Coral Island einschließlich der dort lebenden Timucua-Indianer in den Fluten versunken.

Nur die Erinnerung blieb, und der hingen die Männer jetzt nach, während sie vor Treibanker lagen und auf die Rückkehr der „Wappen von Kolberg“ und der Galeone „Pommern“ warteten.

Nach dem unerwarteten Schicksalsschlag hatten die Männer vom Bund der Korsaren beschlossen, nordwestwärts zu segeln. Dort, irgendwo auf einer der Bahama-Inseln, wollte man nach einem neuen Stützpunkt suchen. Dieses Ziel hatte Hasard bereits gesetzt.

Aber so richtig purrte das die Männer noch nicht hoch. Sie verkrafteten den ungeheuren Verlust nicht so schnell. Der Schlag hatte sie überraschend und sehr hart getroffen.

Es gab keine Schlangen-Krieger und -Kriegerinnen mehr, es gab auch keine Timucua-Indianer auf Coral Island mehr. Ausnahmslos alle waren durch den fürchterlichen Ausbruch ums Leben gekommen. Lediglich in der See hatten sie die Leiche eines Schlangen-Kriegers gefunden, ein paar Wrackteile und eine Rußschicht, die auf dem Wasser trieb – letzte Überreste der Schlangen-Insel. Und eine Kiste, auf der drei verängstigte Brieftauben hockten, die von Möwen attackiert worden waren.

Arkana war ihrer Tochter Araua gefolgt, dachte Hasard wie betäubt, und sie hatte das Unglück vorausgesehen. Schon früher hatte Arkana gesagt, daß der „glühende Riese“ tief unter der Insel eines Tages ausbrechen würde.

Die Prophezeiung des Schlangengottes hatte sich auf grausame Art und Weise erfüllt.

Das war die eine traurige Bilanz. Die Menschen waren tot, auch jene Frauen, die bereits zarte Bande zu den Seewölfen geknüpft hatten.

Außerdem hatte der Bund der Korsaren seine unvorstellbar gewaltige Schatzbeute, die unterirdisch auf der Schlangen-Insel gelagert gewesen war, mit einem Schlag verloren. Dieser ungeheure Reichtum hatte sich buchstäblich in Nichts aufgelöst.

„Gehen wir wieder zur ‚Isabella‘ hinüber“, sagte Hasard. „Dort werden wir weiter überlegen und Zukunftspläne schmieden. Wir haben ja bereits besprochen, daß Jean die ‚Golden Hen‘ übernimmt und Jerry Reeves sich mit seiner Mannschaft auf die anderen Schiffe verteilt.“

Die Arwenacks hatten ihr Schiff wieder übernommen, sozusagen das letzte Stückchen Vertrautheit, das sie noch besaßen. Dennoch blieb die Stimmung mehr als gedrückt.

Hasard spürte diese Niedergeschlagenheit überdeutlich, deshalb hatte er auch die anderen auf die „Isabella“ eingeladen. Fast greifbar fühlte er, daß die allgemeine Stimmung einem gefährlichen Nullpunkt zustrebte. Diese tiefe Niedergeschlagenheit muß behoben werden, überlegte er, sonst geraten sie nur noch mehr ins Grübeln. Notfalls mußte das mit ein paar Fässern Rum geschehen. Er nahm sich vor, Old Donegal daraufhin anzusprechen, denn er hatte ja bei Diego auf Tortuga gerade Nachschub für seine Pinte besorgt. Allerdings existierte Old O’Flynns „Rutsche“ auch nicht mehr.

Der Verlust seiner Kneipe oben auf den Felsen ging dem Alten ebenfalls schwer an die Nieren, das sah Hasard schon an seinem Gesicht, wenn Old Donegal grämlich und niedergeschlagen über das Wasser blickte und dabei leise seufzte.

Stenmark, Pete Ballie, der Profos, Smoky und Sam Roskill lehnten am Schanzkleid. Die anderen hatten sich auf der Kuhl versammelt, hockten auf den Grätings oder nahmen ganz einfach an Deck Platz.

Jerry Reeves lehnte am Mast und mußte immer wieder seine Erlebnisse erzählen, denn er und seine Männer hatten den Untergang der Schlangen-Insel und Coral Island fast hautnah erlebt. Er hatte es schon x-mal erzählt, doch sie fragten ihn immer wieder nach weiteren Einzelheiten und Details.

„Ja, es war kurz vor Mitternacht“, sagte er mit dumpfer Stimme. „Wir befanden uns mit der ‚Isabella‘ ein paar Meilen nördlich von Coral Island. Da hat es erstmals leicht gerumpelt. Dann, nur etwas später, haben die Ausgucks eine gewaltige Flammensäule aus Richtung der Schlangen-Insel aufblühen sehen. Der Feuersäule folgte ein brüllendes Seebeben, so gewaltig, wie ich es noch nie erlebt habe. Der Himmel war blutrot erleuchtet, das Donnern nahm kein Ende, und über das Wasser fegten Druckwellen.“

„Und dann kam die Flutwelle?“ fragte Smoky. Er hatte diese Frage schon ein paarmal gestellt und wiederholte sie jetzt.

„Etwa zehn Minuten später“, sagte Jerry schluckend. Auch ihn wühlte das Erlebnis wieder auf. „Ich weiß nicht mehr warum, aber wohl rein instinktiv habe ich die ‚Isabella‘ hart an den Wind auf Nordkurs gelegt, und dann begann die Hölle. Es ist kaum zu beschreiben, als unser Tanz auf dieser Welle anfing. Es war ein Höllenritt, und niemand rechnete damit, daß wir das überleben würden. Dann folgten kleinere Flutwellen, das Meer hat gekocht, und ständig war dieses Donnern und Rumpeln zu hören. Das ging gut zwei Stunden lang, bis sich die See wieder beruhigte.“

„Dann seid ihr nach Coral Island zurückgesegelt“, sagte der Profos mit düster verzogenem Gesicht.

„Ja – und es gab Coral Island nicht mehr. Die Insel war in der See versunken, wir fanden nur ein paar Trümmer vor. Überlebt hat es niemand von den Indianern.“

Der Profos und die anderen hörten kopfschüttelnd zu und wollten es immer noch nicht wahrhaben. Er sah Jerry Reeves an, als zweifele er an dessen Navigationskünsten, doch dann senkte er den Kopf und dachte an Dan O’Flynn, den man anfangs auch ausgelacht hatte, als er die Schlangen-Insel nicht mehr fand.

Nein, das ist alles bloßes Wunschdenken, dachte der Profos bedrückt. Es gab die beiden Inseln nicht mehr. Zumindest die Schlangen-Insel hatte auf einem unterseeischen Vulkan gestanden, und Coral Island war durch die Flutwelle versunken. Außer dem einen Schlangen-Krieger hatten sie nach gründlicher Suche noch die Leichen zweier Kriegerinnen in der See treibend gefunden. Sie hatten furchtbare Verbrennungen und Verletzungen, als seien sie in eine Explosion geraten.

Der Profos starrte wieder über das Wasser. Tief unter sich glaubte er, spitze Schroffen zu sehen, Teile der noch aufragenden Felsen, die der furchtbare Ausbruch gespalten hatte. Die Überreste einer autarken Zivilisation befanden sich mindestens zwanzig Yards tief unter Wasser, falls man von Überresten überhaupt sprechen konnte. Auch die beiden Schiffe „Lady Anne“ und „Tortuga“ ruhten irgendwo dort unten auf dem Meeresgrund und waren der Tragödie zum Opfer gefallen.

 

Aus und vorbei, alles hat einmal ein Ende, dachte Carberry wie betäubt. Innerhalb kurzer Zeit hatte sich alles gegen sie gekehrt, und was sie einst besessen hatten, existierte nicht mehr.

Was angreifende Schiffe nicht geschafft hatten – die See hatte alles mit einem gewaltigen Donnerschlag hinweggefegt.

Hesekiel Ramsgate, der alte graubärtige Schiffbaumeister, hatte überlebt, aber nur durch eine Fügung des Schicksals. Er befand sich auf der Fahrt nach Havanna, um unter anderem die Holzeinkäufe zu überprüfen. Zur Vervollständigung der deutschen Crew hatte er noch acht seiner Männer mitgenommen. Die hatten vom Untergang der beiden Inseln noch keine Ahnung. Aber sie würden es ebenfalls bald wissen, denn die Brieftaube Amina war bereits unterwegs, um die furchtbare Nachricht nach Havanna zu übermitteln.

Und noch etwas kam hinzu, das etlichen anderen das Leben gerettet hatte. Bevor die Insel in Rauch und Feuer versank, war Old Donegal in Begleitung des Schwarzen Seglers nach Tortuga ausgelaufen, um dort einzukaufen, und diese Gelegenheit hatten Mary O’Flynn, Gotlinde mit ihren Zwillingen und Gunnhild mit ihrem Söhnchen Klein David genutzt und waren mitgesegelt.

Dem Profos rieselte es jetzt noch kalt über den Rücken. Er war kein Freund von „wäre“ und „hätten“, aber diesmal stand es fest: Wären sie auf der Insel geblieben, dann hätte keiner von ihnen den Untergang überlebt.

„Besaufen sollte man sich“, brummte der Profos leise, „und zwar so, daß es einem aus den Ohren wieder rausläuft.“

„Saufen hilft auch nicht“, erwiderte der Schwede Stenmark, „da wird alles nur noch schlimmer, und manch einer gerät darüber ins Grübeln.“

„Jedenfalls lenkt es von dem ganzen Scheiß ab“, sagte Carberry.

Smoky sah von einem zum anderen und meinte: „Saufen sollte man jetzt nicht, lieber einen trinken. Das bringt andere Gedanken. Wir sollten später darauf anstoßen, daß es wenigstens ein paar Überlebende gegeben hat. Ich mag mir gar nicht vorstellen, daß Gunnhild und David oder die anderen …“

Er unterbrach sich, hustete krächzend und blickte in die Richtung seiner Frau, die Klein David auf dem Arm hielt.

„Die lieben Kinderchen haben es gut“, sagte Matt Davies, „die wissen gar nichts von der ganzen Tragödie. Für sie wird später einmal die Schlangen-Insel nur noch eine Legende sein, um die sich wundersame Geschichten ranken. Ich verstehe nur nicht, daß absolut nichts mehr übriggeblieben ist. Vielleicht liegt ja noch einiges auf dem Meeresgrund.“

„Glaube ich nicht“, widersprach Sten. „Der Vulkanausbruch muß alles zerblasen haben. Wenn er mit einer solchen Gewalt ausgebrochen ist, wie Jerry sagte, dann hat er die Insel mitsamt den Kanonen, Schätzen und den Felsen zerstört. Da ist alles innerhalb kürzester Zeit zerschmolzen und verdampft.“

„Lebensmittel haben wir auch keine mehr“, meinte Sam Roskill bedrückt, „denn wenn es Coral Island nicht mehr gibt, entfällt auch der Nachschub von dort.“

„Das ist noch mehr als beschissen“, sagte Luke Morgan, der ebenfalls wie suchend über das Wasser blickte. Der kleine Luke wurde das Gefühl nicht los, als müsse jeden Augenblick aus dem weit hinten über der See liegenden Dunst die Schlangen-Insel auftauchen. In dem wabernden Dunst glaubte er die Passage mit ihrem gefährlichen Mahlstrom zu erkennen, wo das Wasser über dem Höllenriff brodelte. Aber das war eine Täuschung, denn die Nebelgespinste gaukelten den Männern Trugbilder vor, und so sah jeder das, was er gern sehen wollte.

„Unsere Unterkünfte an Land sind futsch, und von der Kneipe ist nicht mal ein Hauch geblieben. Dabei war in Old Donegals Rutsche doch immer mächtig was los. Unsere enorme Schatzbeute ist ebenfalls futsch, aber das juckt mich nicht weiter. Ich bedaure vor allem die Menschen, die hier hilflos umkamen und keine Möglichkeit zur Flucht mehr hatten.“

Hasard lauschte den Unterhaltungen seiner Männer mit fast ausdruckslosem Gesicht. Einige schienen zu resignieren, andere hingen ihren trübseligen Gedanken nach, und ein paar weitere blickten immer wieder über die See und schüttelten die Köpfe.

„Hesekiels Werft ist auch ein Opfer der See geworden“, sagte er, „alles was es hier jemals gab, ist verschwunden für alle Zeiten. Alles was wir aufgebaut haben, hat der Ausbruch zerstört, ganz zu schweigen von unseren Freunden, die wir verloren haben. Natürlich stehen sie an allererster Stelle, und ihr Leben ist durch nichts zu ersetzen. Alles andere bauen wir wieder auf, an sicherer und besserer Stelle. Wir dürfen jetzt nicht ins Grübeln verfallen, denn das belastet uns noch mehr. Daher schlage ich vor, daß wir an etwas anderes denken und uns ausgiebiger damit befassen, denn jetzt geht es um unsere Zukunft und ums Überleben.“

„Und wie wollen wir uns ablenken?“ fragte Sam Roskill zaghaft.

Hasard setzte seinen Gedanken in die Tat um.

2.

„Wieviel Rum hast du in Tortuga eingekauft, Donegal?“ fragte er. Im zerknitterten Gesicht Old Donegals stand ein herber Schatten.

„Jede Menge“, murmelte er dumpf, „die ‚Empress‘ ist fast voll beladen mit Getränken und Kleinkram.“

„Dann rück mal ein paar Fässer heraus, um die düstere Stimmung zu vertreiben. Wir stellen sie auf die Kuhl und laden alle anderen ein. Mucks soll sich jeder mitbringen.“

„Eine gute Idee, Sir“, sagte Donegal heiser. Dann verschwand er mit dem Kutscher und Mac Pellew, um die Fässer zu holen.

Mac Pellews Leichenbittermiene war noch trauriger als sonst. Sein Gesicht war wie ein Knitterbalg verzogen. Der mimische Ausdruck verkündete vom Weltuntergang, der kurz bevorstand.

Nach und nach fanden sich auch die anderen auf der Kuhl der „Isabella“ ein. Siri-Tong, der Wikinger, Ribault, Reeves, Gunnhild, Gotlinde und Old Donegals Snugglemouse, seine rothaarige Frau mit der Reibeisenstimme.

Carberry und Tucker zapften schweigend die Fässer an, die auf der Kuhl standen. Die ersten Mucks liefen voll.

Mittlerweile war es Abend geworden. Über der See lag leichter Dunst, der Himmel war ebenfalls dunstig. Meer und Himmel gingen als Ganzes nahtlos ineinander über. In der Luft hing immer noch ein kaum spürbarer Brandgeruch.

„Setz euch gemütlich hin“, sagte Hasard, „oder stellt euch hin, wo ihr wollt. Ich habe euch ein paar Worte zu sagen.“

Er blickte zu dem hünenhaften Pater David, der sich ebenfalls Rum abzapfte und ernst und schweigsam war.

Auch Don Juan de Alcazar war sehr schweigsam. Als letztes Mitglied war er kürzlich in den Bund der Korsaren aufgenommen worden, und jetzt hatten sie nicht einmal mehr einen Stützpunkt. Aber auch das würde sich sicher sehr bald wieder ändern, denn diese Männer waren nicht unterzukriegen, dafür sorgte schon der Seewolf.

Hasard hob die Muck und prostete den Männern und Frauen zu.

„Trinken wir auf das, was vor uns liegt“, sagte er.

Sie tranken schweigend, noch sehr vorsichtig. Die meisten nippten nur an dem Rum.

Hasards Blick erfaßte alle, als er die Muck absetzte. Er sah in gespannte und erwartungsvolle Gesichter. Aber in den Augen der Männer stand immer noch der Kummer.

„Jeder von uns muß mit seiner Trauer allein fertig werden“, fuhr er fort, „auch ich habe sehr viel verloren. Andererseits sollten wir ernsthaft darüber nachdenken, welcher glücklichen Fügung wir es zu verdanken haben, daß die furchtbare Katastrophe nicht alles zerstört hat. Wir hätten alle auf der Schlangen-Insel sein können und wären mit ihr untergegangen.“

„Das ist richtig“, murmelte Shane. „Niemand von uns hätte den Ausbruch überlebt.“

„Der Bund der Korsaren hat aber überlebt“, führte Hasard weiter aus. „Siri-Tong mit ihrer Crew ist noch da, Thorfin Njal mit Gotlinde, den Zwillingen Thyra und Thurgil und seiner gesamten Crew. Old Donegal und seine Frau gehören ebenso zu den Überlebenden wie Martin Correa, Gunnhild mit Klein David und Jerry mit seiner Crew. Vergessen wir auch nicht Jean mit seiner Mannschaft, Arne von Manteuffel mit den Männern von der ‚Wappen‘ und der ‚Pommern‘ sowie Hesekiel Ramsgate mit den Leuten von der Werft. Ja, und die Arwenacks sind auch übriggeblieben wie durch ein Wunder. Denkt mal genau darüber nach.“

Die Männer, die dem Seewolf gespannt zuhörten, nickten beifällig.

Ja, sie hatten überlebt, sie hatten noch einmal unwahrscheinliches Glück gehabt, denn außer Araua hatte es niemanden von den Schiffen getroffen.

„Verloren haben wir unsere Freunde, die Krieger, Kriegerinnen und Indianer von Coral Island, aber der Kern des Korsarenbundes ist unzerstört geblieben. Und verloren haben wir einen Stützpunkt und Gold und Silber.“

„Und eine feine Kneipe“, sagte Old O’Flynn heiser.

„Die aber zu ersetzen ist“, erwiderte Hasard lakonisch. „Aber es geht nicht um Kneipen oder Beutegut, es geht darum, daß wir wieder neu anfangen und aufbauen, daß wir vorausblicken und nicht in die Vergangenheit.“

„Aber wo werden wir jemals einen so sicheren Stützpunkt wiederfinden?“ fragte Smoky. „Die Insel war uneinnehmbar.“

„Kein Stützpunkt ist uneinnehmbar“, sagte Hasard. „Es hat noch nie uneinnehmbare Stützpunkte gegeben. Unsere Position der Insel war oft genug gefährdet, und die Lage der Insel war auch längst kein Geheimnis mehr, das wissen wir seit dem letzten spanischen Angriff, den wir nur sehr mühsam abgewehrt haben. Der dicke Gouverneur in Kuba kennt die Position der Insel, aber seit sie versunken ist, wird sie jedermann für eine Sage halten. Wer immer von nun an nach der Schlangen-Insel sucht – wenn ihn die Legenden von den sagenhaften Schätzen anlocken –, er wird sie nicht mehr finden und die Suche nach einem Phantom enttäuscht aufgeben.“

„Das ist völlig richtig, Sir“, sagte Ben Brighton bedächtig. „So gesehen ist die Zwangssituation, einen neuen Stützpunkt zu finden und gründlich auszubauen, sogar als positiv zu betrachten. Wir sind dazu gezwungen und müssen einfach etwas tun.“

„Da ist noch etwas“, sagte Hasard. „Wenn wir zu den Bahamas ausweichen, haben wir nur weitere Vorteile. Die Schlangen-Insel lag unten im südöstlichen Bereich der Bahamas und war für die Brieftaubennachrichten von und nach Havanna weit entfernt. Die Flugstrecke war das Äußerste, was die Tauben leisten konnten. Zweitens waren wir hier mehr als fünfhundert Seemeilen von der Florida-Straße entfernt und somit also fünfhundert Meilen von der eigentlichen Operationsbasis auf die spanischen Geleitzüge, die bekanntlich die Florida-Straße auf dem Weg nach Spanien passieren.“

„Das war einwandfrei ein Nachteil“, gab die Rote Korsarin zu.

Der Wikinger hockte da, hielt eine riesige Muck in seinen Pranken und nickte hin und wieder. Gesagt hatte er noch nichts, er hörte nur schweigend zu, ebenso wie der Stör, der sich überglücklich zeigte, neben der hochverehrten Gotlinde stehen zu dürfen.

Hasard war mit seinen Ausführungen jedoch noch nicht am Ende. Er hob die Muck und trank den lauschenden Männern zu. In deren Gesichtern ging jetzt langsam eine Wandlung vor.

Die Männer zeigten sich interessiert und aufmerksam, und sie schienen auch gar nicht mehr so lustlos oder deprimiert zu sein wie am Anfang. Sie alle wollten neu beginnen, mußten neu beginnen, es blieb ihnen keine andere Wahl, und so konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf den Seewolf.

„Angenommen, wir setzen uns an irgendeiner Stelle der Großen Bahama-Inseln oder der noch nördlicher gelegenen Keys fest oder meinetwegen auf Abaco oder wo auch immer – Plätze gibt es ja in Unmengen da oben –, dann verkürzen wir die Brieftaubennachrichten um eine ganz beträchtliche Zeitspanne.“

„Und unsere Anmarsch- oder Abmarschroute ebenfalls ganz gewaltig“, sagte Dan O’Flynn. „Das ist ein Vorteil, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann.“

„Dan und ich haben das bereits besprochen“, sagte Hasard. „Aber es ist wohl besser, wenn ihr ein paar Bordlampen entzündet, denn es wird gleich dunkel. Dan kann euch dann anhand einer Karte alles noch besser erläutern.“

Jeff Bowie und Bob Grey holten die Lampen, entzündeten sie und hängten sie so auf, daß alle einen guten Überblick hatten. Anheimelnde Atmosphäre breitete sich durch das gelbliche Licht aus.

Der Profos blickte inzwischen zu Old Donegal hinüber und zwinkerte ihm verstohlen zu. Aber Old O’Flynn blickte heute nicht über die Kimm hinaus. Er starrte Carberry nur fragend an und grinste ein bißchen. Auch Eds erneutes Zwinkern fiel auf keinen fruchtbaren Boden. Der Alte merkte einfach nicht, was Ed wollte.

 

Inzwischen holte Dan eine Seekarte und präsentierte sie den Männern.

„Das ist eine echte spanische Roteiro“, sagte er. „Sicher erinnert ihr euch noch an den ehrenwerten spanischen Kapitän Gernegroß, dem wir die Pulvergaleone in die Luft geblasen haben. Er wollte mit den Roteiros klammheimlich von Bord verschwinden, aber dann überließ er sie doch lieber uns, gezwungenermaßen sozusagen. Diese Roteiros sind exakt und sehr genau und von den Dons in mühseliger Arbeit erstellt worden.“

Der Profos nickte grinsend. Auch die anderen entsannen sich noch an Kapitän Gernegroß und seinen mißlungenen Bluff, die Galeone in die Luft jagen zu lassen. Nur war niemand darauf hereingefallen.

Hasard hatte die Roteiros auch ziemlich achtlos eingesteckt, bis Dan O’Flynn sich ausgiebig damit beschäftigt hatte. Jetzt hielt er sehr genaues und ausführliches Kartenmaterial in den Händen.

Er breitete die Karten aus und beschwerte sie. Das Licht der Bordlaternen fiel so auf die Seekarten, daß jeder sie klar erkennen konnte.

Einer der ersten, der sich neugierig darüber beugte, war der dicke Paddy Rogers, der sich mit dem Denken oft sehr schwer tat. Deshalb wollte er möglichst gleich von Anfang an alles mitkriegen und begab sich auf die Jagd nach höherer Erkenntnis.

Aber es gab auch noch zwei andere, die sein Los teilten und mit dem Denken Schwierigkeiten hatten. Außerdem waren sie recht maulfaul, so daß sie der Profos oft als trandösige Bilgenfrösche bezeichnete. Diese beiden waren Dave Trooper und Gordon McLinn, zwei Le Vengeurs aus der Crew Jean Ribaults. Trooper war ein ruhiger blonder Engländer, der kaum auffiel. Gordon McLinn war ein Klotz von einem rothaarigen Schotten mit breitem Gesicht und grüblerischen Blicken. Er dachte ständig über irgend etwas nach, schien jedoch nie zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen.

Er beugte sich über die Karte und schüttelte den Kopf.

„Möchte wissen, wie man sich da zurechtfinden soll“, sagte er schwerfällig, „das sieht doch alles wie Fliegendreck aus.“

„Ja, das finde ich auch“, sagte Dave Trooper. Aber das sagte er natürlich erst zehn Minuten später, als keiner mehr wußte, was er damit eigentlich gemeint hatte.

„Jedenfalls sind da große und kleine Punkte“, meinte Paddy, „und ich kann mir gut vorstellen, daß die großen Punkte große Inseln sind und die kleinen Punkte eben kleine Inseln.“

„Und die länglichen Punkte?“ fragte Gordon.

Eine Viertelstunde später erhielt er von Dave die umwerfende und absolut richtige Antwort, denn er hatte lange darüber nachgedacht.

„Sind längliche Inseln“, sagte er, aber die Worte irritierten jetzt wieder die anderen, weil keiner sie einordnen konnte, denn sie waren längst bei einem anderen Thema.

„Hoffentlich habt ihr trandösigen Bilgenfrösche das bis nächste Woche kapiert“, sagte der Profos seufzend. „Wenn man euren sogenannten Gesprächen zuhört, dann muß man ja steinalt werden.“

Dan O’Flynn versuchte nachhaltig, alles genau zu erklären, damit es auch die drei Gedankentrödler begriffen. Er unterzog sich der Mühe, ihnen das anhand von Entfernungen zu verklaren und zeigte immer wieder auf die winzigen Punkte und jene Stelle, wo sich einstmals die Schlangen-Insel befunden hatte.

„Heilige Seeschlange“, sagte Carberry, „Dan ist vielleicht ein Optimist! Bis die drei Kerle das gefressen haben, sind die Bahama-Inseln längst ebenfalls im Meer versunken.“

„Seht mal hier“, sagte Dan geduldig, ohne daß ihm die Galle überlief, obwohl die Kerle selten dämliche Fragen stellten. „Diese Inseln hier erstrecken sich zwischen der nordamerikanischen Halbinsel Florida und den Westindischen Inseln Kuba und Hispanola über weit mehr als fünfhundert Meilen am Rande des Atlantiks. Hier sind allein fast zweitausend Korallenbänke und Felsklippen eingezeichnet, und es gibt so an die siebenhundert Inseln von unterschiedlicher Größe. Wir waren doch schon ein paarmal in dieser Ecke. Hier bieten sich unzählige Verstecke an, die nie ein Schiff anläuft. Das hier ist die Florida-Straße, durch welche die Dons segeln müssen, und da sind wir fast auf Kernschußweite dran an den Dons.“

„Und wo ist die Schlangen-Insel?“ fragte Paddy.

„Etwa hier“, sagte Dan, auf einen Punkt deutend, der zwischen den Caicos-Inseln lag.

„Aber ich denke, die ist untergegangen“, sagte Gordon McLinn.

„Himmel, Arsch!“ brüllte Dan, dem jetzt doch der Gaul durchging über soviel Begriffsstutzigkeit. „Klar ist sie untergegangen, deshalb suchen wir ja einen neuen Stützpunkt, aber sie ist auf der Karte in etwa als feiner Punkt eingezeichnet.“

„Demnach müßte sie ja noch da sein“, sagte McLinn unerschüttert.

Dan O’Flynn holte tief Luft. Er wußte nicht mehr, was er zu diesem Stuß sagen sollte. Dieser irische Torfkopf war mit seinen vierzig Jahren dümmer als ein dreijähriger Esel.

Gordon McLinn grinste zaghaft zu Dave Trooper, der ebenfalls angestrengt überlegte. Dann sagte er verlegen: „Nett, daß ihr euch so bemüht, Leute, und mich immer wieder ins Gespräch ziehen möchtet. Aber ich war leider nicht in der Schule und kapier das alles nicht. Ich hole mir lieber noch ’ne Muck voll Rum. Wenn ihr mich dann hin und wieder angrinst, langt das völlig, ich muß jetzt nämlich überlegen.“

„Ich auch“, sagte Dave. „Wir sprechen das noch mal genau durch.“

Und dann hockten sie sich etwas abseits auf die Planken, um sich das gegenseitig zu verklaren. Aber auch das dauerte seine Zeit, wie die anderen belustigt feststellten, denn wenn einer von ihnen ein paar Worte sprach, erfolgte die Antwort des anderen immer erst sehr viel später, und dann war sie aus dem Zusammenhang gerissen.

Aber wenigstens Paddy Rogers hatte das meiste begriffen, denn er nickte begeistert. Leider kriegte er infolge angestrengten Nachdenkens immer einen mordsmäßigen Hunger, und so stärkte er sich in der Kombüse mit einem großen Laib Brot, zwei Pfund kalten Schweinebraten, einer Riesenkumme voll Bohnen mit Speck und acht großkalibrigen Schiffszwiebacks, die er mit einer halben Gallone Dünnbier herunterspülte.

Mac Pellew quollen dabei die Augen über, obwohl er die Freßsucht des dicken Paddy kannte, und sie drohten ihm aus den Höhlen zu fallen, als Paddy fröhlich verkündete, sein kleiner Appetit sei nunmehr fast gestillt, und jetzt könne er auch besser denken.

An Deck waren mittlerweile alle von den Ausführungen begeistert. Der Rum tat ein übriges, um zur besseren Laune beizutragen. Man begann jetzt ernsthaft damit, Zukunftspläne zu schmieden.

Hasard nahm erfreut zur Kenntnis, daß die Begeisterung Wellen zu schlagen begann. Dabei fiel ihm gar nicht auf, daß ein Mann absolut nicht begeistert schien, und das war der Profos, der immer wieder zu Old O’Flynn hinüberschielte und ihm zublinkerte.

O’Flynn starrte zurück, als sähe er den Profos zum ersten Male. Er kapierte nicht, was das Blinkern, Blinzeln und Zwinkern in dem narbigen Gesicht zu bedeuten hatte. Verlegen grinsend kratzte er seine Bartstoppeln.

„Mann“, raunte der Profos, „bist du so beknackt, oder stehst du kurz davor in die ewigen Segelgründe abzuentern? Das hält doch kein Stint im Kopf aus.“

„Was denn?“ fragte der Alte verständnislos.

„Ich sehe, daß ihr euch darauf zu freuen beginnt“, sagte Hasard gerade, als Carberry sich äußern wollte. „Darauf sollten wir noch einen Rum trinken.“

Der Profos süffelte an dem Rum und peilte über den Rand der Muck den Wikinger an. Der hatte natürlich seinen verdammten Helm auf, und an dieser „Dunstkiepe“ kratzte er wieder, wie der Profos verärgert feststellte, als wollte er seine nordischen Riesenläuse auf Trab bringen.

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