Seewölfe - Piraten der Weltmeere 193

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 193
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Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-529-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Seit vier Tagen hatte der Südostpassat die „Isabella VIII.“ nun schon hart im Griff, und sie brauste durch das Wasser, als wolle sie jeden Rekord im Segeln brechen.

Sie lief auf Südostkurs platt vor dem Wind, hob und senkte sich wild und benahm sich, als würde dort vorn die Hölle auf sie warten und sie in diese Hölle hineinjagen.

Erst an diesem Abend wurde aus dem Fauchen und Brüllen des Passatwindes ein spürbar leichterer Wind, der die „Isabella“ nicht mehr so hart vor sich herblies.

Mit dem Abflauen des Passats geschah aber noch etwas anderes, und das wurde an Bord zunächst mit Unglauben und etwas später mit leichtem Entsetzen registriert.

Das Meer war so pechschwarz wie der Himmel. Der Mond war hinter schnell dahinjagenden Wolken verschwunden, und im Schlund der Finsternis blinkte nur ein einzelner heller Stern.

Ben Brighton stand am Ruder, neben ihm der Seewolf. Im Hintergrund lehnte Carberrys mächtige Gestalt schweigend am Schott. Das Ruderhaus wurde nur durch eine kleine Öllampe erhellt, die ihr trübes Licht auf das Kompaßgehäuse und die Sanduhr warf.

In zwei Strich Backbord voraus hatte der Ausguck vor einigen Minuten einen hellen Fleck in der See gemeldet, bei dieser absoluten Finsternis normalerweise ein Unding.

Aber es gab diesen leuchtenden, merkwürdigen Fleck, er existierte und ließ sich nicht wegleugnen.

Zum Glück war der alte O’Flynn nicht anwesend, sonst hätten alle längst die gewünschte Erklärung gehabt. Daß dieser helle Fleck nämlich die Schwefellampe des Teufels sei, der sich gerade anschickte den Weg von der Hölle zur Erde zu erklimmen.

Zumindest wäre dieser Fleck für ein paar tote Seelen längst Ertrunkener gut gewesen.

Hier aber betrachteten ihn die Männer nüchterner, denn die lange Erfahrung hatte gelehrt, daß es für fast alles doch eine einleuchtende Erklärung gab.

Philip Hasard Killigrew sah zu dem blinkenden Stern, der wie ein Dämonenauge auf das Wasser blickte, dann sah er wieder ins Wasser, aber die Spiegelung stimmte nicht überein.

„Soll ich einen Strich nach Backbord abfallen?“ fragte Ben. „Wir segeln sonst fast genau darauf zu.“

„Ja, etwas Steuerbord“, erwiderte der Seewolf.

Hinter ihnen räusperte sich der Profos, der bis dahin fast bewegungslos am Schott gelehnt hatte.

„Vielleicht ist das ein kleines Korallenriff“, sagte er, um wenigstens eine Erklärung zu finden.

„Dann würde es schäumen, Ed“, erwiderte Hasard. „Aber man sieht keinen Wasserwirbel. Und das Licht wäre nicht so hell.“

Der Profos schob die mächtige Brust raus und gähnte.

„Von dem lausigen Glotzauge da oben ist es jedenfalls nicht“, stellte er fest. „Das würde nicht mal Donegal glauben, und der glaubt ja fast alles. Ich werde den Ausguck noch mal fragen.“

Er öffnete das Schott und blickte zum Großmars hoch. Aber es war so dunkel, daß er nicht einmal den Mast sah. Vor seiner Donnerstimme kuschte sogar der Wind, als er losbrüllte: „He, Bill, du abgebrochene Seenadel! Was ist das für ein Ding, was, wie? Was siehst du genau?“

Bill, der jüngste Mann an Bord der „Isabella“, lehnte sich weit über die Segeltuchverspannung, obwohl er den Profos nicht sah.

„Es leuchtet im Wasser!“ schrie er zurück. „Mehr läßt sich nicht erkennen. Tut mir leid.“

Ed ging brummig zurück und donnerte das Schott hinter sich zu, als ihn Ben Brightons fragender Blick traf.

„Es leuchtet im Wasser“, sagte er lahm.

Der untersetzte stämmige Ben Brighton grinste.

„Das sind ja umwerfende Neuigkeiten“, sagte er dann. „Es leuchtet also im Wasser. Wie schön!“

„Kann ich das vielleicht ändern?“ murrte der Profos. „Wir werden schon sehen, was das ist, wenn wir näher heran sind.“

Selbst als Hasard es mit dem Spektiv versuchte, löste sich das Rätsel nicht.

„Es ist eine leuchtende Wolke, die durchs Wasser schwebt. Sie verändert sich aber unmerklich, zieht sich zusammen, dehnt sich wieder aus, wird dichter und dann wieder dünner.“

„Am Horizont ist noch eine“, sagte Ed. „Fast auf unserem Kurs. Da soll mich doch gleich der Meermann küssen.“

„Ich glaube, er würde erschrecken, wenn er dich sähe“, sagte Ben grinsend. „Außerdem hat er soviel barbusige Nixen, daß er darauf gern verzichten wird.“

Die Flachserei überdeckte ein wenig das leichte Unbehagen, das sich auszubreiten begann und auch auf den Seewolf übergriff. Für ihn war es aber mehr die Sorge um Männer und Schiff, denn der unerforschte Erdball hatte ständig neue schreckliche und schöne Sachen aufzuweisen, und so manch einer war ahnungslos in eine Falle gelaufen, aus der es kein Entrinnen mehr gab.

Diese unnatürliche Erscheinungsform beängstigte ihn daher auch nicht, sie ließ ihn nur vorsichtiger handeln.

„Noch einen Strich weiter, Ben“, sagte er. „Das Leuchten dehnt sich ebenfalls aus.“

Jetzt schwebte es wie eine Wolke im Wasser und wanderte gemächlich nach Steuerbord, als wolle es den Kurs der „Isabella“ kreuzen. Das Farbenspiel war grünlich, dann wieder mit hellblauen Tönen durchsetzt, die immer milchiger wurden.

Bis die Sanduhr einmal abgelaufen war, würden sie das Zentrum des Leuchtens erreicht haben.

„Purr die Männer hoch, Ed“, sagte der Seewolf. „Ich tue es zwar nicht gern, aber vorsorglich sollen alle auf Stationen gehen. Wir wissen nicht, was sich uns nähert. Außerdem scheint sich immer mehr davon zu entwickeln. Mag sein, daß es eine ganz harmlose Erklärung dafür gibt, das wird sich ja herausstellen.“

Carberry ging ins Logis und sah auf die schlafenden Männer. Einige lagen auch an Deck und schliefen, aber die meisten hatte es doch ins Quartier gezogen.

Auch hier blakte nur eine trübe Lampe, die im Rhythmus des Schiffes am Deckenbalken schaukelte und mal kurze, mal lange tanzende Schatten warf.

Der Profos konnte nichts für seine rauhbautzige Art, und es wäre ihm nie eingefallen, einen Mann sanft zu wecken. Das gehörte sich einfach nicht, sonst hätte der ihn ja nicht hören können oder es für ein Mißverständnis gehalten. Daher weckte er so wie immer und wie er es auch von anderen erwartete.

„Reise, Reise!“ brüllte er mit seiner Donnerstimme auf die Schläfer ein, die verstört zusammenzuckten. „Hoffentlich seid ihr lausigen Kanalratten bald voll aufgebraßt! Übers Wasser läuft der Teufel persönlich mit seiner Schwefellampe. Der Kahn säuft uns unterm Hintern ab, und ihr tranäugigen Miesmuscheln pennt! Wer nicht gleich an Deck ist, dem ziehe ich persönlich die Haut in Streifen von …“

Smoky winkte gähnend ab.

„Affenarsch und so weiter“, sagte er, „ich weiß. Was ist denn passiert?“

„Das werdet ihr an Deck schon merken. Los, hopp auf!“

Die Müdigkeit war schlagartig verflogen. Jeder aus der Crew wußte zwar, daß der Profos mitunter gern übertrieb, aber es mußte schon etwas Besonderes sein, sonst hätte er sie nicht geweckt.

Innerhalb kürzester Zeit waren sie alle an Deck.

Das Leuchten war mittlerweile so hell geworden, daß niemand eine Erklärung brauchte. Der Anblick der Wasserfläche sprach für sich, und so standen sie am Schanzkleid und blickten zuerst wortlos auf das rätselhafte Schauspiel.

Die Wolke im Wasser hatte sich weiter ausgedehnt, war noch intensiver in ihrem Licht geworden und verstrahlte ihre milchige Helligkeit bis weit in die Tiefe.

Noch zweimal wurde auf der „Isabella“ der Kurs geändert, doch inzwischen hatte sich das Licht immer weiter ausgebreitet. An den Rändern war es dünn und flatterig wie ein zerfetzter Vorhang. Im Zentrum dagegen konzentrierte es sich, und es sah tatsächlich so aus, als triebe eine gigantische Schwefelwolke umher.

„Verdammt, was ist das nur?“ fragte der Decksälteste Smoky laut.

Niemand wußte es, er erhielt auch keine Antwort, denn die anderen starrten wie gebannt auf diese geisterhafte Erscheinung.

„Es scheint harmlos zu sein“, sagte Ferris Tucker, „denn Riffe sind darunter nicht zu sehen.“

„Harmlos?“ spottete Luke Morgan. „Das kann genausogut ein unterseeischer Vulkan sein, und an der Stelle ist das Wasser so siedend heiß, daß sich unsere Planken auflösen.“

„Du hirnloser Stint“, sagte Ed grollend. „Ein leuchtender Vulkan unter Wasser, was wie? Und unser Schiff zerkocht darin wie der Kohl in der Suppe vom Kutscher.“

„Himmel“, sagte der Kutscher indigniert. „Ihr habt vielleicht eigenartige Vergleiche!“

Er nahm eine Pütz, schwang sie über Bord, zog sie wieder hoch und hielt die Hand prüfend in das Wasser. Dann grinste er, hob die Pütz hoch und goß sie Luke Morgan über den Schädel.

 

„Da hast du dein siedendes Wasser“, sagte er zu dem verdatterten Luke, von dessen Schädel das Seewasser auf die Planken troff, und der vor Verblüffung nicht einmal jähzornig reagierte, wie das sonst immer der Fall war.

Jedenfalls war das Wasser von ganz normaler Temperatur, daran gab es keinen Zweifel.

Langsam segelte die „Isabella“ jetzt in die ersten Ausläufer dieser milchiggrünen Wolke hinein.

Fast jeder beugte sich vor, den Mund vor Staunen geöffnet, die Hände um den Handlauf des Schanzkleides gekrallt. Und die meisten erwarteten jetzt etwas.

Aber es geschah nichts. Im Wasser tanzten fluoreszierende Wirbel, ganze Klumpen feiner leuchtender Materie ballten sich zusammen, strebten wieder auseinander, wanderten gemächlich in die Tiefe oder stiegen langsam zur Oberfläche.

„Sieht wie Gelee aus“, stellte Smoky fest. „Das muß Tang sein oder etwas Ähnliches.“

Die Massen bewegten sich zumeist träge in der Dünung. Das Licht, das noch weiter unten strahlte, wurde davon allerdings nicht berührt, und so schaukelte nur der obere Teil, der sein Leuchten zu den Rändern hin allmählich verlor, bis das Meer an den Ausläufern wieder pechschwarz wurde.

Es war ein eigenartiges und unheimliches Phänomen. Die Wolke vermittelte tatsächlich den Eindruck, als würden unbekannte Geister sich anschicken, die Oberfläche zu erklimmen.

Der einzige, der zum Erstaunen aller diesmal kein Wort sagte und auch keinen Kommentar gab, war der alte O’Flynn. Sein pergamentartiges Gesicht war undeutbar verzogen, und niemand wußte, was er sich bei diesem Vorgang dachte. Aber auch er blickte angestrengt ins Wasser, und mitunter schüttelte er den Kopf.

Als der Seewolf sah, daß sie die leuchtende Wolke im Wasser ungehindert passieren konnten, verschwand auch seine anfängliche Besorgnis.

Aus einem ihm völlig unerfindlichen Grund leuchtete das Meer, aber es war ein kaltes Leuchten, und es hatte mit irgendeiner Vulkantätigkeit nicht das geringste zu tun.

Tief unter sich sah er den Rumpf der „Isabella“, sah im Leuchten des Wassers klar und deutlich den schwachen Bewuchs am Schiffsrumpf, die kleinen Muscheln und den Tang, der sich angesetzt hatte.

Pete Ballie löste gerade Ben Brighton ab, und so gingen er und Hasard auf die Kuhl, um das Phänomen genauer zu betrachten.

„Smoky“, sagte Hasard zu dem Decksältesten. „Laß in den großen Holzzuber ein paar Pützen Wasser hineinschütten. Nimm das Wasser dort vorn aus der leuchtenden Wolke.“

„Aye, Sir“, sagte Smoky und angelte nach der Pütz.

„Das Wasser ist nicht heiß, Sir“, sagte Luke Morgan. „Wir haben es schon ausprobiert.“

„Das nehme ich auch nicht an, es ist wahrscheinlich ein anderer Vorgang, den ich mir nicht erklären kann.“

Smoky schleuderte die Pütz in das helle Leuchten hinein, zog sie hoch und wollte sie in den Zuber leeren. Doch als die Pütz sich an Deck befand, war das Leuchten erloschen, und das Wasser sah genauso aus, wie es immer aussah.

Das begriff erst recht niemand. Eben hatte es noch geleuchtet, und jetzt, als der Ledereimer auf der Kuhl stand, war das Licht erloschen.

Smoky kratzte sich verblüfft den Schädel, leerte die Pütz in den Zuber und holte neues Wasser, Obwohl er diesmal ausschließlich in der hellen Wolke pützte, wiederholte sich der Vorgang.

„Und jetzt?“ fragte er verdattert.

„Jetzt lassen wir den Zuber einfach an Deck stehen“, erklärte Hasard. „Bei Tageslicht werden wir uns den Inhalt mal etwas genauer ansehen.“

Hinter ihnen blieb die leuchtende Wolke zurück, und weit vor ihnen tauchte eine neue auf, nicht so stark konzentriert wie die erste.

Ab und zu tummelte sich in dem Leuchten ein großer Fisch, oder sie sahen den Schatten eines Hais, der durch die leuchtende Wolke jagte, sich wie wild um sich selbst drehte und dann verschwand.

Als der Zuber fast gefüllt war, kehrten Ben und der Seewolf wieder auf das Achterdeck zurück.

„Ihr könnt weiterpennen“, sagte der Profos. „Das war nicht mehr als eine harmlose Naturerscheinung.“

Die meisten folgten der Aufforderung jedoch nicht, denn das Erlebnis an sich war es, was ihre Nerven kitzelte, und so standen sie noch lange herum und diskutierten das Meeresleuchten.

Zwei Stunden später, die meisten hatten sich wieder unter Deck verzogen, meldete der Ausguck ein Riff Steuerbord querab.

Es war nur ein kleines Riff, über dem sich schäumend die Wasserwirbel brachen, aber bald darauf wurde das nächste gesichtet und an Deck gemeldet.

Das Meeresleuchten war jetzt nur noch ganz schwach am achteren Horizont zu erkennen. Schließlich hörte es auf.

Dafür tauchten jetzt immer mehr Riffe auf, an denen sich Schaumwirbel brachen, die weiß herüberleuchteten.

Im Schein der trüben Lampe studierte Hasard die Seekarten, die sie von den Polynesiern hatten, und auch die Karte, die sie Don Maria José de Larra abgenommen hatten, aber diese Karten gaben keinen Aufschluß über das tiefer im Süden vermutete „Südland“, jenen sagenhaften Kontinent, der nur Gerüchten nach existierte.

Einmal drehte der Seewolf sich zu Ben Brighton um und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen.

„Ich weiß nicht“, sagte er langsam und überlegend, „aber ich habe das dumme Gefühl, als segelten wir mitten in einen riesigen Schlauch hinein.“

Brighton schluckte nur. Darauf wußte er keine Antwort.

2.

Das Gefühl hatte den Seewolf nicht getrogen. Seit der Südostpassat die „Isabella“ nicht mehr im Griff hatte, veränderte sich einiges, und das ließ den Schluß zu, als würden sie sich jetzt tatsächlich dem sagenhaften Südland nähern, einem, den Gerüchten und Vermutungen nach, riesigen phantastischen Kontinent.

Die ersten Anzeichen deuteten einwandfrei darauf hin.

Riffe!

Es wurden immer mehr, die schäumend und von hoher Brandung umtost aus dem Meer ragten. Seit einiger Zeit waren sie auf beiden Seiten des Schiffes zu sehen. Manche waren hoch, Korallentürme aus dunkler Tiefe senkrecht emporsteigend wie kleine Berge. Andere wieder lagen wie hingeduckt im schwarzen Wasser, und nur die zarte Brandung verriet ihre Anwesenheit.

Seit einer Stunde wurde pausenlos Tiefe gelotet, aber das Lot fand keinen Grund.

Dafür wurde das Gefühl, in einen finsteren langen Schlauch ohne Ende zu segeln, immer ausgeprägter. Zudem bestand die Möglichkeit, daß die „Isabella“ unversehens aufbrummte. Was das auf einem Korallenriff bedeutete, das wußte jeder an Bord, und jeden graute bei dem bloßen Gedanken daran.

„Laß den anderen Ausguck auch noch besetzen, Ben“, sagte Hasard. „Vier Augen sehen mehr als zwei. Und laß auch zwei Segel ins Gei hängen, unsere Geschwindigkeit ist zu groß. Wir müssen uns hier vorsichtig hindurchtasten.“

Ben verließ das Achterdeck und gab den Befehl an den Profos weiter, der wieder ein paar Männer aus dem Schlaf purrte. Brighton blieb auch gleich da und half mit.

„Wir hängen Fock und Großsegel ins Gei, Ed“, sagte Ben Brighton. „Wir segeln dann nur mit Vormars- und Großmarssegel und Lateiner.“

„Und die Blinde?“ fragte der Profos.

„Auch weg damit! Dann haben wir vom Achterdeck aus einwandfreie Sicht voraus.“

„An die Schoten, ihr backgebraßten Pfeffersäcke!“ donnerte Eds Stimme gleich darauf über Deck. „Fock und Großsegel auftuchen, weg mit der Blinde! Schlaft nicht ein, sonst schlitzen die Korallen euch eure Affenärsche bis zum Kragen auf!“

Jeder sah, daß sich etwas verändert hatte und überall in der See tükkische Augen aufleuchteten, manche nur durch einen silbrigen Schein erkennbar, andere von tosenden Wasserwirbeln berannt, die hoch aufgischteten und dann zerstäubten.

Mit ungeheurer Wucht rannte das Meer gegen sie an, das Meer, das wie ein schwarzes Ungeheuer aussah, das in seiner Gesamtheit den ganzen Erdball mit tausend Armen umschlang, die alles Land zu sich in die Tiefe ziehen wollten.

Trotz der Dunkelheit ließ sich das alles gut erkennen. Die Atolle, d@tolle, nicht sah, verrieten sich durch brausende Töne, donnerndes Klatschen und hohles Geplätscher, das pausenlos durch die Dunkelheit klang. Ab und zu erschien ein blinkendes Auge am Himmel, etwas später tauchte auch der Mond auf und schleuderte unwirklich aussehende Strahlen auf die Riffe.

Die „Isabella“ lief nun merklich langsamer durch die See. Im Ausguck befanden sich jetzt Jeff Bowie und der Herkules aus Gambia, der riesenhafte Batuti.

Pausenlos achteten sie darauf, daß das Schiff nicht auf eine unverhofft aus dem Wasser auftauchende Korallenbarriere lief. Daher mußte immer wieder der Kurs korrigiert werden.

Endlich zog die Dämmerung herauf, der Himmel wurde grau, die Wolkenformationen zogen zum Horizont, und über das Meer krochen wie blutrote Geisterfinger die ersten Sonnenstrahlen hoch, tasteten den Horizont ab und ergriffen schließlich vom Meer Besitz.

Hasard hatte in dieser Nacht nicht geschlafen, er empfand auch jetzt nicht die geringste Müdigkeit.

Der Kutscher, immer einer der ersten an Deck, brachte ihm Tee mit Kandiszucker und einem Schuß Rum.

Auf dem Achterdeck sah der hagere Mann sich um und nickte, als hätte er genau diesen Anblick und nichts anderes erwartet.

„Das sieht aus, als liefen wir in eine Falle, Sir“, sagte er. „Dort vorn scheint es immer enger zu werden, und nach Backbord- oder Steuerbord können wir nicht mehr ausweichen.“

„Da hast du recht, Kutscher. Und zurück können wir auch nicht mehr. Ich will es jedenfalls nicht“, verbesserte sich Hasard. „Anscheinend verläuft hier in südöstlicher Richtung ein gewaltiges Riff, und das hier sind erst die Ausläufer davon, in die wir hineingeraten sind. Wir werden auch wieder herausfinden.“

„In der Nähe ist Land“, sagte der Kutscher, ein Mann, der an Bord der „Isabella“ keinen anderen Namen hatte.

„Woher willst du das so genau wissen, oder vermutest du das nur?“

„Ich weiß es, Sir.“ Der Kutscher winkelte den Daumen ab und deutete in den jetzt immer klarer werdenden Himmel.

„Dort oben kreist seit mehr als einer halben Stunde ein Vogel. Er kreist senkrecht über der „Isabella“, ich beobachte ihn schon eine ganze Weile. Das könnte bedeuten“, sagte er vorsichtig, „daß wir uns diesem sogenannten Südland nähern, denn wo Vögel sind, ist auch das Land nicht weit. Sieh nur genau nach oben, Sir!“

Tatsächlich sah Hasard einen winzigen Punkt am Himmel, der weite Kreise zog, sich mal noch höher in den Himmel schraubte und dann wieder sanft nach unten glitt. Und er zog seine Spiralen haargenau über dem Schiff.

Hasard suchte mit dem Kieker den Horizont ab, doch er konnte nirgendwo auch nur den Strich einer Küste sehen. An Backbord lag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Land, also mußte man es an Steuerbord suchen. Doch auch da gab es nichts anderes als die Riffkette, die immer beängstigender anschwoll und an ein Gebirge erinnerte, dessen oberer Teil aus dem Meer wuchs wie der gepanzerte Rükken eines Ungeheuers.

„Ganz sicher gibt es Land“, sagte er zu dem Kutscher, der es liebte, auf dem Achterdeck mit dem Seewolf ab und zu ein Schwätzchen zu halten, bevor er wieder in seiner Kombüse verschwand. „Aber ob es dieser sagenhafte Kontinent ist, muß sich erst noch herausstellen. Später werde ich diese Riffe in die Karte einzeichnen, natürlich nur in groben Umrissen, anders ist das nicht möglich.“

„Weißt du, Sir“, sagte der Kutscher. „Ich bin sicher, daß deine selbst angefertigten Karten eine Menge dazu beitragen, um die Welt besser kennenzulernen. Sie sind exakter und genauer als die spanischen Roteiros. Eigentlich sind sie mehr wert als eine Schiffsladung voller Gold.“

Als Hasard nickte, beugte sich der Kutscher über die Karten und begutachtete sie. Er verstand nicht viel von Navigation, aber er hatte einen scharfen und logischen Verstand, und er erkannte den Wert dieser Karten vielleicht besser als jeder andere Mann an Bord.

So banal sich das auch anhören mochte, aber auf diese Karten konnten sie alle stolz sein, denn noch war die Erde größtenteils unerforscht, und es gab auf den meisten Karten mehr weiße Flecken und Fragezeichen als umgekehrt.

Als der Kutscher wieder nach vorn ging, balgten der Schimpanse Arwenack und der Papagei Sir John sich wieder einmal.

Hasard schenkte dem Gezeter und Gekeife keine Aufmerksamkeit, denn daß die beiden aneinandergerieten, geschah jeden Tag. Der Affe versuchte meist, Sir John eine seiner bunten Federn auszureißen, und Sir John ließ keine Gelegenheit aus, um Arwenack mit seinem gekrümmten Schnabel einen ordentlichen Hieb beizubringen. Sonst aber vertrugen sie sich einwandfrei, und in bedrohlichen Situationen hielten die unterschiedlichen Tiere sogar zusammen.

 

Der Affe hatte Sir John gerade bis in den Topp des Fockmastes gescheucht, da geschah es ganz überraschend und unter den Augen aller Männer.

Der Vogel, der eben noch seine einsamen Kreise in großer Höhe gezogen hatte, fiel wie ein Stein vom Himmel. Dabei wurde er immer größer.

Seine Flügel lagen eng am Körper an, und sein rasender Sturz ähnelte dem Fall einer Kugel, wenn ihre Flugbahn beendet war. Es sah aus, als würde er sich mit unvorstellbarer Wucht in die Planken der „Isabella“ einbohren.

In der Luft lag ein leises Rauschen. Dann breiteten sich große Schwingen blitzartig aus, um den jähen Sturz abzubremsen. Gleichzeitig schossen die scharfen Fänge vor.

Sir John bemerkte die Gefahr erst jetzt. Bisher hatte er meist sehr sorglos gelebt, denn natürliche Feinde gab es an Bord für ihn nicht mehr, und das hatte sich in den Jahren ausgewirkt, seit er an Bord war. Sein Instinkt vor drohenden Gefahren war jedenfalls nicht mehr so ausgeprägt wie früher.

Als die Fänge vorzuckten, stieß er einen grellen Schrei aus. Seine Federn sträubten sich, und dem ersten Schrei folgte ein zweiter, so herzzerreißend und angstvoll, wie nur ein Mensch in höchster Todesangst kreischen konnte.

Die scharfen Fänge sausten über seinen Rücken. Eine Wolke von Federn stob hoch. Sir John fiel kreischend auf die Rah, hakte sich mit seinem Schnabel fest und hing zeternd und kreischend nur noch an dem Schnabel.

Gleichzeitig aber war der Schimpanse heran, der ihn vorher bis an die Rah verfolgt hatte.

Arwenack stieß ein Fauchen aus bleckte das starke Gebiß. Während er sich mit einem Arm an die Rah klammerte, eingehüllt in eine Wolke kleiner Federn, wischte sein anderer Arm blitzschnell durch die Luft.

Er kriegte den gerade wieder im Abflug begriffenen Raubvogel zu fassen, packte seine Schwinge und schleuderte ihn wild durch die Luft. Dann mußte er loslassen, und der Vogel flog auf das Deck zu, fing vor den Köpfen der wie erstarrt dastehenden Männer gerade noch seinen Sturz ab, sauste dicht am Segel vorbei, flog irritiert weiter nach achtern, zog die Fänge wieder ein und schwirrte so dicht über Hasards Kopf dahin, daß der Seewolf in die Knie ging, sonst wäre der Raubvogel direkt in seinem Gesicht gelandet.

Dann hatte er sich gefangen und flog erbost über Steuerbord dem großen Korallenriff entgegen.

Sir John aber stürzte zerzaust an Deck, stieß immer wieder einen schrillen Schrei aus und spazierte über die Planken, bis der Profos sich bückte und ihn aufhob.

„Das war ja ein tolles Ding“, sagte Carberry. Er war genauso verdutzt wie die anderen auch.

Dann betrachtete er den zitternden Papagei, der seine Krallen um seine Finger geschlossen hatte und nicht mehr losließ.

Sir John war gerupft worden und hatte Federn gelassen. Eine ziemlich kahle Stelle zierte seinen Rücken, aber er hatte Glück gehabt. Seine Haut war nur leicht angekratzt, und ein kleiner Blutstropfen hatte sich gebildet.

„Junge, Junge“, murmelte der Profos. „Jetzt ist dir vor Schreck wohl sogar das Fluchen vergangen, was, wie? Der hätte dich aber ganz schön gerupft, wenn Arwenack nicht gewesen wäre.“

Der Schimpanse war ebenfalls an Deck erschienen, umkreiste den Profos fortwährend in einem Bogen und keckerte aufgeregt.

„Was war denn das für ein Vieh?“ fragte Smoky. „Der sah aus wie ein riesiger Wanderfalke, aber hier unten habe ich diese Vögel noch nie gesehen.“

„Ich auch nicht.“

Um Ed scharten sich die Seewölfe, und sogar der Kutscher ließ es sich nicht nehmen, nach dem Papagei zu sehen. Aber es gab zum Glück nichts für ihn zu tun. Außer einigen Federn fehlte Sir John nichts, bis auf den gewaltigen Schrecken natürlich.

Vom Achterkastell aus sah Hasard dem Raubvogel sinnend nach. Er flog auf pfeilgradem Kurs nach Westen. Folglich mußte es dort auch Land geben.

Jenes legendäre Südland vielleicht?

Die Reaktion des Vogels ließ nur den Schluß zu. Sehr weit konnte das Land auch nicht entfernt sein.

Der Seewolf blickte ihm nach, bis er ihn aus den Augen verlor.

„Dort drüben liegt Land“, sagte Ben, der den gleichen Schluß gezogen hatte wie Hasard. „Der Vogel hat eine Pleite erlebt, und nun fliegt er zurück, und zwar dahin, woher er stammt oder wo er sein Nest hat oder seinen Horst, wie immer man das nennen will.“

„Richtig. Nur können wir den Kurs nicht ändern, Ben. Sieh dir die unglaublich vielen Riffe einmal an, sie werden immer dichter und wachsen zu einer riesigen Barriere zusammen.“

„Und wir befinden uns mitten darin.“

Ja, der Schlauch wurde enger, daran war nicht zu zweifeln. Die Riffe rückten dichter zusammen, und sie wurden auch immer breiter und gewaltiger.

Die Natur hatte hier ein Phänomen geschaffen, wie die Seewölfe es noch nie in so gewaltigem Ausmaß gesehen hatten.

Türme wuchsen aus dem Wasser, aus schwarzer, unergründlicher Tiefe jählings aufsteigend. Manche so schlank wie ein Mast, andere so gewaltig wie langgestreckte farbige Berge. Dazwischen gab es unbekannte und tückische Strömungen, die das Schiff immer wieder versetzten. Manchmal schor der Bug der „Isabella“ hart aus, und nur dem Geschick des Rudergängers war es zu verdanken, daß er die „Isabella“ in dieser Rinne halten konnte.

Für die Seewölfe hieß das: Brassen, immer wieder brassen, bis es ihnen zum Hals heraushing.

Hasard sah immer deutlicher, daß sie sich in diesem Meer und Gewirr aus scharfkantigen Korallen, tückischen Bänken und rasiermesserscharfen Riffen hoffnungslos verfranzen würden, wenn nicht noch ein Wunder geschah, und er spielte mit dem Gedanken, wieder auf Gegenkurs zu gehen.

Aber dann gab es später wieder einige Lücken, und er ließ weitersegeln.

Etwas später fiel Hasard der Holzzuber ein, und er ging zur Kuhl. Die Sonne schien in den kleinen Bottich, und er beugte sich hinunter und blickte hinein.

Es ließ sich nicht feststellen, was dieses Leuchten verursacht hatte, denn im Wasser befand sich nichts.

Erst als er sich kopfschüttelnd wieder erheben wollte, bemerkte er das Gewimmel in dem Zuber. Man mußte wirklich zweimal hinsehen, um etwas zu entdecken.

Unglaublich winzige Tiere tummelten sich darin, so klein, daß man sie kaum wahrnahm. Aber das Wasser war von Leben erfüllt, das sich rasend schnell darin bewegte.

Ferris Tucker, der ebenfalls in den Zuber blickte, war erstaunt.

„Eine richtige kleine Welt für sich“, sagte er. „Aber weshalb sind diese winzigen Dinger in der Lage, Licht zu erzeugen? Das verstehe ich einfach nicht.“

„Ich verstehe das auch nicht“, gab Hasard zu. „Manche von den Kleinlebewesen sehen so aus wie das Zeug im Tang oder das, was an unserem Rumpf hing, als wir das Schiff säuberten.“

„Ja, nur ist das alles viel kleiner, so winzig, daß man es auf den ersten Blick nicht bemerkt.“

Fast jeder warf einen Blick in den Zuber, und am Ende stand fest, daß es zwar diese kleinen Tiere waren, die das Licht erzeugten, aber wie sie das taten, das blieb auf der „Isabella“ ungeklärt.

Hasard trug auch dieses Naturereignis in die Karte ein. Vieles würden manche Leute später anzweifeln, aber das war ihm egal. Er und seine Leute hatten es mit eigenen Augen gesehen. Ein verstaubter englischer Lord in London bei Hofe hatte nicht die geringste Vorstellung von solchen Dingen und würde es als Phantasterei abtun.

Die Sonne stieg höher, der Wind blies nur noch schwach, und über Deck breitete sich die Hitze aus.

Jeff Bowie wurde von Gary Andrews abgelöst. Bowie ging nach achtern zum Seewolf und deutete weit voraus.

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