Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte

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Lebenswege - Eine ostpreußische Familiengeschichte
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Impressum

Frank Hille

Lebenswege

Eine ostpreußische Familiengeschichte

Band 1

1930 - 1976

Copyright: © 2015 Frank Hille

Published by: epubli GmbH, Berlin

www. epubli.de

ISBN 978-3-7375-3818-3

Krankenhaus, Sachsen, 2009

Ostpreußen, Frühjahr 1945

Heimat, Ostpreußen, 1943

Jugendzeit, Ostpreußen, Ende 1930iger Jahre

Stadtaufenthalt, Ostpreußen, Ende 1930iger Jahre

Eine Entscheidung, Ostpreußen, Ende 1930iger Jahre

Dorfschulunterricht, Ostpreußen, Ende 1930iger Jahre

Der Traktor, Ostpreußen, Ende der 1930iger Jahre

Einzug ins Dorf, Ostpreußen, Ende der 1930iger Jahre

Treck, Ostpreußen, 1945

Die Katastrophe, Ostpreußen, 1945

Der Vater, Ostpreußen , 1940iger Jahre

Abmarschvorbereitungen, Ostpreußen, 1945

Zwischenstation, Sachsen, Mai 1945

Weitermarsch, Sachsen, 1945

Neue Heimat, Sachsen 1945

Lehrstellensuche, Sachsen,1945

Die Versuchung, Sachsen, 1945

Lehrzeit, Sachsen, 1945

Kriegsgefangenenlager, Sibirien ,1946

Alltag, Sachsen, 1946

Lagerleben, Sibirien, 1947

Bildungswünsche, Sachsen, 1948

Erste Heimkehrer, Sibirien,1948

Normalisierung, Sachsen, 1949

Entlassung, Sibirien, 1950

Wiedersehen, Sachsen, 1950

Der Morgen, Sachsen, 1950

Behördengang, Sachsen, 1950

Probearbeit, Sachsen, 1950

Bedrückung, Sachsen, 1950

Walther Beckers Bekanntschaften, Sachsen, 1951

Die Konsequenz, Sachsen, 1952

Das Begräbnis, Sachsen, 1952

Neue Bekanntschaften, Sachsen, 1952

Perspektiven, Sachsen, 1952

Der Großvater, Sachsen, 1952

Der Unfall, Sachsen, 1952

Karosseriewerk, Sachsen, 1952

Unmut, Sachsen, Anfang Juni 1953

Berta Becker, Kassel, 1953

Kinderheim, Sachsen, 1953

Erste Erfahrungen, Sachsen, 1953

Das Diplom, Sachsen, 1956

Abschied, Sachsen, 1959

Familienalltag, Kassel, 1959

Mauerbau, Kassel, 1961

Mauerbau, Sachsen, 1961

Schule, Sachsen, 1962

Beschaffungsprobleme, Sachsen, 1962

Bilanzierungssorgen, Sachsen, 1965

Sozialer Aufstieg, Kassel, 1965

Studium, Sachsen, 1966

Eine Affäre, Kassel, 1968

Dieter Becker, Sachsen, 1970

Akademische Karriere, Sachsen, 1971

Der Streber, Sachsen, 1972

Verunsicherung, Sachsen, 1993

Umzug, Berlin, 1973

Dissertation, Sachsen, 1974

Mangelwirtschaft, Berlin, 1974

Krankenhaus, Sachsen, 2009

Ein Geruch von Tod lag in der stickigen Zimmerluft.

Der kleine grauhaarige Mann saß an der linken Seite des Bettes und hatte sein rechtes Bein geradlinig lang ausgestreckt. Am Fußende des Bettes stand eine Frau Mitte der vierziger Jahre mit dunkelrot gefärbten Haaren und schaute gleichgültig auf einen alten Mann, der regungslos und mit geschlossenen Augen ruhig atmete und dessen schmächtiger Körper sich unter dem Bettzeug abzeichnete. Der Arzt hatte sich vor wenigen Minuten zur Visite bei den anderen Patienten verabschiedet, wenn etwas sein sollte würde ihn die Schwester sofort informieren und er wäre in Minutenfrist wieder da. Die Luft im Zimmer war brütend warm. Obwohl die Schwester die Fenster weit geöffnet und die Vorhänge wieder zugezogen hatte war die Hitze so stark, dass die beiden Menschen heftig schwitzten. Das schon bleiche Gesicht des Mannes im Bett hingegen zeigte keinen einzigen Schweißtropfen, und da ihm das Gebiss entfernt worden war, hatten sich die Proportionen seines Schädels wie in einer Vorwegnahme des Kommenden in die eines Totenkopfes verändert.

Vor drei Tagen waren Dieter und Hanna Becker vom Pflegeheim informiert worden, dass sich der Zustand ihres Vaters in den letzten beiden Tagen rapide verschlechtert hatte und man ihn in das Krankenhaus eingeliefert hatte. Obwohl Peter Becker Nahrung durch eine Sonde zugeführt wurde war der Arzt der Auffassung, dass die Entwicklung der Vitalfunktionen Anlass zur Sorge gäbe. Als moderner Mensch hatte Dieter Becker die Dienste des Internets in Anspruch genommen und erfahren, dass es in diesem Zusammenhang um Bewusstsein, Atmung und Kreislauf seines Vaters ging. Augenscheinlich hatte er noch keine Mühe sich selbst mit Sauerstoff zu versorgen, aber er wurde schon über Monate über eine Sonde ernährt und der Gewichtsverlust war deutlich zu verfolgen gewesen. Mit dieser Art der Lebenserhaltung war begonnen worden, als Peter Becker nach einem weiteren Schlaganfall ins Wachkoma fiel und somit nicht mehr in der Lage gewesen war, sich selbst zu ernähren und die übrigen Funktionen seines Körpers zu steuern, auch darüber hatte sich sein Sohn informiert. So war ihm auch schnell klar geworden, dass sein Vater aus dieser anderen, ihm selbst verschlossenen Welt nicht wieder zurückkehren würde und die weitere Zeit ein langsamer Abschied auf Raten werden würde.

Wie lange es dauern würde konnte der Arzt nicht voraussagen. Seiner Auffassung nach war der alte Mann sein Leben lang mit einer guten körperlichen Konstitution gesegnet gewesen und man könne durchaus noch mit einiger Zeit rechnen, so etwas wäre gar nicht selten. Der schon lange vorher eingetretene geistige Verfall, also die Alzheimer Erkrankung, würde in diesem Zusammenhang keine wesentliche Rolle spielen. Sie sollten es sich so vorstellen, als ob ein alter Motor, der schon hunderttausende von Kilometern hinter sich gebracht hatte noch recht zuverlässig laufen würde. Dass dessen Steuerelektronik, er meine das Gehirn, schon seit einiger Zeit keine richtigen Signale mehr aussende, wäre für das automatische Zusammenspiel der Teile der Maschine nicht so bedeutsam. Mit anderen Worten gesagt könnte Peter Becker unter bestimmten Umständen durchaus sehr alt werden, ohne aber jemals wieder die ihn umgebende Welt wahrnehmen zu können. Würde man über eine Maschine verfügen die das Neuronen Gewitter im Gehirn des Mannes entschlüsseln könnte wäre die Botschaft deutlich gewesen: es gab keine Reaktionen mehr die für ein Denken sprachen. Es sei jetzt vermutlich aber auch an der Zeit, sagte der Arzt vorsichtig, sich auf den Abschied vorzubereiten.

 

Seit drei Stunden waren die Geschwister im Zimmer und in dieser Zeit hatten sie kein einziges Wort miteinander gewechselt. Beide bemühten sich ihre Abneigung voreinander nicht an diesem Ort auszutragen, das wäre ihnen in dieser Situation nicht angebracht erschienen, doch der Schatten des einst so dominanten Vaters lag noch immer wie eine Last auf ihnen. Damit war auch die Furcht verbunden, dass er selbst in dieser für ihn so hilflosen Lage noch wie früher so oft in ihr Leben eingreifen könnte, was zwar unwahrscheinlich war, aber ihrer beider Leben so entscheidend geprägt hatte, dass sie sich aus diesem Bann bis zum heutigen Tag nicht hatten lösen können. Weder Dieter noch Hanna Becker wünschten sich den Tod des Vaters herbei, aber beiden war klar, dass der Moment, in dem er nicht mehr atmen würde, wie eine Befreiung für sie wäre. Zwar aus unterschiedlichen Gründen, aber immerhin ein Schlussstrich. Hanna Becker deutete mit einer Bewegung an, dass sie das Zimmer verlassen wollte und ihr Bruder nickte nur. Der Drang nach Rauchen war übermächtig geworden und vor dem Eingang des Krankenhauses zündete sie sich eine Zigarette an.

Wenn sie ihren Vater früher im Pflegeheim besucht hatte schoben sich die Bewohner mühsam auf ihre Rollatoren gestützt vorüber und mehr als früher nahm sie die scheinbare Inhaltsleere dieses Lebensalters wahr, die aus ihre Sicht nur noch darin bestand, sich zu ernähren, auszuscheiden und zu schlafen. Bei ihren Besuchen im Heim war es ihr immer absurd vorgekommen, dass junge Männer, offensichtlich Freiwillige im sozialen Jahr, mit den alten Leuten um einen Tisch saßen und wie mit kleinen Kindern spielten oder bastelten. Natürlich war ihr bewusst, dass sie eines Tages auch dort ankommen könnte, jetzt mit Mitte vierzig schien ihr das aber noch unendlich fern und wer wusste denn, ob sie dann auch zu den Dementen zählen würde, die schon jetzt den Großteil der Heimbewohner ausmachten.

Dieter Becker spürte wie ihm der Schweiß den Rücken herunter lief und auch auf seiner Stirn sammelten sich immer wieder Tropfen, ständig wischte er sich das Gesicht mit dem Taschentuch trocken. Unter diesem für ihn körperlichen Makel hatte er schon immer gelitten. Wenn er mit der Familie im Sommer am Mittagstisch saß lag immer ein Handtuch bereit mit dem er den Schweiß regelmäßig mäßig aufnahm. Sein Vater dagegen zeigte nicht einmal eine Rötung im Gesicht und oft hatte er sich anhören müssen, dass er einfach zu dick sei, kein Wunder, denn wer keinen Sport triebe, wäre nun mal nicht belastbar. Auch vor seiner Schwester und den Freunden war es ihm peinlich bei der geringsten Bewegung in Schweiß zu geraten obwohl doch alle wussten, dass seine schwache Kondition den Grund in einer angeborenen Herzmuskelschwäche hatte. Dennoch hatte er sich sein Leben mit diesem Handicap so eingerichtet, dass es für ihn keine unüberwindbaren Schwierigkeiten gab. Anders als seine Schulfreunde, die sich in ihrer Freizeit mit Fußballspielen beschäftigten, saß er lieber über Büchern und er war sich als Junge schon darüber klar gewesen, dass er nie einer anstrengenden körperlichen Arbeit nachgehen könnte, damit war bei ihm die Motivation gewachsen, in der Schule besser zu sein als die anderen. Der Vater hatte jedoch immer darauf bestanden an den Wochenenden wandern oder schwimmen zu gehen und im Winter auf die Skier zu steigen. Für den schwächlichen Jungen war dies jedes Mal eine Katastrophe, weil er den anderen kaum folgen konnte. Wenn er sie dann an einem Rastplatz erreichte stand der Vater sofort demonstrativ wieder auf, als wollte er ihn dafür bestrafen, dass er das Tempo nicht hatte mithalten können. Jetzt lag der alte Mann hilflos vor ihm und er war sich auch nach fast fünfzig Jahren nicht über seine Gefühle für ihn sicher. Am meisten hatte ihn gekrängt, dass der Vater angeblich keine Zeit fand zu seiner Promotionsfeier zu kommen, wichtige Auftragsarbeiten im Betrieb würden ihn bis in die Nacht hinein beschäftigen. An der Doktorarbeit hatte er drei Jahre lang gesessen. Es gab Phasen, da wollte er das Projekt aufgeben, zumal er für seine Frau und die Kinder gar keine Zeit mehr fand. Wenn etwas typisch für das Verhältnis seines Vaters zu ihm gewesen war, war es die Tatsache, dass er die Erfolge seines Sohnes weder kommentierte, noch in irgendeiner Form würdigte.

Hanna Becker rauchte eine zweite Zigarette. Sie schwatzte mit den Krankenschwestern, die sich auch in die einzige schattige Ecke am Eingang zurückgezogen hatten. Die Frauen klagten über die Hitze und eine sagte, dass bei so einem Wetter und in dieser Jahreszeit regelmäßig viele Patienten versterben würden, das wäre so wie jedes Jahr davor. Ohne Eile rauchte Hanna Becker zu Ende, die letzten Jahre hatte sie nach ihrer Wahrnehmung unendlich viel Zeit damit verbracht den kranken Vater zu betreuen und es schien ihr im Moment unerheblich, ob sie in diesem Minuten bei ihm war, oder nicht. Im Haus war es erträglicher und beim Eintreten in das Zimmer sah sie das schweißnasse Hemd ihres Bruders der besonders unter der Hitze litt. Er erhob sich, sagte „ich muss mal auf Toilette“ und verließ das Zimmer mit einem eigenartigen Gang. Hanna sah ihm nach. Bei einem Sturz im Winter vor etlichen Jahren war er so unglücklich gefallen, dass das rechte Kniegelenk stark zertrümmert wurde, von da an hatte er ein steifes Bein und konnte sich noch schlechter bewegen, eine Operation war wegen seinem schwachen Herz nicht möglich gewesen. Ihr schien, als ob sich der Vater jetzt geregt hätte. Seine Arme erhoben sich mühsam zentimeterweise und der Atem ging auf einmal röchelnd, panisch drückte sie die Klingel und wenig später stand die Schwester im Zimmer. Nach einem Blick auf den Mann ging sie schnell heraus um den Arzt zu holen. Der Kopf des alten Mannes zuckte auf dem Kissen hin und her, die blicklosen Augen irrlichterten umher und die Hände verkrampften sich, mit einem letzten mühsamen Luftholen sank er zusammen und erschlaffte. Als der Arzt eintrat nickte Hanna Becker ihm nur zu, es gab nichts weiter zu sagen, und ob der Mann sie für gefühllos hielt, weil sie keine Tränen produzieren konnte, war ihr egal. Dieter Becker hatte den Arzt in das Zimmer gehen sehen und war schnell gefolgt.

Peter Becker war am 17. Juni 2009 um 12 Uhr 52 mit 79 Jahren gestorben. Er hatte seinem Sohn ein letztes Mal gezeigt, dass er für ihn in seinem Leben nicht sonderlich wichtig gewesen war, schließlich war er wieder einmal unpünktlich gewesen und hatte sich undiszipliniert gezeigt.

Ostpreußen, Frühjahr 1945

Der russische Jagdflieger flog die Kolonne zum zweiten Mal an, er wurde von einer weiteren MIG gedeckt, eine andere lauerte im Hintergrund. Seine Kameraden beobachteten den Luftraum, eigentlich war es nicht notwendig, denn die deutsche Luftwaffe war nur noch ein Schatten ihrer selbst und die wenigen Maschinen die sich sehen ließen wurden von den Russen schnell vom Himmel geholt. Das Flugzeug kurvte ein, und als der Pilot die Marschsäule des Flüchtlingstrecks überflog feuerten die Maschinengewehre ununterbrochen. Er sah, wie Trümmerstücke von den Wagen wegflogen, Pferde von den Garben zerrissen wurden und Menschen von den Geschossen durchsiebt umfielen, dann zog er die Maschine wieder hoch. Viele der Leute unter ihm hatten Zuflucht in den Straßengräben gesucht und die zweite Maschine machte sich daran, genau diese Stellen unter Beschuss zu nehmen. Die Kugeln mähten über die Leiber hinweg und schlugen in die Körper der Schutz suchenden ein. Wenn man in diesen Momenten von Trost sprechen konnte war es nur der, dass die großkalibrigen Geschosse viele der Getroffenen sofort töteten, andere jedoch wurden schwer verletzt und der Wundschock gab ihnen für einige Momente noch Ruhe vor dem bald einsetzenden furchtbaren Schmerz. Unter den Tragflächen der dritten Maschine hingen noch Bomben, die der Pilot in das Chaos unter ihm hinab warf und im ab Kurven sah er, dass die Explosionen genau in der Mitte der Kolonne lagen. Die Russen drehten ab und entfernten sich, über der Straße stiegen Rauchwolken auf und war das Gebrüll der Verwundeten zu hören.

Der fünfzehnjährige Peter Becker kroch unter dem Wagen hervor, der ihm etwas Schutz geboten hatte. Die Geschosse der Flugzeugmaschinengewehre hatten ihre Spur links neben dem Gefährt in den Straßenbelag gegraben, und alles, was sich in dieser Spur befunden hatte, war der Wirkung des Maschinengewehrfeuers ausgesetzt gewesen. Er wusste wie das Ergebnis aussah. Bereits vor drei Tagen waren sie in so einen Angriff geraten, bei dem wenigstens zwei auf LKW montierte 2 cm Flak Vierlinge der Wehrmacht, die den Treck begleiteten, versucht hatten die Flugzeuge abzuwehren. Für die Russen war das kein ernstzunehmender Gegner gewesen. Die erfahrenen Piloten hatten sich getrennt und die leichten Geschütze aus verschiedenen Richtungen angeflogen und unter verheerendes Feuer genommen. Bald verstummte die erste Flak und er hörte die Schreie der Getroffenen, als auch die zweite Kanone ausgeschaltet war griffen die Maschinen unbehelligt die Flüchtenden an, viel Schaden konnten sie allerdings nicht mehr anrichten, da sie sich fast vollständig verschossen hatten. Peter Becker hatte bisher nur einen Toten gesehen, seinen Onkel, der vor zwei Jahren gestorben war, und als er einen letzten Blick auf ihn in dem offenen Sarg der in der Kirche seines Dorfes aufgebahrt war warf schienen ihm die Gesichtszüge des alten Mannes friedlich, so als wäre seine Seele jetzt im Himmel angekommen. Sein Sterben hatte er nicht miterlebt, aber seine Eltern sagten ihm, er wäre sanft eingeschlafen.

Als die russischen Flugzeuge weg waren lief er zusammen mit seinem Freund Martin zu den Flakgeschützen in der Erwartung, etwas Interessantes zu sehen. Seine fehlende Phantasie hätte ihn besser davon abgehalten, denn als sie zu dem LKW kamen hing der Mann an der Kanone ohne Kopf in seinem Sitz und das Blut pulste noch aus seinem Hals. Ein anderer lag auf der Plattform des Fahrzeuges und wälzte sich schreiend hin und her, verzweifelt versuchte er die aus seinem aufgerissenen Bauch hervorquellenden Eingeweide mit den Händen in seinem Leib zu halten. Zwei weitere Soldaten lagen auf dem Rücken, die Geschosse hatten ihre Körper an vielen Stellen durchschlagen. Sie waren bereits tot und starrten mit blicklosen Augen in den Himmel. Peter Becker fühlte Übelkeit aufsteigen und erbrach sich heftig, Martin hielt sich die Ohren zu, um die furchtbaren Schreie des verwundeten Soldaten nicht hören zu müssen. Beide verließen den Ort schnellstens und flüchteten zu ihren Eltern.

„Mama, wir müssen dem Soldaten helfen, er stirbt“ sagte Peter Becker atemlos.

Seine Mutter sah ihn ausdruckslos an. Ihr Kleid war schmutzig. Wie die anderen hatte sie im Straßengraben Schutz gesucht und der Schock über das soeben erlebte hatte sie verstummen lassen. Nach den durchdringenden Geräuschen des Angriffs war es still um sie herum, nur das Knistern der brennenden Pferdewagen und die Hilferufe der Verwundeten waren zu hören, und die aufsteigenden Rauchwolken erschwerten die Sicht, so dass sie noch nicht sehen konnten welches Ausmaß an Zerstörung es gegeben hatte. Die zierliche Frau zitterte am ganzen Körper und setzte sich an den Rand der Fahrbahn, ein Mann näherte sich ihr und nahm sie in den Arm. Er sprach leise mit ihr, und dann schaute er die Jungen mit einem leeren Blick an. Der verwundete Soldat schrie jetzt nicht mehr, auch er war tot.

Irgendwo sang ein Vogel.

Heimat, Ostpreußen, 1943

Die Landschaft war sanft. Flache Hügel rahmten eine Vielzahl von Seen ein, die sich weitflächig durch die Gegend zogen und auf denen die Fischer ihre Reusen absteckten oder hinter ihren Booten Netze durch das Wasser schleppten. Die Gründe waren ergiebig und die Männer hatten mit der Fischerei ein gutes Auskommen, der Räucherfisch war weit in das Land hinein begehrt und zu den Wochenmärkten herrschte im Dorf Trubel. Der Menschenschlag hier war ausgleichend. Die Natur und deren Reichtum strahlte auf das Naturell der Menschen aus, doch gerade die jungen Burschen waren auch einer zünftigen Schlägerei nicht abgeneigt und der gute Kornschnaps tat das seinige dazu. Die Bauern des Dorfes bauten auf den fruchtbaren Böden Getreide und Mais an und in den Ställen drängte sich das Vieh, schwere Rinder, kräftige Schweine und jegliche Art von Geflügel. Das Dorf selbst bestand aus gut 25 Häusern und nicht mehr als 150 Menschen hatten hier ihre Heimat gefunden. Die Häuser standen seit Generationen am Ort und die Alten nahmen im Sommer, der hier oft drückend sein konnte, wie selbstverständlich die Plätze auf den Bänken vor den Zäunen ein, oft mit einem Krug leichten Weins dabei, um den Tag beschaulich vergehen zu lassen, sie saßen auf dem Altenteil. Ihre Kinder und Kindeskinder indes waren seit der Frühe auf den Beinen um auf den Feldern oder auf den Seen ihrer Arbeit nachzugehen.

 

Es war üblich, dass die Jungs und Mädchen von Kindesbeinen an in den Wirtschaften helfen mussten, der Gang in die Dorfschule wurde als notwendiges Übel angesehen, was brauchte ein Bauer oder Fischer mehr als Lesen zu können und sich mit Gewichten auszukennen, um beim Handel nicht übervorteilt zu werden. Nur wenige hatten dem Dorf den Rücken gekehrt um sich besser bilden zu können, oder der nie endenden Arbeit zu entkommen. Die Ansässigen schätzen ihre Dorfgemeinschaft aber mehr als die Aussicht auf ein komfortableres Leben unter ihnen fremden Verhältnissen in einer Stadt. Diejenigen, die besuchsweise dorthin fuhren kamen mit der Einsicht wieder, dass es für den Menschen zuträglicher sei, seine Arbeit im Verbund der Großfamilie zu leisten und damit auch die Gewissheit zu haben, mit dem Älterwerden nicht in Armut zu enden, sondern weiter versorgt zu sein. Außerdem waren sie in der Situation, ihre Ernährung selbst zu sichern, und der Wohnraum ging von Generation an Generation über, keiner war ohne Bleibe. Abwechslung hatten sie in ihrem Fleck erwartungsgemäß wenig. Die Männer saßen nach dem Tagewerk bei Bier und Schnaps in der Schankwirtschaft und plauderten über das Vieh oder die Dinge die in den Familien passierten, die Frauen sammelten sich gern am einzigen Laden im Dorf und bei Ihnen drehten sich die Gespräche meistens um die Kinder. Die Dorfjugend hätte für ihre überschüssige Kraft kein besseres Quartier als die Gegend um ihr Dorf herum finden können. Die Väter erlaubten den Jungen auf Pferden die Gegend zu durchstreifen, und die Mädchen saßen an den Seeufern und tratschten über die heranwachsenden jungen Männer.

Natürlich ging der Fortschritt an ihrer Idylle nicht vorbei und Ende der zwanziger Jahre tauchten die ersten Automobile auf, die sich über die sonst nur von Gespannen befahrenen Wege mühten. Mit diesen Fahrzeugen kamen Güter in den Dorfladen, und auf dem Rückweg war der Wagen mit Säcken voller Getreide beladen oder waren Kühe darauf festgebunden, deren letzter Weg in den Schlachthof führte. Der Laster kam stets am Donnerstag gegen die Mittagszeit und Peter Becker versuchte jedes Mal die Maschine in Augenschein zu nehmen. Verglichen mit den Mitteln, die sie für die Feldarbeit zu Verfügung hatten, schien ihm das Auto wie die Verheißung besserer Zeiten, wenn sie über solche Technik verfügen würden wäre das das Ende der Plackerei mit dem pferdebespannten Pflug. Der Fahrer war einem Schwatz nicht abgeneigt und sonnte sich in der Bewunderung der Männer und der Jungs, die das Gefährt ehrfürchtig umrundeten. Wie um ihnen zu zeigen, welch komplizierten Mechanismus er beherrschte, öffnete er ab und an die Motorhaube und schraubte geschäftig an diesem oder jenem Teil herum. Brummelnd hielt er eine Zündkerze in das Licht, um diese dann fachmännisch zu reinigen und wieder in den Motor einzubauen. Die Männer fragten ihn nach dem einen und anderen und Peter merkte genau, wie der Fahrer in seiner Rolle als Spezialist Zentimeter für Zentimeter wuchs.

„Man muss schon ein Gefühl für die Maschine haben, sonst geht das nicht. Mein Wagen hat immerhin sechs Zylinder und einen Hubraum von fast drei Litern, mit den 45 PS schaffe ich auf einer guten Straße leicht 80 Kilometer in der Stunde.“

Für Peter Becker waren dies unverständliche Worte, und auch die Männer sahen sich verwundert an. Zwar arbeitete bei einigen ein Diesel, um zum Beispiel Dreschmaschinen über Transmissionsriemen anzutreiben, aber zu mehr als das Gerät ein- und auszuschalten waren sie nicht in der Lage. Verweigerten die Maschinen den Dienst war der einzige, der etwas ausrichten konnte, der Schmied, der in seiner Werkstatt imstande war einfache Ersatzteile herzustellen. Konnte er aber auch nicht helfen mussten sie auf den Mann der Maschinenbaufirma warten, der dann mit einem Motorrad mit Beiwagen auf dem Hof erschien. Glücklicherweise besaß der Bürgermeister in seinem Haus den einzigen Telefonanschluss des Dorfes, so konnte er wenigstens Bescheid geben. Peter selbst war von den grobschlächtigen Dieselmaschinen fasziniert, und als ihre eines Tages ausfiel, erlaubte ihm sein Vater bei der Reparatur zuzusehen. Zusammen mit seinem Großvater, anderen alten Männern und einigen Jungen sahen sie dem Mechaniker zu, als dieser am späten Nachmittag die Maschine demontierte. Nachdem er mehrere Schrauben gelöst hatte hob er den Zylinderdeckel ab und die Kolben wurden sichtbar. Zwischen dem Motorblock und dem Deckel war eine bröselige Lage zu sehen, die an Pappe erinnerte.

„Hab ich‘s doch geahnt, die Kopfdichtung ist kaputt“ sagte der Mann zufrieden.

Er steckte eine Kurbel auf die Welle und die Zylinder bewegten sich auf und ab, an einer Stelle stießen sie an die Dichtung, die dort schon zerstört war. Der Mann fingerte ein Teil aus dem Beiwagen des Motorrads das genau auf den Motorblock passte: die neue Dichtung. Vorsichtig brachte er die Dichtung an, setzte den Zylinderkopf wieder auf, und verschraubte diesen. Bedächtig wischte er sich die ölverschmierten Hände an einem alten Lappen ab, setzte sich auf eine Bank im Hof und steckte sich eine Zigarette an. Alle sahen ihn verwundert an, seine Arbeit war noch nicht beendet und er gönnte sich schon eine Pause. Peters Großvater sprach ihn an.

„Sag‘ mal, du hast die Maschine noch nicht einmal getestet und machst erst einmal gemütlich Pause? Ist das bei euch Städtern so?“

Der andere grinste ihn breit an und antwortete:

„Willst du mit mir wetten, dass der Diesel wieder läuft“ fragte er.

„Woher soll ich das wissen, du scheinst dir ja ziemlich sicher zu sein“ erwiderte der Großvater.

„Hör‘ mal zu“ fuhr der andere fort „das hier ist eine Maschine, kein Pferd. Ich weiß wie sie funktioniert, und wenn ich fertig geraucht habe, werde ich sie starten. Hast du noch Lust zum Wetten?“

„Ach, lass mich doch in Ruhe“ knurrte Peters Großvater.

Der Mechaniker trat die Kippe in den Boden, packte wortlos die Kurbel, und nach ein paar Umdrehungen begann der Motor stotternd zu arbeiten. Er richtete sich auf, schaute die Leute spöttisch an und blickte auf die Uhr.

„Ich muss morgen früh bei Bachmann auch noch was reparieren, bei wem kann ich übernachten“ fragte er in die Runde.

„Natürlich bei uns“ antwortete der Großvater „du bist unser Gast, Platz haben wir genug. Peter, bring seine Sachen in die Bodenkammer. Ich hole dir ein Bier, es ist heiß heute.“

Das Gepäck des Mannes war leicht, eine kleine Tasche fasste die Dinge die er brauchte um ein, zwei Tage auf dem Dorf zu leben. Peter Becker schleppte sie in die Bodenkammer, dieser Raum war einfach eingerichtet, nur ein Bett, ein Schrank, ein kleiner Tisch und eine Waschschüssel waren vorhanden, genug, um die Nacht dort zu verbringen. Als er wieder auf den Hof trat saßen sein Großvater und der Mechaniker auf der Bank und unterhielten sich, beide tranken langsam aus schlanken Bierflaschen.

„Ein guter kühler Schluck“ ließ sich der Mann vernehmen.

Der Großvater nickte.

„Das Bier kommt aus der Brauerei in Baselow. Mein Bruder lebt in diesem Ort, manchmal kommt er mit seinem Pferdewagen zu uns und hat immer zwei, drei Kästen Bier mit. Im Gegenzug bekommt er von uns eingemachte Wurst und Gemüse. Was du heute Abend unbedingt probieren musst sind die sauer eingelegten Pilze. Die Kinder gehen im Herbst gern in die Wälder um Pilze zu suchen, man braucht nur wenig Zeit um die Körbe zu füllen. Gott hat uns mit unserer Heimat ein gutes Geschenk gemacht, unsere Äcker sind ergiebig und die Seen voller Fische, was wollen wir noch mehr? Wir haben unser Auskommen, Hunger müssen wir nie leiden, schau dir unser Haus an, mein Großvater hat es gebaut und mit den Jahren ist es größer und schöner geworden. Es ist ein Glück, auf diesem Land zu leben.“

Der Mechaniker sah ihn nachdenklich an.

„Du hast Recht, es ist schön bei euch hier. Aber für mich wäre es wohl auf die Dauer nicht interessant genug. Glaub mir, in der Stadt findest du viele Dinge die Spaß machen. Die Kinos, die Restaurants, die Bäder, Museen, der brausende Verkehr, die vielen Geschäfte. Dort ist nie Ruhe, selbst am Abend, wenn ihr in eurem Haus sitzt, sind dort Leute unterwegs die sich vergnügen wollen.“

„Das mag sein“ erwiderte der Großvater „jeder stellt sich sein Leben anders vor. Ich bin hier geboren, habe hier meine Frau gefunden, meine Kinder sind hier zur Welt gekommen, seit mehr als sechzig Jahren ist das meine Heimat. Denkst du, ich vermisse irgendetwas? Kannst du mehr als Essen, Arbeiten und Schlafen? Gut, du kannst deine freie Zeit anders verbringen, gehst du eben ins Kino oder ins Schwimmbad. Es käme mir doch aber gar nicht in den Sinn in ein Restaurant zu gehen, wir haben doch alles selbst, schau‘ in unsere Speisekammer, da herrscht kein Mangel. Die Menschen in der Stadt sind ruhelos, können nicht den Augenblick genießen, sind immer auf der Suche nach Neuem. Das brauche ich nicht.“

„Natürlich ist das Leben in der Stadt anders als bei euch“ sagte der Mechaniker „aber bedenke, wenn es so beschaulich wäre wie bei euch gäbe es nur wenig Fortschritt. Sieh dir die Maschinen an, sie erleichtern euch doch schon die Arbeit. Und in einigen Jahren werdet ihr motorisierte Schlepper haben, die statt der Pferde den Pflug ziehen. Transporte werden über gut ausgebaute Straßen mit Lastkraftwagen erfolgen, keine Fuhrwerke werden von Ort zu Ort zuckeln müssen, alles wird viel schneller gehen. Und irgendwann wird wirklich jedes Haus in eurem Dorf Strom haben und alle besitzen ein Telefon.“

Peter Becker hörte fasziniert zu. Das, was der Mann sagte, konnte er sich nicht richtig vorstellen. Sein Leben bewegte sich nur in dem kleinen Dorfkosmos, früh aufstehen, das Vieh versorgen, dann in die Schule, danach weitere Arbeit auf dem Feld oder in den Ställen bis zum späten Nachmittag, etwas herumstreunen mit seinen Freunden, Abendessen, und dann zeitig ins Bett. Jetzt im Sommer saß die Familie oft noch bis es dunkel wurde im Hof, die Frauen hatten Nähzeug dabei und die Männer tranken ein Bier und unterhielten sich, die Kinder schossen mit einem selbst gebauten Bogen auf eine Zielscheibe die an der Scheune angebracht war.

Er wollte an keinem anderen Ort leben.